Название | Lepanto |
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Автор произведения | Reinhard Schuch |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701179640 |
Den Vater faszinierten die alten Mythen. Er unterhielt sich mit Edwin über Herakles, der in einer seiner zwölf Taten Riesen besiegte, die er ins Meer warf. Einer der Riesen wurde zu Stein und bildete die Insel Mykonos. Seit er die Herakles-Sage in der Schule gelesen hatte, wollte er nach Mykonos.
Genauso wie der mythologische Hintergrund beeindruckte ihn die Kunst von Edwin. Das scheinbare Gekritzel, das einen Kosmos von Bedeutungen verbarg und einen Sog erzeugte, sich auf die Zeichen einzulassen und sie zu entschlüsseln. Manche Zeichnungen bestanden aus zwei oder mehr Schichten, die man wie ein Archäologe abtragen konnte, um darunter anderes, Verborgenes, Rätselhaftes zu entdecken. In den Strichen, Knäueln und Verwischungen lag etwas schwer Benennbares, die Bilder glichen Wirbeln und gordischen Knoten. Man sah sie an und trat über eine Schwelle, begann zu träumen, das Denken wurde anders.
Der Vater war beeindruckt und kaufte von Edwin ein Bild, das Bild auf dem Foto. Es war nicht sehr groß, etwas mehr als ellenlang. Striche in verschiedenen Farben, einige Zahlen und ein Rechteck. Sein Titel: „Ode an Delian“. Der Name Delian bezeichnete den auf der Insel Delos Geborenen, zugleich den Gott Apoll, den Schirmherr der Kunst, der Gesetzmäßigkeit und der Ordnung. Auch das hatte ihm der Vater, der sich im Laufe seines Lebens immer mehr für Kunst zu interessieren begann, erzählt. Und er erklärte, dass Apoll das war, was die Künstler seit jeher suchten: Freiheit, eigene Räume, Spiritualität, das große Geheimnis. Die ganze Geschichte der abendländischen Kunst ließe sich auf Apoll zurückführen.
Am zehnten Tag aßen seine Eltern die letzten gebratenen Eier und atmeten zum letzten Mal die harzreiche Luft. Dann machten sie sich mit der Jason auf nach Piräus. Der Wind zerrte an ihnen, als wollte er sie auf der Insel behalten, sie stemmten sich auf der Mole gegen eine unsichtbare Mauer. Bald blies die Jason eine schwarze Wolke in den Himmel und legte ab, langsam und müde.
Er stellte sich vor oder man hatte es ihm erzählt, dass auf der Fahrt nach Piräus eine ruhige See herrschte. Der Bug glitt leicht durch das Wasser. Der Dieselmotor jammerte nicht, sein Klang ähnelte diesmal mehr einem monotonen Gesang aus Männerkehlen. Die Eltern saßen zwischen Einheimischen, die Schafkäse, Zwiebel und Brot aßen. Einer reichte ihnen als Abschiedstrunk ein Glas Ouzo. Er schmeckte kühl und scharf, hinterließ ein pelziges Gefühl und lag lange auf der Zunge. Noch Jahrzehnte später war er da, wenn sie an Mykonos dachten, an die Tage auf der Insel, als sie sich von Schafkäse und Oliven ernährten und von den Bildern und Erzählungen des Malers.
Von Athen flogen sie zurück nach Wien. Sie bestiegen wieder eine Douglas, eine andere, silbrig glänzende mit einer roten Nase. Die Insel im arktischen Meer sendete weiter die Strahlen der Bombe aus, an der Mauer wurde der erste Mensch erschossen. Nach der ersten Empörung in den Medien ging man bald wieder zur Tagesordnung über. Auch die Eltern. Sie nahmen ihre Arbeit auf, den Alltag jenseits der Weite des Meeres. Von Edwin sollten sie drei Jahrzehnte nichts mehr hören.
Anfang der Neunzigerjahre stand in einem Zeitungsartikel, dass Edwin Twombly jetzt Cy Twombly hieß und berühmt geworden war. Eine Verwechslung war auszuschließen, denn die „Ode“ gehörte zu einem Zyklus, wie in Kunstkatalogen leicht nachzuprüfen war. Die „Ode“ war über Nacht ebenfalls berühmt geworden; und die Bedeutung, die sein Vater dem Bild beigemessen hatte, wurde gewissermaßen bestätigt. Das Bild war plötzlich ein mykenischer Schatz im Alpenland und über die Jahre noch rätselhafter geworden. Dass auch sein Wert um ein Vielfaches gestiegen war, mehr als sämtliche Aktien von Exxon, Procter & Gamble oder Coca Cola, war ein nicht unbedeutender Nebeneffekt. Es war ein Triumph der Kunst über die Warenwelt und ein hymnischer Sieg. Die Geizhälse und Erbsenzähler in den Konzernen saßen auf ihrem Öl, dem Waschpulver und dem braunen Saft und mussten sich ihre Niederlage eingestehen. So oder so ähnlich hatte es der Vater formuliert.
Dem Vater genügte es, das Bild in seiner Wohnung zu wissen und es sehen zu können, wann immer er wollte. Es gab Momente, da er vor der „Ode“ stand und auf eine sekundenlange Zeitreise ging: zu den Wellen der fernen Insel, in die glühende Sonne über dem Strand, vielleicht auch zu den ersten Urlaubstagen mit seiner großen Liebe. Denn der Erwerb der „Ode“ war auch der Beginn der mehr als vier Jahrzehnte dauernden Ehe seiner Eltern, die glücklich und in einem steten, harmonischen Fluss verlief. Als wachte Zeus über ihnen und verliehe ihnen eine begrenzte Unsterblichkeit.
Jahrelang war es der Wunsch des Vaters gewesen, Cy Twombly zu besuchen. Mit ihm ein Glas Wein zu trinken, über Griechenland und die alten Zeiten zu plaudern. Aber es kam nie dazu. Vermutlich hätten sie sich verstanden, so wie sie sich schon auf Mykonos verstanden hatten. Irgendwann war es dann endgültig zu spät. Twombly hatte sich nach Gaeta an der italienischen Riviera zurückgezogen. Ein Städtchen mit hellen Häusern, gemütlichen Fischtavernen und einer Ereignislosigkeit, die er brauchte, um auf seinen Leinwänden die Farben zum Ereignis zu machen. Er lebte zurückgezogen, mied die Bewunderer und besuchte eigene Ausstellungen oft inkognito. Die Sommer verbrachte er auf der Insel Procida, inmitten einer Pracht von Palmen, Pinien und bunten Häusern. Die Inseln ließen ihn nicht los, sie waren seine Leidenschaft. Er sah in ihnen etwas Schwebendes, Unabgeschlossenes, einen Gegensatz zum verfestigten Binnenland. Die Inseln waren wie bunte Tücher, nur von Winden getragen, mit einem federleichten Leben. Auch Procida schwebte und flatterte in der Luft. Mit seinen alten Häusern und Gassen, mit seinen Geschichten mischte es sich in Twomblys späten Jahren in seine Bilder.
Den Eltern blieb irgendwann nur mehr die Erinnerung. Die Erinnerung als eine Art Rückspiegel, in dem man nur das Verschwinden der Ereignisse beobachten konnte, ohne die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Das Wichtigste aber war: Es blieb die „Ode“.
Das neue Jahrtausend nahm seinen Anfang, und das Jahr der Nullen, wie es genannt wurde, erschreckte manche. Vorahnungen gingen diesem Jahr voraus, und noch bevor es begann, starben seine Eltern. Das Bild kam zu ihm als eine Art Vermächtnis. Es hing neben seinem Bett, an der grünen Wand zwischen dem Holzschrank und dem Fenster. Das satte Grün der Wand ließ die „Ode“ noch lebendiger erscheinen. Aus ihm stach sie wie ein exotisches Wesen hervor, nicht Naturgebilde und scheinbar nicht Menschenwerk. Wenn man länger hinsah, gab die „Ode“ dem Grün etwas, das es erst zu einer Farbe machte und ohne das es stumpf und fahl gewirkt hätte. Er erkannte, dass Farben von ihrer Umgebung lebten, und vom Licht der Umgebung. Alle Dinge standen in einer lichtabhängigen Beziehung zueinander.
Manchmal in der Früh ging sein Blick flüchtig über die bunten Striche. Über das Blau, das ein Blau des Himmels oder des Wassers sein konnte. Über das Schwarz und Braun: die Farben von Felsen, Häusern oder flüchtigen Gestalten, wenn nicht von mykenischen Seelen, längst verblichenen. Ein paar rote Flecken leuchteten dazwischen, die er nicht einordnen konnte. Waren sie Reflexionen der Sonne auf Ziegeldächern, Blutflecken oder Kussmünder? Manchmal waren sie alles zugleich, dann wieder etwas ganz anderes.
An anderen Tagen ließ die „Ode“ eine Landschaft erahnen, die er nie gesehen hatte und die er sich von Sonne durchflutet und paradiesisch vorstellte. Aber auch mit einer versteckten, sprungbereiten Grausamkeit. Waren da nicht Hitze, Dornen, Skorpione und Schlangen, die den Fremden bedrohten? Waren da nicht Gewalt, Glut und Kälte des fremden Landes, das er nur vom Hörensagen kannte? In einem Zeitungsartikel hatte er über die Ablösung des griechischen Königreichs durch eine Militärdiktatur gelesen. Waren die roten Flecken auf dem Bild das vergossene Blut, das Leid und die Qualen? Wie hatten seine Eltern eine Hochzeitsreise in ein politisch zerrissenes Land machen können, das bald von einer Diktatur und ihren Schergen unterjocht wurde? Es gab viele Fragen, aber nur wenige Antworten.
Er ging morgens zur Arbeit und kehrte spät zurück. Müde und mit anderem beschäftigt fiel ihm die „Ode“ die meiste Zeit gar nicht auf. Wenn er sich dann, in seltenen Momenten, über das Bild beugte, sah er nur Striche. Ein Bild war ein Bild und nichts anderes. Keine Aussage, keine Stimme, keine Magie. Aber manchmal, wenn das Licht in einem besonderen Winkel auf die „Ode“ fiel, war da etwas: ein Leuchten oder eine Kraft. Als könnte das Bild seine Träume und Gedanken beeinflussen, ohne dass er es merkte.
Ein halbes Jahrhundert ging nach dem Mauerbau und der großen Explosion vorüber. Wie ein Wimpernschlag, der nie