Absprunghöhen. Johannes Wally

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Название Absprunghöhen
Автор произведения Johannes Wally
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701179947



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Aber der Chef … He wants to be admired. All the time!“ Iba schüttelte den Kopf: „Was sie an mir hassen, ist mein Stolz!“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders: „Komm, trinken wir Tee!“ Wir nahmen unsere Tassen und setzten uns in die Polstersessel im Wohnzimmer.

      Wir hatten uns kaum gesetzt, als mein Handy klingelte. Es war Elsbeth. Ich ging in die Küche, um in Ruhe telefonieren zu können. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, las Tariq den ORF-Teletext. Er saß nach vorne geneigt und hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Erst jetzt bemerkte ich, dass er seine alte Brille trug. Ich kam jedoch nicht dazu, ihn nach dem Grund zu fragen. Bevor ich mich noch gesetzt hatte, legte er seine Hand auf meinen Oberarm und wies mit dem Kopf auf den Bildschirm: „Sie haben eine neue Welt entdeckt!“ Seine Augen leuchteten.

      Der Grund für seine ungewöhnliche Begeisterung war Gliese 581c. Folgendes war auf dem ORF Telext zu lesen:

      Astronomen haben nach eigenen Angaben den ersten bewohnbaren Planeten, Gliese 581c, außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt. Obwohl der Planet seinen Stern, Gliese 581, vierzehn Mal dichter umkreist als unsere Erde die Sonne, liegt er in der „Goldilocks Zone“. Das ist jener Bereich um einen Stern, innerhalb dessen Wasser an der Oberfläche eines Planeten flüssig anzutreffen ist und Leben sich entwickeln kann.

      „… und Leben sich entwickeln kann“, wiederholte Tariq. „Das ist gut.“ Er lachte, schüttelte den Kopf und zog die linke Augenbraue hoch.

      Eine neue Welt.

      Sein Traum.

      Er streichelte Iba, die neben ihm saß, über den Hinterkopf. „Wenn sie uns hier nicht mehr wollen, können wir dorthin gehen.“ Er lachte. „Sicher haben sie dort keinen Chef!“

      Iba nickte und lächelte ein wenig gequält, aber Tariq ließ sich in seinem Enthusiasmus nicht beirren. „Der Stern, um den sich dieser Planet dreht“, fuhr er fort, „ist ein roter Zwerg. Das heißt, dieser Stern ist nicht so heiß, und Leben kann viel näher an so einem Stern existieren als bei unserer Sonne.“ Er nahm einen Schluck Tee: „Die neue Welt hat eine rote Sonne, und es ist nicht zu kalt und nicht zu heiß. 0-40 Grad Celsius, sagen sie. In der Sahara ist es heißer und in Wien im Winter kälter. Ich finde, wir sollten eine Expedition zu diesem Gliese 581c machen. Ich möchte in dieser Welt leben. Mit angenehmen Temperaturen und einer roten Sonne. Sicherlich kann man dort auch fischen!“

      Inzwischen hatte ich auch die zweite Seite der Teletextnachricht gelesen und konnte mit Information kontern: „Du vergisst, dass die neue Welt etwa 200 Billionen Kilometer von unserer Erde entfernt ist. So leicht kommen wir da nicht hin!“ Mein Argument wurde weggewischt.

      „Egal. Wir schaffen das!“

      Tariq blätterte weiter im Teletext, und als er konzentriert auf den Bildschirm blickte, fand ich Gelegenheit, nach seiner Brille zu fragen. „Warum trägst du nicht deine neue Brille?“

      Tariq sah mich an, als ob er soeben aus einem Traum geweckt worden war. Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ich habe sie verloren!“

      „Wirklich! Wann?“

      „Heute.“

      „Wieso?“

      „Ist doch egal.“

      „Nein, ist nicht egal.“ Ibas Stimme war entschieden. „Es waren trifokale Gläser. Die Brille hat mehr als fünfhundert Euro gekostet. Es ist nicht egal. Erzähle, was dir heute passiert ist!“

      Unwillig sah Tariq seine Frau an. Dann erzählte er, wie er in der Früh zur neuen Donau gefahren war, um dort zu fischen. Dummerweise hatte er dabei seine Brille verloren. Das sei es auch schon. Mehr gäbe es dazu nicht zu sagen.

      Aber Iba war mit seiner Erzählung nicht zufrieden: „Das ist nicht alles!“

      „Lass es gut sein. Eine dumme Sache.“

      Und er wandte sich wieder Gliese 581c zu.

      Also begann Iba zu erzählen.

      Nachdem er die Angel ausgeworfen und am Boden fixiert hatte, setzte sich Tariq in seinen Klappstuhl und schloss die Augen. Es war kurz vor acht Uhr morgens und außer einigen Joggern und anderen Anglern war die Donauinsel menschenleer. Es hatte bereits über zwanzig Grad und eine leichte Brise wehte. Iba erzählte, dass sie sich gesorgt habe, Tariq hole sich einen Sonnenstich. Er vergaß immer seinen Hut aufzusetzen. Doch heute hatte Tariq daran gedacht. Im Nachhinein betrachtet war es freilich der falsche Tag, um ausnahmsweise einmal nicht vergesslich zu sein. Den Hut verlor er ebenfalls.

      Woran dachte Tariq, als er mit geschlossenen Augen in seinem Klappstuhl saß? Das konnte Iba natürlich nicht erzählen. Aber mich interessiert es. Die Idee zu seinem berühmtesten Theaterstück ist ihm ja beim Fischen gekommen. Eine Szene aus dem Theaterstück hat mich besonders beeindruckt: Ein Engländer möchte den Esel reiten, und als dieser sich weigert, befiehlt er dem Hund, den Esel zu beißen. Was dieser tut, dafür bekommt er auch einen Knochen. Der Affe sieht sich die Szene an und zitiert während der Bestrafung des Esels Michail Bakunin: „Macht, dass alle Bedürfnisse wirklich solidarisch werden!“ Keine Frage: Tariq hatte immer Ideen. Doch uns war beiden klar, dass er davon keine mehr realisieren würde. Seine Zeit als Schriftsteller war vorbei. Zu sehr ermüdete ihn die Arbeit als Bibliothekar, und sein Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert und zwang ihn, schonend mit sich umzugehen.

      Woran Tariq im Klappstuhl dachte, bleibt also ungewiss. Gewiss ist, dass er nicht lange nachdachte. Er schlief ein. Er hatte für zwei Stunden geschlafen, da weckten ihn Schreie. Es war eine Frau, die ganz in seiner Nähe um Hilfe rief. Dass sie um Hilfe rief, war nur aus der Situation zu erkennen: Sie schrie in höchster Angst, unartikuliert und schrill. Tariq blickte auf, jäh munter, und sah unmittelbar vor sich ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, das verzweifelt Schwimmbewegungen machte, sich aber nicht mehr über Wasser halten konnte. Wie er war, mit Brille und Sonnenhut, warf er sich in die neue Donau und tauchte mit kräftigen Stößen dorthin, wo soeben das Mädchen noch um sich geschlagen hatte. Er bekam es zu fassen und zog es an die Oberfläche, wo es ihm jedoch wieder entglitt, sodass er noch einmal zupacken musste, um das hustende und strampelnde Bündel vor einem erneuten Absinken zu bewahren. Auf dem Rücken schwimmend brachte er das Mädchen zum Ufer. Das Wasser ist an dieser Stelle nicht allzu tief, Tariq hätte seine Rettungsaktion auch stehend durchführen können, wenn die Strömung auch ziemlich stark ist. Doch gewisse Situationen erzwingen gewisse Vorgehensweisen: Bei Feuer springen Menschen fast immer aus dem Fenster, selbst wenn der nächste Fluchtweg durch die Wohnungs- oder Zimmertür verläuft, und einen Ertrinkenden rettet man nun einmal, indem man schwimmt oder taucht und nicht indem man durchs Wasser watet. Dass er das Mädchen zu fassen bekam, ist allerdings ein kleines Wunder, denn bei seiner Herzkrankheit war es nicht selbstverständlich, dass sein Kreislauf die plötzliche Abkühlung tolerieren würde. Zwei Männer halfen ihm aus dem Wasser und die Mutter, verweint und außer sich, entriss ihm ihre Tochter, umarmte und liebkoste sie und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige: Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dir Schwimmflügel anzuziehen hast. Über diese Erziehungsmaßnahme vergaß sie, sich bei Tariq zu bedanken. Dieser musste sich hinsetzen, nun kippten ihm die Beine weg. Die beiden Männer fragten, ob alles in Ordnung sei, und Tariq winkte ab. Ja. Kein Problem.

      Das Nachhausekommen war jedoch ein Problem, denn ohne Brille war Tariq praktisch blind. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zu seinem Angelplatz zurückgefunden hatte. Von dort schob er sein Rad zurück in die Dianagasse, eigentlich ein Wunder, wie Iba ihre Erzählung schloss, dass Tariq heute Abend schon wieder fit sei. Denn wie er nach Hause gekommen sei, habe sie ihn geradezu ins Bett hieven müssen. Sie liebe ihn und überallhin sei sie ihm gefolgt und habe ihn unterstützt. Doch jetzt sei es genug. Er dürfe sein Leben nicht mehr so leichtsinnig aufs Spiel setzen. Don’t do this again. Aber Tariq zuckte nur mit den Achseln, eher aus Erschöpfung als aus mangelnder Einsicht, wie ich denke. Jedenfalls wurde Iba wütend.

      Nachdem ich Tariq vorgeschlagen hatte, die neue Welt zu kaufen, holte ich meinen Laptop und stieg ins Internet ein. Es war unsinnig, eine Hilflosigkeit meinerseits, was hätte ich auch tun sollen, Geld für eine neue Brille hätte Tariq nicht genommen. Während er sich umständlich