Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Читать онлайн.
Название Highcliffe Moon - Seelenflüsterer
Автор произведения Susanne Stelzner
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783957446015



Скачать книгу

Aura. Ich hatte immer das Gefühl, dass es mich direkt ansah. Aber das Gefühl war nicht unangenehm. Es war das letzte Haus in unserer Straße, einer Sackgasse. Dahinter war hauptsächlich Wiese bis zur Steilküste.

      Mrs Adams war schon ewig nicht mehr am Strand gewesen. Sie war am liebsten zu Hause in ihren vertrauten vier Wänden. »Hier haben wir alles, was wir brauchen«, hatte sie geantwortet, als ich sie gefragt hatte, ob sie es nicht vermisse, mal nach London zu fahren oder gar weiter weg zu reisen. Das Haus verließ sie nur für Einkäufe oder Arztbesuche, wobei sie darauf angewiesen war, dass sie jemand mit dem alten, dunkelgrünen Rover fuhr, der gut behütet und selten genutzt in der Garage hinter dem Haus auf seinen Einsatz wartete. Sie selbst besaß keinen Führerschein.

      Mr Adams konnte zwar fahren, nur sah es mittlerweile auch seine Frau als ein gewagtes Abenteuer an, sich seinen Fahrkünsten anzuvertrauen. Es wurde ihm im Ort auffallend viel Platz auf der Straße eingeräumt, sobald ihn die Leute hinterm Steuer erkannten. Er hatte früher ein kleines Friseurgeschäft in Highcliffe. Mittlerweile war er vierundsiebzig Jahre alt, aber er schnitt noch immer mit Leidenschaft die Haare seiner treuen Kundschaft, die jetzt zu ihm nach Hause kam. Dazu platzierte er sie auf einen alten Stuhl aus Aluminiumrohr mit rotem Kunstlederbezug, während er gewissenhaft seine verschiedenen Utensilien auf dem kleinen Tisch neben dem antiken Herd ausbreitete und ihnen zum Zeichen, dass er mit der Arbeit begann, einen eierschalenfarbenen Umhang umlegte und hinter dem Hals verknotete. Mit diesem Anblick war ich quasi aufgewachsen.

      Ich nahm den kürzeren Weg durch die an warmen Tagen meistens offen stehende Küchentür und platzte in einen solchen Arbeitstermin. Mr George hatte heute das Vergnügen. Ich bewunderte seinen Mut, denn neben einem schlechten Gehör hatte sich bei Mr Adams mittlerweile der Bedarf einer Brille mit gefühlten dreißig Dioptrien eingestellt. Ich musste ständig an den Begriff ›Froschauge‹ denken, wenn er zu mir schaute.

      »Hallo, Val! Na, soll ich dir deine schönen langen Haare abschneiden?«, rief er mir kichernd zu, als ich eintrat, und klapperte wild mit der Schere in meine Richtung. Er fand diesen Scherz witzig und machte ihn immer wieder. Als ich klein war, hatte er mal viel mehr von meinem Haar abgeschnitten, als ich ihm zugestanden hatte. Das hatte ich ihm sehr übel genommen und einige Zeit ziemlich geschmollt. Außerdem hatte ich daraufhin mit Nachdruck verkündet, niemals wieder zum Friseur zu gehen.

      »Sehr witzig, Mr Adams«, kniff ich mir ein verzerrtes Lächeln ab und er lachte nur noch mehr. Ich hatte ihm längst verziehen. Er war ein sehr netter alter Herr.

      Mrs Adams mochte ich schon deshalb sehr, da sie sich nach dem Tod meiner Großmutter häufig als Babysitterin zur Verfügung gestellt und mir wunderschöne Gutenachtgeschichten über Elfen und andere Fabelwesen erzählt hatte.

      Ich ging durch den schummerigen Flur in Richtung Wohnzimmer, vorbei an den zahlreichen liebevoll eingerahmten Fotografien von jungen Menschen, in sommerlicher Umgebung aufgenommen. Die Adams hatten ihre einzige Tochter sehr früh verloren. Sie starb mit ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahren an einem inoperablen Gehirntumor. Seitdem hatten sie immer wieder junge Studenten aufgenommen, die hier in der Nähe die Sprachschulen besuchten. Mom hatte mir erklärt, dass es für die Adams eine tröstliche Ablenkung sei, junge Menschen bei sich zu haben und zu umsorgen. Inzwischen fühlten sie sich für die Aufgabe aber zu alt und gaben ihre beiden Gästezimmer nur noch in absoluten Ausnahmefällen an frühere Lieblingsstudenten, die aus Anhänglichkeit auch nach langer Zeit hin und wieder zu Besuch kamen.

      »Oh, hallo, meine Kleine, das ist aber lieb von deiner Mom, dass sie wieder an uns gedacht hat«, flötete Mrs Adams entzückt, als sie mich mit dem Apfelkuchen in der Hand ins Wohnzimmer kommen sah.

      Der Anblick der kleinen, immer noch recht schlanken, alten Dame mit dem weißen, hochgesteckten Haar und dem geblümten Kleid mit Spitzenkragen inmitten ihres mit gemusterten Tapeten und blümchenstoffbezogenen Mobiliar überladenen Wohnzimmers wirkte auf mich wie ein arrangiertes Foto für ein Landhausstil-Magazin.

      »Aber das ist doch klar, Mrs Adams.«

      Ich blieb immer ihre Kleine. Es machte mir aus ihrem Mund nichts aus. Es fühlte sich sogar fast behaglich an.

      Mrs Adams erhob sich mit ein wenig Mühe aus ihrem dunkelgrün und beige geblümten Ohrensessel, in dem sie sehr viel Zeit verbrachte, um zu nähen oder zu lesen. Hier unter der alten Stehlampe sei das beste Licht im Haus für derartige Arbeiten, hatte sie mal erklärt. Aber viele Male, wenn ich überraschend hier hereingeschneit war, hatte ich sie einfach nur still sitzend vorgefunden, das Foto in dem schlichten Silberrahmen betrachtend, das wie ihr wertvollster Schatz den alleinigen Platz auf dem kleinen Tischchen mit der selbst gehäkelten Spitzendecke einnahm. Lediglich eine winzige Vase mit einer frischen Rosenblüte flankierte das Bild. Es zeigte ein hübsches, aber sehr blasses junges Mädchen mit langen, hellblonden Haaren: ihre Tochter. Ich glaube, sie redete sogar mit diesem Bild, denn manchmal, so auch heute, hatte ich ein Gemurmel gehört, bevor sie mich begrüßt hatte. Es war mir irgendwie unangenehm, das Gefühl zu haben, möglicherweise in eine Art Andacht geplatzt zu sein, und ich beschloss, demnächst daran zu denken, mein Eintreten mit einem Räuspern oder lauten Rufen anzukündigen.

      »Bleibst du auf einen Tee, Liebes?«, fragte sie freundlich lächelnd.

      »Heute nicht, Mrs Adams, nächstes Mal gern wieder. Aber ich fahre gleich nach London.«

      »Oh, wie schön!« Mrs Adams klatschte die Hände zusammen. »Dann wünsche ich dir viel Freude, mein Kind, und bitte sag deiner Mutter ein ganz herzliches Dankeschön.«

      »Ja, mach ich. Bis bald, Mrs Adams.«

      Sie brachte mich noch zur Vordertür und öffnete sie. Die Sonne blendete. Es würde ein schöner Tag werden.

      »Ach, das ist wohl ein neuer Freund, der schon auf dich wartet. Viel Spaß euch jungen Leuten«, freute sich Mrs Adams.

      Ich blickte mich um und sah den Mini von Charlie vor unserem Haus stehen. Den Wagen kannte sie doch eigentlich. Wurde sie langsam vergesslich?

      »Ach, das ist doch Charlie, Mrs Adams.«

      Die alte Dame stutzte und tastete nach ihrer Brille, die sie oft wie einen Haarreifen auf dem Kopf trug, wurde aber nicht fündig. Sie kniff die Augen enger zusammen und formte ihren Mund zu einem kleinen Schnabel, während sie angestrengt ihre Wahrnehmung zu verdeutlichen suchte.

      »Also, bis dann«, sagte ich im Weggehen.

      »Aber …«, setzte sie leise an, als wollte sie noch etwas anmerken, doch ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und flitzte davon.

      Ich fand Charlie in der Küche, über den letzten Pancake herfallend. Natürlich nicht ohne die schuldbewusste Miene, die sie bei Kalorienbomben üblicherweise an den Tag legte. Sie saß am Küchentisch und fachsimpelte mit meiner Mutter, die gerade fein geviertelte Äpfel in den großen, uralten Topf von Oma kippte, über die Zubereitung von Marmelade. Charlie trug eines der gewagten neuen Tops mit grellem Schwarz-weiß-Kontrast. Meine Augen fingen auf der Stelle an zu flimmern.

      »Ah, da bist du ja. Bist du so weit? Können wir los?« Sie schob den letzten Krümel in den Mund und erhob sich. Ich deutete auf das enge, kurzärmelige Shirt, doch bevor ich etwas sagen konnte, sprudelte sie gut gelaunt hervor: »Sieht scharf aus oder? Deine Mom dachte, das sei ein Irrgarten.« Sie zupfte das Shirt an beiden Seiten über den Rippen in die Breite, um das spiralartige Motiv, das den ganzen Brustbereich einnahm, zu präsentieren. »Wenn ich es nicht in London anziehen kann, wo dann?«

      Mom warf mir einen amüsierten Blick voller Zweifel zu und meinte dann diplomatisch, zu Charlie gewandt: »Ja, da passt es ganz sicher.«

      Ich verzichtete auf einen weiteren Kommentar, dachte aber daran, sie später zu bitten, ihre um die Hüfte geschlungene Jeansjacke drüberzuziehen, da ich fürchtete, bei längerem Hinsehen in Hypnose zu fallen. »Von mir aus kann’s losgehen«, sagte ich stattdessen.

      Charlie verabschiedete sich von meiner Mutter. »Ich bringe Ihnen Val morgen Abend heil wieder, Mrs Summers.« Sie klang wie eine Erwachsene, die ein Kind abholt. Ich musste grinsen und schüttelte unmerklich den Kopf. Solange es mir gewisse Freiheiten einbrachte …

      Ich