Absprunghöhen. Johannes Wally

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Название Absprunghöhen
Автор произведения Johannes Wally
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701179947



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      Wir hatten lange gebraucht, bis Belangloses Gegenstand unserer Gespräche wurde. Nicht einmal bei unserer ersten Begegnung war Zeit für Smalltalk. Ich erinnere mich gut daran. Ich hatte Elias Nachhilfeunterricht gegeben, und als ich durch das Wohnzimmer in Richtung Vorzimmer ging, wo ich meine Schuhe abgestellt hatte, bat mich Iba Platz zu nehmen. Es war Mitte August und sehr heiß. Die Fenster waren verdunkelt, der Fernseher lief. Neben der Couch surrte ein Ventilator. Tariq saß in seinem Polstersessel und rauchte. Ich setzte mich neben ihn und wartete. Tariq rauchte wortlos weiter, Iba drehte den Fernseher ab. In Stille vergingen Minuten. Schließlich sagte Tariq nicht ohne theatralisches Geschick: „I had a dream.“ Dann lauter und energischer: „I have a dream.“

      Wovon träumte Tariq?

      Seinem Sprechen nach zu urteilen, litt er an seinem Traum. Bei unserer ersten Begegnung sprach er nur Englisch, mit der Zeit wechselte er immer öfter ins Deutsche. Dass er gezwungen war, sich in einer ihm noch fremden Sprache auszudrücken, hemmte ihn, doch es schmälerte nicht die Faszination, die von ihm ausging. Er war ein brillanter Rhetoriker, der, um zur vollen Kraft seiner Gedanken zu gelangen, Publikum brauchte; jemand, der ihm zuhörte und gelegentlich nickte, eine Frage stellte oder nachdenklich einen Punkt in weiter Ferne fixierte; jemand, der in seinen Intonationskurven und exakten Stimmmodulationen die Richtigkeit seiner Anschuldigungen und dahinter die Größe seines Traumes erkannte. Was auch immer dieser war. Denn direkt sprach er nie von ihm. Vielmehr verbiss er sich in allem, was dessen Umsetzung behindert hatte und auch in Zukunft behindern würde. Und das Hindernis, wie ich nicht bei unserer ersten Begegnung, aber nach vielen Monologen begriff, war nichts weniger als diese Welt.

      Tariq war polemisch und schien mir in seinen Schlussfolgerungen oft erschreckend banal: Sie nehmen alles. Dieser Satz strukturierte wie ein Refrain seine Analysen und Anschuldigungen. Fragen, wer sie seien oder was alles bedeute, irritierten ihn. Machten ihn geradezu wütend, und ich dachte, er sei wütend, weil ich so begriffsstützig sei. Schließlich aber erkannte ich, dass er wütend wurde, da er jede Differenzierung als Relativierung seiner Weltsicht und somit als Resultat kapitalistischer Propaganda begriff. Sie wollen, dass wir so denken. Die Wirklichkeit sei anders. Manager, Universitätsprofessorinnen, Straßenkehrer, Büroangestellte. Alles ein und dasselbe. Sie sind Arbeiter. Sie machen für wenig Lohn alles. Und alles, was sie machen, nehmen sie: Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, dass mit sie nicht unbedingt konkrete Personen gemeint waren. Natürlich hatte er auch konkrete Personen im Visier: Wer Zeitungen aufmerksam lese, wisse, um wen es sich handle. Doch mehr als diese Personen klagte er mit seiner Kampfansage unser Denken an, das uns zu Akteuren des Marktes und eines absurden Wachstumsgebots machte; eines Marktes, den es infolge internationaler Konzernverflechtungen ohnehin nur mehr als Schein gebe. Sie nehmen alles: Auftakt und Abgesang jeder seiner Analysen. Als ob sich, indem man immer zum selben Schluss kommt, die eigene Fremdheit mindern ließe.

      Dabei konnte er auch anders. Ließ er in seiner Verzweiflung und Wut nach, erwies er sich als feinfühliger und kluger Menschenkenner. Später, als wir bereits über den Altersunterschied von fünfundzwanzig Jahren, über zwei Kulturen und zwei Vergangenheiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, eine Brücke gebaut hatten, erzählte auch ich ihm von persönlichen Schwierigkeiten: Sinnkrisen, Beruf, Ehe, was eben anstand. Und er hörte zu und fragte nach. Schwieg. Gab keine Ex-cathedra-Ratschläge. Seufzte hilflos: „Menschen sind sehr kompliziert!“ Aber es dauerte, bis wir dahin kamen. Doch über die Jahre wurde er mein Freund. Ein väterlicher Freund, ohne sich bei all seiner Sturheit jemals eine wie auch immer geartete väterliche Autorität anzumaßen. Er mochte keine Autoritäten.

      „Was macht Elsbeth?“, fragte Tariq, und ich nickte. Meiner Frau ging es gut.

      Über die Gründe, die ihn zur Flucht gezwungen hatten, erfuhr ich nichts Konkretes. Als ich ihn unlängst darauf ansprach, wich er aus. Das sei nun schon nicht mehr wahr. Seit sechzehn Jahren lebe er mit seiner Familie in Österreich. Mittlerweile hätten sie ja sogar die österreichische Staatsbürgerschaft. Einmal nur sagte er, da waren wir betrunken, fast unhörbar und die Augen geschlossen: „Sie haben mich geschlagen. Schlimm geschlagen.“

      Iba war Koptin, er Moslem. Ich weiß, dass er Architekt gewesen war und Schriftsteller. Er hatte für den Rundfunk und für das Theater geschrieben und mit Hörspielen gutes Geld verdient. Trotzdem kam er in Österreich bettelarm an, da sein Kapital in diversen Projekten gebunden war und ihm keiner seiner Geschäftspartner so plötzlich seinen Anteil auszahlen konnte. Die Flucht war ja eine Nacht- und Nebelaktion. Zumindest entnehme ich das seinen Andeutungen. Auf Religion war er nicht gut zu sprechen. Wir kannten uns etwa ein halbes Jahr, da drehte sich unser Gespräch um die Frage, ob es einen Gott gäbe. Es war das erste Mal, dass wir miteinander sprachen und er nicht monologisierte und ich zuhörte. Ich führte die alten Beweise an: die Geschichte mit der letzten Ursache, in der alle Ursachen wurzeln; das Bild von losen Bestandteilen einer Uhr in einer Plastiktüte und den damit einhergehenden Analogieschluss, dass auch ein Universum einen Uhrmacher brauche; oder die Überlegung, dass Gott perfekt ist und folglich existieren muss, da ein Gott, der perfekt ist, aber nicht existiert, eben nicht perfekt ist. Tariq hatte damals hintergründig gelächelt: „Weißt du, die Sache ist so einfach. Wenn von sieben Milliarden Menschen sechs Milliarden an Gott glauben, gibt es Gott.“

      Iba kam aus der Küche. Sie trug einen dunkelblauen Ghalabea, der ihre bernsteinfarbene Kette betonte. Sie reichte mir die Hand und lächelte: „Hast du Hunger?“ Tariq rief irgendetwas auf Arabisch, und ich sagte: „Jetzt hast du gesagt: Wir verhungern schon!“

      In der Küche war das Essen bereits aufgetragen: Eierspeise, Linsensuppe, Schafskäse vermengt mit Knoblauch und Olivenöl, dazu Gebäck und Tomatensalat. Als Nachspeise gab es Zuckermelonen. Während des Abendessens sprachen wir nur wenig. Das hatte vor allem damit zu tun, dass Tariq vom Essen gänzlich in Bann geschlagen wurde. Nach dem Essen nahm er die Medikamente, dann lehnte er sich zurück und bedankte sich bei Iba. Er war zufrieden.

      Iba hingegen wirkte angespannt. Sie hatte immer Sorgen. Und immer Arbeit. Wie eine Sklavin. So scherzte sie manchmal bitter. Diesmal aber schien sie bedrückter als sonst. Ich vermutete, dass es mit ihrem Job zu tun hatte. Sie arbeitete bei der Take Off GmbH, die im Auftrag der Landesregierungen Beratungsleistungen für jugendliche Langzeitarbeitslose erbrachte. Iba war als einfache Bürohilfskraft eingestellt worden. Sie erledigte Postwege, stellte die Versorgung der Belegschaft mit Büromaterial sicher, kopierte Unterlagen, kuvertierte Briefe, ordnete Akten, spielte die Empfangsdame für Klienten und erledigte Telefondienste. Hinsichtlich des Familieneinkommens war die Arbeit, so gering die Bezahlung auch war, ein Segen. In jeder anderen Hinsicht ein Fluch. Einerseits lag es an ihrem Gesundheitszustand, der ihr die Erledigung vieler Arbeiten, wie etwa den Transport eines mit Briefsendungen gefüllten Handwagens vom Büro zum nächsten Postamt, an manchen Tagen unmöglich machte. Andererseits litt sie unter der Einfachheit ihrer Tätigkeit. Iba hatte Recht studiert, dann allerdings als Journalistin gearbeitet. Tariq hatte erzählt, dass sie für ihre Artikel gefürchtet gewesen war und sie deswegen oft in Angst gelebt hatte. Doch das Leben in einem fremden Land mit einer fremden Sprache machte sie, die Intellektuelle, zu einer Analphabetin, zu einer Sprachbehinderten. Das einfachste Gespräch konnte ihr zu einem Spiegellabyrinth werden, indem sie ständig gegen ein unerwartetes Hindernis prallte. Dabei sprach sie nicht schlecht Deutsch. Doch bei der Take Off GmbH wollte sich niemand auf sie einhören. Ihr Chef demütigte Iba vor ihren Kolleginnen, die nur allzu dankbar waren, die eigene Unfähigkeit mit dem Verweis auf die oberflächlichen Mängel einer anderen übertüncht zu wissen. Wie Volksschüler einander bei der Lehrerin anschwärzen, fanden sie an Iba immer etwas auszusetzen. Einmal hatte sie eine schwere Darmgrippe gehabt und hatte ein paar Tage gefehlt. Da fixierte ihre Kollegin eine Notiz auf der Büropinnwand. „Iba“ stand darauf und daneben, in roten Großbuchstaben: krank.

      „Was macht dein Beruf?“, fragte ich Iba und reichte ihr das Geschirr, das sie in den Spüler einräumte. Sie fasste die Teller und Schalen mit großer Vorsicht an, denn sie war am rechten Auge operiert worden. Iba lachte bitter: „Mein Chef sagt zu mir, wenn ich den Postwagen nicht ziehen kann, hat er keine Arbeit für mich!“ Tariq, der Tee gekocht hatte, schaltete sich in unser Gespräch ein. „Dieser Mensch ist …“

      Er wurde von Iba unterbrochen: „Inferiority complexes ! Dieser Mensch hat – wie