Deutschland oder Jerusalem. Claus-Steffen Mahnkopf

Читать онлайн.
Название Deutschland oder Jerusalem
Автор произведения Claus-Steffen Mahnkopf
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866742871



Скачать книгу

beruflich zu tun und besuchte ihre Eltern vor allem zu jüdischen Festen, bei denen sie Heimweh, »nostalgia«, verspürte. In Rom bewegten wir uns wie zu Hause, Francesca sowieso, aber auch ich behandelte diese Stadt wie meine zweite. Wir trafen die Familie und Freunde und genossen die großen Ausstellungen, so zum Futurismus im Herbst 2001 oder »I tesori degli aztechi« im Frühjahr 2004. Nachdem wir von der Villa Massimo aus Venedig, Neapel und die Abruzzen besucht hatten, machten wir unsere Hochzeitsreise von Rom aus, wo im erweiterten Familienkreis gefeiert wurde, nach Florenz.

      Allein, unser Herz schlug die ganze Zeit für Venedig. Die Serenissima war unser beider Traum, und das viel länger, als wir uns kannten. Man bedenke: Francesca, italienabstinent, wäre für Venedig – genauer: einen Lehrstuhl mit einem amerikanischen Gehalt nebst einem Palazzo – bereit gewesen, nach Italien zurückzukehren. Das will etwas heißen. Wir waren dreimal gemeinsam dort. An jenem Wochenende 1998, als Rot-Grün die Bundestagswahl gewann, 2005, als ich für zwei Monate Stipendiat am Centro Tedesco di Studi Veneziani war und Francesca mich besuchte, und 2010 im Frühsommer. Venedig war für uns der Inbegriff dessen, was Italien für die Menschheit bedeutet: Kunst, Größe, Eleganz, Kultur, Renaissance, Republik, aber auch die spezifische Morbidezza tat uns gut. Dann die Abwesenheit von Autos, das Wasser, das jüdische Ghetto. Venedig war für uns außergewöhnlich, und das heißt buchstäblich: wie nicht von dieser Welt. Eine Gegenwelt. Gewiß, die Touristen, die diese Stadt bevölkern, muß man ignorieren; wir als Italiener konnten dies auch. Wir kannten die Schlupflöcher.

      Unsere erste ganz große Reise ging nach China – wohin sonst? Wenn wir schon so viel Geld ausgaben, dann für das Land, das uns naheliegend und zugleich fremd erschien. Im September 2000 war es so weit. Francesca plante: Beijing, Xi’an, Shanghai, Guilin, Hongkong. Wir landeten frühmorgens mit einem schrecklichen Jetlag in Peking bei bestem Sommerwetter. Endlich eine Weltreise, endlich das Land der Mitte, wir fühlten uns wie in Sektlaune. Wir liefen in die Stadt, zum in jeder Hinsicht geschichtsmächtigen Tian’anmen-Platz. Vor uns lag der Kaiserpalast, an dessen Eingang das überdimensionierte Mao-Bild thront. Wir waren angekommen. Die Pekingente verschmähten wir, nicht aber die wahrhaftig imposante Pekingoper. Für die Verbotene Stadt hatten wir genauso Zeit wie für den Sommerpalast, den Himmelstempel und die großen Parkanlagen. Wir wurden auch in Fabriken und zur traditionellen Medizin geschickt. Von Peking aus besuchten wir die Große Mauer, sicherlich so berühmt wie kaum etwas auf der Welt, aber die Faszination hielt sich überraschenderweise in Grenzen.

      Natürlich ist China eine Diktatur, die mit drakonischen Strafen droht. Bezeichnenderweise haben wir auf der Straße davon kaum etwas mitbekommen, ganz im Gegensatz zu Ägypten, wo die Touristen andauernd Polizeikontrollen passieren mußten, zumindest im Hinterland. Ägypten erlebten wir als Polizeistaat, nicht China. (Was nicht heißt, daß dort heile Welt herrscht; unser studentischer Reiseführer in Shanghai versuchte uns auf plumpe Weise zu betrügen.) Uns überraschten das freudige, sonnige, sanguinische Naturell der meisten Chinesen auf der Straße, ihre kommunikative Art, ihr zwangloser Umgang untereinander, die Emanzipiertheit der Frauen, die Tai-Chi-Übungen und die Gesangsgruppen. Dieser Eindruck hielt sich in ganz Rot-China. Wir wurden auch regelmäßig angesprochen, sehr höflich, aber überhaupt nicht steif. Umgekehrt wurden wir als potentielle Käufer nicht andauernd angemacht. Nur einmal wollte ein »Künstler« uns unbedingt etwas verkaufen und wurde ausfällig, als wir ablehnten. Wir spürten etwas von einer vom Westen gänzlich verschiedenen Kultur, vom Fehlen des monotheistischen Gottes. Francesca sollte Jahre später den Buddhismus für sich entdecken. Wir dachten seither anders über die westliche Rationalität, die in Hegels System gipfelt.

      Zu jener Zeit begann das chinesische Konsumzeitalter. Das bedeutete ein schroffes Nebeneinander von bitterer Armut sowie vorindustriellen Wohnverhältnissen und der schicksten Moderne (so der neue Flughafen in Hongkong oder der Jin Mao Tower in Shanghai, die neuen Shoppingmalls, die Bankenhochhäuser). Als wir von oben die wie Pilze aus dem Boden schießenden Wolkenkratzer von Shanghai sahen, meinte ich zu Francesca, man müsse hier Aktien kaufen. Die schiere Größe dieser Städte hatte für uns etwas Monströses, aber es stand uns nicht an, Wertungen vorzunehmen. Wir wurden stets ausgesprochen zuvorkommend behandelt und spürten, daß hier die kommende Supermacht erwacht.

      Die Touristen erlebten wir von ihrer unangenehmen Seite. Im Restaurant an der Großen Mauer wurde eine größere ostdeutsche Reisegruppe verpflegt, welche die Unterscheidung zwischen »red wine« und »white wine« nicht verstand, so daß Francesca der armen chinesischen Bedienung beisprang und dolmetschte. Später traf sie auf der Toilette eine Frau, die sich beklagte, daß in China niemand deutsch spreche. Francesca stimmte dem ironisch zu, allerdings auf Italienisch. Im Frühstücksraum eines Hotels hörten wir eine ältere Französin in voller Lautstärke: »Die Chinesen haben überhaupt keine Kultur; die einzige Kultur, die sie haben, verdanken sie den Franzosen.« Das war heftig. Auf der Fahrt durch den für seine Karsthügel weltberühmten Lijiang-Fluß bei Guilin warfen Amerikaner spielenden Kindern im Wasser Eindollarscheine zu. Wir kamen auf unserer ersten Fernreise ins Nachdenken darüber, ob der Pessimismus von Schopenhauer nicht doch berechtigt ist.

      Bei unserer Rückkehr erfuhren wir einen Kulturschock. Über die Vororte von Frankfurt fliegend, sahen wir, daß hierzulande jeder für sich ein Häuschen hat, undenkbar in China, dem Land der Wolkenkratzer; der Bahnbeamte am Servicepoint war so abweisend wie die Chinesen hilfsbereit, und im Zug wurden wir des Preises für die europäische Individuation inne: Die allermeisten schauten traurig drein, ihre je persönliche Leidensgeschichte hat die Gesichtszüge geprägt. Liegt es am Monotheismus? Wie auch immer, unsere erste ganz große Reise war ein Erfolg.

      Die nächste größere Fahrt führte uns zu den Ursprüngen der abendländischen Kultur, nach Ägypten. Wieder hatte Francesca alles zusammengestellt: erst nach Luxor, von dort in den Süden, dann nach Kairo mit einem Abstecher auf die Sinaihalbinsel. In Luxor angekommen, gingen wir sofort in den Karnak-Tempel. Wir waren überwältigt von den Proportionen, die im Verhältnis zu den griechischen so viel größer dimensioniert sind, daß wir Menschen ganz klein und demütig werden. Francesca winkte mich zur Seite und fing plötzlich an, eine Wand zu dechiffrieren, so als ob sie eine Reiseleiterin sei, die sich hier auskennt. »Hast Du nicht gewußt, daß ich in Rom etwas Ägyptologie studiert habe?«, fragte sie. Nein, ich wußte das nicht. Am nächsten Tag ging es ins Tal der Könige mit den berühmten Todesgräbern, es war sehr aufregend, sie von innen zu sehen. Von Luxor fuhren wir hoch nach Dendara – genauso begeisternd wie der Karnaktempel, vielleicht sogar noch mehr.

      Auf unserer Fahrt nach Assuan besichtigten wir den Tempel des Horus in Edfu, Kom Ombo, in Assuan das Sowjetisch-ägyptische Memorial mit dem Blick auf den Stausee und natürlich die Insel mit dem Philae-Tempel. Von dort ging es mit dem Flugzeug in den Süden, wo die Überlandstraßen für Touristen gesperrt sind. Die beiden Tempel von Abu Simbel gehören zum Eindrücklichsten, was wir je in unserem Leben sahen. Selbst die Pyramiden schienen Tags darauf harmlos dagegen. Erst mit Petra im März 2011 haben wir etwas Ebenbürtiges aus Menschenhand erlebt. Die drei Pyramiden von Gizeh erschienen beim ersten Anblick verhältnismäßig klein. Wir sind eben an hohe Gebäude gewöhnt. Je näher wir ihnen indessen kamen, desto bescheidener wurden wir. Sie sind in der Tat ein Wunder, bis heute. Wir durften in die Cheops-Pyramide eintreten und fühlten uns sehr geehrt. Der Besuch der Sphinx wurde überschattet von zwei Italienern, die, natürlich in ihrer Landessprache, fragten, ob denn der Besuch sich lohne, und dies ein paar hundert Meter von ihr entfernt. Francesca schämte sich maßlos. Wir bewegten uns in der Metropole Kairo ganz zwanglos, trafen einen guten Freund aus der römischen Zeit, der dort lebte. Von hier aus machten wir Ausflüge nach Saqqara, Memphis und zur al-Fayoum-Oase. Eingeplant war auch eine zweitägige Reise auf die Sinaihalbinsel, zum Katharinenkloster, mithin zu einem Bergmassiv, auf dem der Überlieferung nach Moses Gott traf. Das war für Francesca eine heilige Angelegenheit. Trotzdem haben wir diesen Berg nicht bestiegen; es wäre zu anstrengend gewesen. Francesca fand die Manuskripte im Kloster letztlich interessanter.

      Unvergeßlich ist unsere Diskussion in der Cafeteria des Ägyptischen Museums, für das wir uns einen ganzen Tag Zeit nahmen. Anspielend auf die vieldiskutierte Kontroverse, ob der Westen nun eher von Jerusalem oder Athen, also den alttestamentarischen Geboten oder der griechischen Metaphysik geprägt sei, meinte ich, man könne diesen vermeintlichen Streit sehr gut verstehen, da doch hier in Ägypten sichtbar werde, daß das Land zwar eine