Absprunghöhen. Johannes Wally

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Название Absprunghöhen
Автор произведения Johannes Wally
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701179947



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nur ein Teil einer viel größeren Altbauwohnung gewesen, aber in den Siebzigerjahren sei die Wohnung aufgeteilt worden. Sie selber lebe schon seit fünf Jahren hier, und immer habe sie sich wohl gefühlt. Aber jetzt würde sie nichts mehr hier halten. Sie schlafe ja auch nicht mehr im Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer. Sie zuckte mit den Schultern, lächelte traurig, dann sagte sie: „Seitdem das mit meinem Freund passiert ist, will ich weg. Mein Leben ändern. Und da habe ich heute die Zeitung aufgeschlagen und gedacht, vielleicht passiert heute etwas. Und tatsächlich: Da war Ihre Annonce. Ich habe sofort angerufen.“

      Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Kirsti schon: „Was ist denn mit Ihrem Freund?“

      „Verunglückt ist er. Bungeejumping. Vor zwei Monaten.“

      Jetzt schwiegen wir alle.

      Schließlich sagte Frau Kainz: „Also die Wohnung gefällt Ihnen?“ Wir nickten und Kirsti erwiderte: „Die beiden Bilder! Die sind großartig! Würden Sie mir die dalassen?“ Ich zuckte zusammen, so dreist kam mir die Frage vor. Frau Kainz schüttelte den Kopf. Dann aber neigte sie den Kopf abwägend von einer Schulter zur andern und hob schließlich zustimmend die Hände: „Mein Freund hat sie gemalt. Aber was soll ich noch damit … Nur: Schenken kann ich sie Ihnen nicht!“ Kirsti hob abwehrend die Hände. Frau Kainz nahm eine Zigarette und hielt uns das Päckchen hin. Wir lehnten dankend ab. Das Feuerzeug funktionierte nicht, und so stand Frau Kainz auf, um sich aus dem Arbeitszimmer ein neues Feuerzeug zu holen. Vor der Zimmertür blieb sie mit der Hand auf der Türklinke stehen. Ohne die Tür zu öffnen, verharrte sie für vielleicht zehn oder fünfzehn Sekunden, vielleicht auch länger, den Blick abwesend auf den Boden gerichtet. Dann erst trat sie ein. Als sie wiederkam und die Zigarette endlich angesteckt war, war jedoch von irgendeiner Irritation nichts zu merken. Kurz entschlossen sprach ich sie auf die Miete an: Ob sich diese im Falle einer Neuvermietung nicht erhöhen würde. Da machte Frau Kainz ein schlaues Gesicht: „Den Wohnungsbesitzer kenne ich gut. Überlassen Sie das nur mir.“ Wir vereinbarten, am Donnerstagabend wiederzukommen, um die Übergabemodalitäten zu klären. Dann, so Frau Kainz, könne sie uns auch schon mehr zur Miete sagen. Auch könnten wir dann besprechen, ob wir Möbel übernehmen wollten und wie hoch die Ablöse sei. Auch zum Kaufpreis der Bilder könne sie dann schon Näheres sagen.

      Wir sahen uns noch die anderen Wohnungen an, aber für Kirsti stand es bereits fest: Die Wohnung von Frau Kainz musste es sein. „Schreckt dich die Geschichte vom Unglück ihres Freundes nicht ab?“ Kirsti zuckte mit den Achseln: „Statistisch gesehen ist der Tod ein einmaliges Ereignis in der Lebensspanne eines jeden Menschen!“ Nein, sie würde einfach eine Wohnung von einer Frau übernehmen, die diese Wohnung geliebt hatte und die nun einen Neuanfang suche. Das war doch etwas Schönes. Und überhaupt, sie glaube zwar an alles Mögliche, aber nicht an Gespenster. Dabei sah sie mich mit einer Mischung aus Triumph und Selbstironie an, und ich umarmte sie und wir tanzten ein paar Takte Walzer auf dem Gehsteig. Sie freute sich so und ich freute mich, sie so glücklich zu sehen. Mir gefiel die Wohnung auch gut, aber ich bin da nicht so heikel, und ich stellte mir vor, wie wir abends auf dem Balkon sitzen würden, ein Glas Wein in der Hand, während der Himmel dämmrig wird und das Dämmerlicht selbst die Flaktürme weich erscheinen lässt.

      Als wir am Abend in meiner Garçonnière im Bett lagen und uns müde, aber zufrieden aneinanderschmiegten, hob Kirsti plötzlich ihr Gesicht und wurde nachdenklich. Hoffentlich würde nicht alles zu teuer werden. Ob sie genug Geld für die Ablöse, die Bilder und womöglich die Kaution hätte? Und was, wenn die Miete teurer als 600 € sein würde? Jetzt einen Kredit aufnehmen, wo sie doch kündigen wollte, würde schwierig werden. Sie müsse ja noch ihre Sachen von Wiesbaden nach Wien bringen. Auch das koste Geld. Sie schmiegte sich wieder an, und obwohl sie nichts mehr sagte, wusste ich, dass sie Angst hatte. Angst davor, dass etwas zu schön ist, um wahr zu sein. Angst davor, dass sich eine Möglichkeit als Verheißung tarnt und als Enttäuschung entpuppt. Ich legte meinen Arm fester um sie. Vor ein paar Jahren hatte ich in einen Immobilienfonds investiert, der nach wie vor ganz passable Renditen machte. Der Vertrag lief zwar noch über zwei Jahre, doch ich hatte schon einige Zeit mit dem Gedanken gespielt, meine Anteile zu verkaufen. Ich schlug Kirsti vor, ihr, wenn notwendig, Geld zu borgen. Sie könne es mir ja zurückzahlen, sobald sie einen Job hatte. Und beim Übersiedeln würde ich ihr sowieso helfen. Kirsti küsste mich auf die Wange. Dann murmelte sie jenen Kosenamen, mit dem sie ihr Vater gerufen hatte, als sie klein war, und den sie, hin und wieder, gemäß einem für mich nicht durchschaubaren Muster, auch für mich bereithielt. Kultaseni. Vier Mal hatte sie mich, seitdem wir uns kannten, so genannt. Mein kleines Gold.

      Die nächsten Tage war ich nur Kultaseni. Kultaseni, komm her, Kultaseni, schau dir das an. Manchmal, z. B. als sie mich auf der Aussichtsterrasse am Leopoldsberg fotografierte, war ich auch einfach nur Gold. „Kulta“, rief Kirsti, „jetzt lächle doch einmal!“ Ich hatte mir eine Woche freigenommen, und wir unternahmen ausgedehnte Spaziergänge durch den verschneiten Wienerwald und wurden nicht müde uns zu erzählen, wie schön alles werden würde. Das Wetter war kalt, aber sonnig, und nach unseren Spaziergängen wärmten wir uns bei einer Leberknödelsuppe auf, und abends massierte ich Kirstis Fußsohlen und schlief an ihre Schulter geschmiegt und in den Schlaf gestreichelt ein. Es waren fünf Tage wie in einer anderen Welt. Als ob Kirstis Kosename die Welt verändert hätte. Ich habe unlängst, angesteckt von Kirstis Interesse, versucht, aus der Quersumme der Datumsangaben dieser fünf Tage einen Grund für die Besonderheit dieser Zeit herauszulesen. Warum alles so einfach, so intensiv und dennoch so unbeschwert war. Diese Frage müsste man eigentlich Kirsti stellen, damals aber dachte ich nicht daran, denn ich war glücklich und brauchte keine Erklärung.

      Und dann kam der Donnerstag. Das Treffen mit Frau Kainz war für 18:30 Uhr ausgemacht. Kirsti war voller Vorfreude, aber auch Anspannung, und auch ich fühlte so etwas wie Reisefieber, ein bisschen so, wie ich mich immer kurz vor der Abfahrt des Zuges nach Frankfurt gefühlt hatte. In Erwartung, dass sich die Räder jeden Moment in Bewegung setzen würden.

      Wir läuteten an der Wohnungstür, und ich war über die Schritte, die man hörte, als sich Frau Kainz der Tür näherte, überrascht. Ihr Gang war anders als in meiner Erinnerung. Die Schritte waren schwerer und die Schrittfrequenz geringer. Es war auch nicht Frau Kainz, die uns die Tür öffnete. Ein Mann, etwa Anfang fünfzig, stand vor uns. Er war barfuß, trug eine Jeans und ein offenes Hemd. Sein dünnes Haar hatte er mit Gel nach hinten gekämmt, er war kräftig gebaut und sah uns abweisend an: „Was wollt ihr?“

      „Wir haben einen Termin mit Frau Kainz, wegen der Wohnung?“

      „Wie bitte?“

      „Wegen der Wohnungsübernahme.“

      „Gibt’s nicht.“

      „Doch. Wir haben am Samstagvormittag mit ihr gesprochen. Es war eigentlich alles abgemacht, wir wollten nur mehr die Details klären.“

      „Gibt’s nicht.“

      „Was heißt, gibt’s nicht?“, wiederholte ich ärgerlich, da packte mich der Mann am Schal und presste mich gegen den Türstock. Kirsti schrie laut auf und wollte den Mann hindern, doch er versetzte ihr mit der freien Hand einen Stoß, dass sie zurücktaumelte. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, doch er wurde von Frau Kainz unterbrochen. Sie war inzwischen ins Vorzimmer gekommen, nicht dass ich das sehen konnte, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Luft zu kriegen, auch konnte ich nicht anders als den Mann anzustarren, doch ich hörte Frau Kainz schreien. Raus oder ich hole die Polizei. Raus oder ich hole die Polizei. Raus oder ich hole die Polizei. Sie war offensichtlich betrunken. Mit einem geübten Griff stieß mich der Mann in den Gang hinaus: „Kommt nie wieder.“ Er schloss die Tür und ein Klatschen war zu hören. Dann war Ruhe. Kirsti nahm mich bei der Hand: „Komm, gehen wir!“

      Kirsti blieb noch eine Woche bei mir, aber es war nicht mehr dasselbe. Ich schlug ihr vor, noch weitere Wohnungen anzusehen, aber Kirsti hatte keine Lust. Schließlich meinte sie: „Eigentlich ist es noch zu früh, dass ich nach Wien komme. Wir müssen ja nichts überstürzen.“ „Warum?“, fragte ich sie. „Ist es wegen der Wohnung?“ Kirsti schüttelte den Kopf und sah an mir vorbei: „Na ja, schön war sie schon … Aber wir haben uns ja rauswerfen lassen!“

      „Aber es ist doch nur eine