Deutschland oder Jerusalem. Claus-Steffen Mahnkopf

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Название Deutschland oder Jerusalem
Автор произведения Claus-Steffen Mahnkopf
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866742871



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Freiburg entfernt. Jede Nacht in einer anderen Stadt, stets morgens mit dem Handy ein Hotel in derjenigen Stadt buchend, die wir anvisiert hatten: Dijon, Cluny, Autun, Avallon, Sens, Montbard, Beaune. Wir waren sehr flexibel, fühlten uns zum ersten Mal als Autobesitzer. Auf diese Weise konnten wir pro Tag vier Sehenswürdigkeiten und mehr anschauen: Schlösser, Kirchen, Klöster, historische Städte. In einer Woche erreichten wir etwa dreißig Orte. Francesca war dabei die Reiseleiterin und Übersetzerin. Solch eine Bildungsreise war nach ihrem Geschmack.

      Francesca war zu einem Vortrag nach Princeton eingeladen, ich konnte einen Vortrag an der Columbia University halten, und wir konnten endlich Carl Djerassi, den hochbetagten Erfinder der Antibabypille und nun Schriftsteller, der uns seit längerem kennenlernen wollte, treffen, weil er eine Theaterpremiere hatte. Grund genug, nach New York City zu reisen. Wir sagten immer, die USA sind die USA, und New York ist anders. Wir sollten im September 2008 recht bekommen. Unser Hotel lag in der Nähe des Times Square, mithin zentral. Am ersten Morgen betrachteten wir vom Bistro aus die Vorbeilaufenden. Welch eine Energie, welch ein Vielvölkergemisch, welch eine Geschwindigkeit, welch eine Eleganz (zumindest in diesem Teil von Manhattan). Wir spürten etwas von dem multikulturellen Ideal. Gerade die Frauen liefen mit »determinazione«, wie man auf Italienisch sagt. Das Panorama hoch oben auf dem Empire State Building war grandios. Wir ahnten etwas von der weiten Visions- und Pionierhaftigkeit der amerikanischen Existenz, so daß wir, an der Freiheitsstatue vorbeifahrend, nicht das Bedürfnis verspürten, auszusteigen und hochzulaufen. Überhaupt sind die hohen Gebäude so massiert (mehr noch als in Hongkong), daß wir unwillkürlich am Boden bleiben wollten.

      Das Guggenheim-Museum war eher enttäuschend, nicht jedoch das Museum of Modern Art mit einer Dalí-Sonderausstellung. Wir waren erstaunt von der großen Professionalität der Museen, vor allem beim Museum of Natural History. Wieder kam uns in den Sinn: »Wenn die Amerikaner etwas tun, dann tun sie es richtig.« Das legendäre Metropolitan Museum of Art überforderte uns. Wie betraten den Seitenflügel und befanden uns in der antiken Welt. Als wir bei den Etruskern ankamen, fragten wir uns, wie groß das Museum denn sei, und beschlossen, nachdem wir uns über die Ausmaße erkundigt hatten, zwei ganze Tage zu reservieren. Dieser Ort allein schon ist eine Reise wert. Die altägyptische Sammlung versetzte uns in unsere Reise an den Nil, in der Musikinstrumentensammlung konnte ich Francesca das Staunen lehren. Und dann gab es noch ein Dutzend Sonderausstellungen, darunter eine sehr große zu William Turner. Wir waren begeistert. Überhaupt: Dieses Museum ist so gigantisch und enzyklopädisch, daß man den Eindruck gewinnt, die ganze Welt sei darin versammelt, einschließlich des europäischen Bürgertums des 18. Jahrhunderts. Tja, Amerika, die imperiale Macht, war auf »Einkaufstour« gewesen.

      Es war die Woche des 11. Septembers. Wir fuhren zum Ground Zero erst gegen Abend, da tagsüber die beiden Präsidentschaftskandidaten auftraten. Eine sonderbare Stimmung. Einerseits diese gigantische Großbaustelle, die anscheinend so langsam vorankommt; sodann Tausende, die in der Rushhour zur U-Bahn nach New Jersey strömten und an dieser Baustelle vorbeidrängelten; dann wieder eine Gruppe Tiefreligiöser, die beteten und sangen; überall Poster und Aushänge, als ob das Attentat erst vor kurzem geschehen wäre; ein paar Halbstarke, die mit ihren großen Autos ankamen, deren Karosserien vollständig mit Bildern der Rocky Mountains und für uns Europäer schwer verständlichen Parolen bemalt waren: »We trust in God. God bless America.« Die Szenerie glich einem Film; es schien, als handelten diese Leute, damit sie ins Fernsehen kamen, aber sie meinten es ernst. Wir machten die Runde um die Baustelle und fanden, daß es genug sei.

      Die Finanzkrise beschäftigte seit einiger Zeit die Weltöffentlichkeit. Wir spürten das Mißverhältnis. Auf der einen Seite ein schwacher Dollar, der uns Europäer zu kleinen Krösusse machte, auf der anderen Seite eine wahnwitzige Energiebilanz: viel zu große Autos, und das im überfüllten Manhattan, überall Wegwerfgeschirr, riesige Konsumhäuser für allerlei Waren, die mit »Made in China« etikettiert sind, überall penetranteste Reklame. Wir sagten uns, daß dies nicht gutgehen könne. Am Sonntag zwang uns eine Umleitung der U-Bahn zum vorzeitigen Aussteigen. Wir gingen die Treppe hoch und starrten auf die New Yorker Börse. Plötzlich und ohne jede Absicht standen wir in der Wall Street. Da sind wir also, im Zentrum der Macht, dachten wir und verließen schnell das Terrain. Wir wußten nicht, daß zu dieser Stunde das Ende von »Lehman Brothers« besiegelt wurde. Abends flog Francesca nach Cincinnati, ich nach Deutschland. Am nächsten Tag brach die Wall Street zusammen. Als ob wir das am Vortag ausgelöst hätten.

      An Ostern 2009 reisten wir nach Granada. Es wurde höchste Zeit, das maurische Andalusien, die arabische Al-hambra zu besuchen, beschäftigte sich Francesca doch seit Jahren mit der arabischen Sprache und Kultur. Die Alhambra mit der Generalife war natürlich umwerfend, vor allem in ihrer filigranen Zartheit. Isabel, die Katholische Königin, liegt in der Kathedrale begraben. Als Francesca vorbeikam, zeigte sie ihr den Stinkefinger. Das mußte sein, hatte diese Regentin doch 1492 die Juden aus dem Land vertrieben und damit auch Francescas Vorfahren. Sie nahm das sehr persönlich. Wir machten Ausflüge nach Córdoba, Almería und Málaga und genossen die Überlandfahrten mit dem Bus. Córdoba war für Francesca ein besonderes Erlebnis. »Hier komme ich her«, sagte sie, auf ihre Familiendiaspora anspielend. Stolz und erfreut zugleich lief sie durch das jüdische Viertel. Als wir an Maimonides’ Geburtshaus vorbeikamen, war es um Francesca geschehen. Sie schielte auf das »venta«-Schild, das zufällig am Nachbarhaus hing, und kam ins Schwärmen – hier eine Zweitwohnung mit Blick vom Schreibtisch auf das Denkmal des größten jüdischen Philosophen aller Zeiten. Nach Venedig, New York und Paris war das die vierte Zweitwohnung, die sich in Francescas Phantasie festgesetzt hatte.

      In dieser Zeit planten wir für die kommenden Jahre Dreierkombinationen: eine Städte-, eine Erholungs- und eine größere Bildungsreise. Die erstere, 2010, führte nach Budapest, wo wir Francescas Geburtstag feierten. Wir waren von den Herrlichkeiten der Donaumonarchie tief beeindruckt und kamen rasch zum Schluß, daß Wien nicht mithalten könne und Budapest die schönste Stadt Europas sei (von Italien abgesehen). Ausflüge ins Umland, wie wir es mit Prag und Theresienstadt vorhatten, planten wir nicht ein. Die Stadt bot uns genug, die Burg, die Museen, die Bäder und nicht zuletzt die umwerfend schmuckvolle Oper, wo wir Il barbiere di Siviglia sahen, nicht unbedingt unser Geschmack, aber es paßte zur launigen Ferienstimmung. Die taufrisch restaurierte Synagoge, die größte auf dem europäischen Kontinent, war so überwältigend, daß wir kurz meinten, sie sei Anlaß, nochmals zu heiraten. Am letzten Tag entdeckten wir die Antiquariate, denen wir aus dem Wege gehen wollten. Francesca kaufte wieder ein, darunter eine Leusden-Bibel auf Hebräisch von 1705.

      Die letzte Bildungsreise mit Führer und Fahrer vor Ort führte uns, unmittelbar vor Francescas unerwartetem Tod, nach Jordanien, eine Reise, die wir seit langem geplant hatten. Letztlich ging es um die Nabatäerfelsenstadt Petra. Aber zuerst wohnten wir in Amman, wieder in einer arabischen Stadt, und das während des arabischen Frühlings. Tunesien und Ägypten hatten den Wechsel geschafft, die NATO-Unterstützung der libyschen Rebellen begann just während dieser Reise. Wir befanden uns auf der anderen Seite von Israel, das 93 Prozent des Jordanwassers für sich beansprucht. Wir erwähnten unserem hilfreichen Fahrer gegenüber unsere Israelerfahrungen nicht. Wir spürten den Nahostkonflikt, diesmal von der anderen Seite aus. Wir erlebten das Land und vor allem die Hauptstadt als ausgesprochen liberal, ja zweisprachig, das Englische war weit verbreitet. Hier scheint das Königtum eine integrierende Rolle zu spielen. Wir fuhren nach Jerasch, der riesengroßen Anlage aus der römischen Zeit. Francesca, die Römerin, erklärte mir alles en detail. Wir sahen den Mount Nebo, die Mosaiken von Madaba, die Anlage von Karak. Dann nach Gadara, dem heutigen Umm Qais, mitten in der Landschaft gelegen. Schließlich ging es über die Wüstenschlösser nach Süden. Am Vorabend kamen wir in Petra an.

      Petra – wie häufig hatte Francesca davon in den zehn Jahren zuvor gesprochen. Nun waren wir eingetroffen. Wir nahmen uns einen ganzen Tag vor, neun Stunden waren wir auf den Beinen, das Gelände ist riesig. Früh morgens machten wir uns auf den Weg. Wir liefen ehrfurchtsvoll den Siq entlang, jene etwa 1500 Meter lange und bis zu 200 Meter tiefe und sehr enge Felsschlucht, gleichsam ein Läuterungsweg zur einer verwunschenen Welt. Dann, plötzlich, ein Platz mit dem Blick auf das berühmteste Denkmal, das Khazne al-Firaun. Es erschlug uns geradezu. Fassungslos bestaunten wir die Fertigkeiten der Nabatäer. Wir durchwanderten die Gegend und liefen sogar hoch zum Kloster mit dem Felsgrab Ed-Deir, von wo aus man einen Blick nach Westen