Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Читать онлайн.
Название Highcliffe Moon - Seelenflüsterer
Автор произведения Susanne Stelzner
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783957446015



Скачать книгу

Daher holte ich es mir immer und immer wieder energisch aus meiner Erinnerung hervor. Ich versuchte mehrmals, ihn zu zeichnen, doch es gelang mir nicht. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf mein fotografisches Gedächtnis zu beschränken.

      Widerwillig entließ ich an diesem Freitagnachmittag sein Bild aus meinen Gedanken, als ich pünktlich um fünf Uhr den mit Regenwasserlachen angereicherten Hof der Fahrschule betrat, um mich der Herausforderung meiner ersten Fahrstunde zu stellen.

      »Ich bin James Leighton«, stellte sich der Mann im Tweed Jackett vor, der mit einer Klemmmappe bewaffnet an einem Opel Corsa mit Fahrschulaufkleber stand und mir erwartungsvoll entgegensah. »Sie müssen Miss Summers sein.«

      »Ja, richtig.« Ich reichte ihm die Hand.

      Das war also mein Fahrlehrer. Mein erster Eindruck war, dass er freundlich und kompetent wirkte. Ich schätzte ihn ungefähr so alt wie meinen Dad, vielleicht ein bisschen älter, denn er hatte schon leicht angegraute Schläfen. Er war schlank und bewegte sich sportlich, als er mir mit einer einladenden Geste die Fahrertür öffnete. »Sie haben angegeben, dass Sie schon Fahrpraxis haben?« Fragend sah er mich an.

      Ich nickte und stieg ins Fahrzeug.

      »Sehr gut, dann brauchen wir nicht ganz von vorn anzufangen. Nachdem Sie sich von dem ordnungsgemäßen Zustand des Fahrzeugs überzeugt haben, das habe ich bereits für Sie gemacht, können wir uns auf den Weg machen«, meinte er augenzwinkernd.

      »Ist mir recht«, antwortete ich zufrieden. Ich wusste jetzt schon, dass ich sehr gut mit ihm auskommen würde.

      »Na, dann wollen wir mal.« Er schlug die Fahrertür zu und begab sich auf die Beifahrerseite. Ich schnallte mich an, während er Platz nahm und ebenfalls zum Gurt griff. »Dann machen Sie sich bitte mit den Funktionen dieses Fahrzeuges vertraut.« Unter seinem aufmerksamen Blick suchte ich nach dem Blinker, den verschiedenen Einstellungen des Lichts, sogar nach der Nebelschlussleuchte und der Wischanlage, bis ich alle Schalter und Knöpfe verstanden hatte. »Gut. Dann richten Sie sich jetzt die Spiegel ein und dann starten Sie bitte den Motor.«

      Der Motor meldete sich mit einem sonoren Brummen und ich ließ den Wagen langsam anrollen, aber nicht ohne vorher in den Rückspiegel geblickt zu haben, wie Charlie mir eingebläut hatte. Dann fädelte ich mich hochkonzentriert in den Verkehr ein. Um die Mundwinkel von Mr Leighton zuckte ein zufriedenes Lächeln.

      Die latente Sorge, ob ich es packen würde, zum ersten Mal auf öffentlicher Straße mit Gegenverkehr zu fahren, erwies sich als unbegründet. Es machte mir nichts aus, bis auf zwei, drei Fehlschaltungen, die das Getriebe etwas zum Kreischen brachten, viele Tempoüberschreitungen und das Überfahren eines Stoppschildes, das Mr Leighton mit einem kräftigen Anschlag seiner Sicherheitspedale korrigierte, schlug ich mich gar nicht mal so schlecht. »Das darf nicht wieder passieren«, meinte er freundlich, aber eindringlich. »Bei der Prüfung würde das sofort zum Abbruch führen.« Ich nickte einsichtig, während Mr Leighton sich noch kurz eine Notiz auf seinem Block machte und mich dann verabschiedete. Mit dem festen Entschluss, beim nächsten Mal noch besser aufzupassen, hüpfte ich relativ zufrieden mit mir vom Hof.

      Jetzt freute ich mich auf das Wochenende. Charlie hatte die wunderbare Frage gestellt, ob wir nach London fahren wollten. Ihr Vater hatte ihr dort eine kleine Eigentumswohnung in dem schönen Stadtteil Kensington vererbt. Ich war unheimlich gern dort und konnte den nächsten Tag kaum erwarten.

      Ein verführerischer Duft weckte mich. Ich sprang die Treppe herunter und folgte ihm in die Küche. Meine Mutter stand am Herd und machte gerade meine geliebten Pancakes. Ich umarmte sie von hinten. »Morgen, Momsy.«

      »Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen? Du hast in der Nacht wieder geredet.«

      »Wirklich? Was hab ich denn gesagt?«

      »Ich konnte es nicht verstehen. Es war so unzusammenhängendes Zeug und du hast auch sehr leise gesprochen. Aber als ich dich angesprochen habe, weil ich dachte, dass du vielleicht doch wach bist, hast du dich im Bett aufgerichtet und mich mit offenen Augen ernst angesehen und gesagt …« Sie machte eine Schnute und veränderte ihre Stimme: »›Bist du allein oder kommen noch mehr?‹ Dann bist du mit geschlossenen Augen wieder zurück aufs Kopfkissen gefallen.«

      »Waas?« Ich bog mich vor Lachen.

      »Ja, es war wirklich witzig. Du warst dabei im Tiefschlaf«, lachte meine Mutter und wendete den letzten Pfannkuchen mit einem geschickten Schwung der Pfanne, wie ein Profi.

      »Oh Mann«, sagte ich nur kopfschüttelnd, »ich kann mich überhaupt nicht erinnern, was ich da geträumt habe.«

      »Reich mal deinen Teller rüber, Schatz.«

      Während sie mir einen der herrlich duftenden Fladen gab, dachte ich weiter angestrengt nach, aber es war alles weg. »Den Ahornsirup bitte, Mom.« Ich hielt ihr meine ausgestreckte Hand entgegen. Sie reichte ihn mir herüber, füllte die restlichen Pancakes auf einen großen Teller und setzte sich zu mir an den Küchentisch.

      Wir saßen zum Essen meistens in der Küche an dem uralten Eichenholztisch, der meiner Urgroßmutter gehört hatte. Ich mochte das angenehm warme Gefühl, wenn ich meine Unterarme darauflegte. Überhaupt war unsere Küche total gemütlich. Seit Mom vor ein paar Jahren in einem plötzlichen Anfall von Renovierungswut die Wände in einem warmen Gelbton gestrichen hatte, wirkte es nun, zusammen mit den rötlichen Tönen der Terrakottafliesen, als säße man in einer spanischen Bodega. Wir hatten mindestens fünf schmiedeeiserne Obstschalen, die in allen Winkeln der Küche auf den Holzarbeitsplatten stationiert waren, üppig mit Zwiebeln, Knoblauch, Zitronen, Orangen und anderem Obst, hauptsächlich Äpfeln, bestückt. Dazwischen lagen Stapel mit Kochbüchern, meistens über mediterrane Küche, die sich im Laufe der Zeit angehäuft hatten.

      Ich angelte mir meinen dritten Pancake und schmatzte genüsslich.

      »Das ist die Backmischung, die dein Dad letzten Monat aus Boston mitgebracht hat«, informierte mich Mom.

      »Escht klasche«, lobte ich.

      »Wann fahrt ihr eigentlich?«

      Ich schluckte einen großen Brocken herunter. »Charlie holt mich um zehn Uhr ab.«

      Sie sah auf die Uhr. »Hast du schon was eingepackt?«

      »Ja, ich bin startklar.«

      »Dann tu mir doch bitte noch einen Gefallen, wenn du aufgegessen hast. Sei so gut und bring den Adams noch einen von den Apfelkuchen rüber, ja?« Sie deutete auf ein bereits mit Papier eingeschlagenes Exemplar auf der Arbeitsplatte hinter mir.

      »Ist gut.«

      Mom hatte den Ehrgeiz, keine Frucht der in unserem Garten stehenden alten und seltenen Apfelbäume umkommen zu lassen. Sie verarbeitete sie zu allem, Marmelade, Kompott oder Kuchen, und da sie verschiedene Reifezeiten hatten, war sie jedes Jahr im Spätsommer und im Herbst mehr als gut damit beschäftigt.

      »Einer ist noch für Jane, den dritten kannst du anschneiden.« Jane war eine ihrer beiden Single-Freundinnen, die sich mit ähnlichen Männerproblemen wie die dauereinsame Rita herumschlug.

      »Gut, dann nehme ich zwei Stück für die Fahrt mit.« Ich stand auf und stellte das Geschirr zusammen.

      »Lass nur. Ich mach schon«, meinte Mom lächelnd.

      »Okay, ich geh dann mal eben rüber.«

      »Danke und grüß die beiden.« Sie begann den Tisch abzuräumen und ich schnappte mir den eingewickelten Kuchen.

      Die Adams waren unsere Nachbarn, so lange ich denken konnte. Sie waren schon hier gewesen, als wir eingezogen waren. Ursprünglich waren sie aus Wales und wenn die beiden sich in ihrer alten Sprache unterhielten, hatte ich große Mühe, irgendetwas davon zu verstehen. Sie bewohnten ein sehr hübsches Cottage mit einem leicht verwitterten Dach, das wohl in naher Zukunft mal wieder instand gesetzt werden müsste. An den leicht unregelmäßigen grauen Steinen der Fassade, wo die Jahreszahl 1840 eingekerbt war, kletterten Rosen und Clematis empor und zusammen mit dem gut gestutzten Rasen des Vorgartens und den in allen Farben blühenden Blumen in den seitlich angelegten