Das Lied der Eibe. Duke Meyer

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Название Das Lied der Eibe
Автор произведения Duke Meyer
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783964260109



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und seinen berühmten kurzstieligen Hammer schwingt, um „Riesen zu erschlagen“… obwohl ich dieses pittoreske Bild schätze und gern damit spiele. Selbstverständlich identifiziere auch ich den Großen Hammerschwinger mit Blitz, Donner und Gewitter – aber leite als Kind meiner Zeit noch ein ganz anderes Bild, eine weitergehende Bedeutung davon ab. Von was lebt unsere Zivilisation heute? Von einer gewissen Domestizierung eben jener Kraft, die sich von Natur aus am sichtbarsten und eindrucksvollsten in Gewittern entlädt: elektrischem Strom. Das ist Thor für mich. Genauer gesagt: seine Energie. Denn nicht ihn, den Gott, haben wir uns dienstbar gemacht, um unsere ganzen Geräte zu betreiben und die Nacht zu erhellen, wo und wie es uns passt – sondern nur die Kraft, die aus dem „Schleudern seines Hammers“ rührt, auf höchst raffinierte Art zur allverfügbaren Dauerleistung für unser Wohlleben eingespannt: so tiefgreifend und umfassend, dass sie uns längst als ebenso selbstverständlich erscheint wie sie unverzichtbar geworden ist. Kaum mehr als hundert Jahre („und ein paar zerquetschte“) ist das her – und hat die ganze Welt verändert. Und in jedem Stromschlag steckt sie noch: die mögliche blitzartige Entladung. Thurisaz.

      Die Rune bedeutet immer noch „Riese“. Was unterscheidet den (in der Edda zwar als kämpferisch geschilderten, aber im Herzensgrunde gutmütigen, in eher schlichten Bahnen denkenden) Donnergott von den riesigen, riesischen Gewalten, vor denen er uns schützt? Der Verstand, das Bewusstsein? Im Prinzip ja – handelt es sich bei Riesen doch um die eher als unbewusst aufzufassenden Kräfte der Natur. Andererseits gibt es zahllose Geschichten über Riesen, in denen sie – personifiziert, wie sie dargestellt werden – ebenso selbstverständlich sprechen und denken können wie andere Wesenheiten (Menschen zum Beispiel) auch. Mit Logik allein ist dem nicht beizukommen; ich nehme die Bilder, wie ich sie vorfinde, genauer: wie sie mich ansprechen – und mache etwas daraus. Mit Gefühl, ja. Passend zu den allermeisten Phänomenen in der großen Natur, erscheint mir auch die Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem im Grunde als fließend. Denn solche Grenzen sind, wenn wir es recht bedenken, immer nur die von uns gezogenen: um die Welt beschreiben zu können. Es handelt sich nur um Abbilder der Welt, gewissermaßen um Landkarten – nicht um die Welt, die Landschaft selbst. Sie dienen der Sortierung und Orientierung. Und viele unserer praktischen Irrtümer entstehen aus der Verwechslung des kunst- und sinnvoll erdachten Abbildes mit dem, was es zeigt und beschreibt: der wirklichen Welt nämlich. Weil wir ohne solche Beschreibungen nicht auskommen, sind uns die meisten derart selbstverständlich geworden, dass wir sie für Wirklichkeit halten. Wobei sie diese doch nur abbilden im Sinne einer Einteilung! Wo hört tote Materie auf, wo beginnt Leben? Bereits manche Viren bilden ein Zwischenstadium, das uns im Alltag nicht interessieren braucht – aber schon die Einteilung zum Beispiel von Lebenszuständen in „gesund“ oder „krank“ ist weder natürlich noch irgendwie gottgegeben, sondern Ergebnis gesellschaftlichen Diskurses: Wie wir etwas sortieren, bleibt letztlich beliebig – und ist entsprechend veränderbar.

      Zurück zu Thor und der Frage, was ihn von Riesen unterscheidet. Etwas provokativ ließe sich behaupten, dass es vor allem sein Hammer ist – zumindest angesichts der vielen Eigenschaften, die Thor und seinen mystischen Gegnern gleichermaßen zugeschrieben werden: vom schlichten Gemüt übers aufbrausende Temperament bis zur sprichwörtlich überbordenden Kraft. Der Hammer könnte so auch als Symbol dafür gesehen werden, auf welcher Seite der Gott steht: auf der des Bewusstseins. Solches äußert sich nie als Einzelleistung, sondern immer als gemeinschaftliches Phänomen. Auch und gerade die Geschichte des Hammers, obwohl er als Waffe und Werkzeug ganz allein Thor zugeschrieben wird (als dessen unveräußerliches Erkennungsmerkmal), verweist auf entsprechenden Kontext: Zwerge haben diesen Hammer, der „wie von Zauberhand“ nach jedem Wurf von allein in die Hand seines Schleuderers zurückkehrt, geschmiedet – und Trickstergottheit Loki (von der später noch mehrmals die Rede sein wird, keine Bange) sorgte in Gestalt einer boshaften Fliege (die dem schmiedenden Zwerg Brock immerzu ins Augenlid stach) dafür, dass der Stiel des Hammers etwas arg kurz geriet. Soweit der Mythos.

      An eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen den entgegengesetzten Kräften Thor versus Riesen zu erinnern, ist mir wichtig, da wir allesamt unseren Feinden ähnlicher sind, als wir meinen. Selbstverständlich nicht vollkommen, der oder die jeweiligen Unterschiede können haarscharf sein – müssen sie sogar, denn sie symbolisieren unsere moralische Überlegenheit. Erkennen wir die Ähnlichkeiten jedoch gar nicht oder ignorieren wir sie – zum Beispiel, wenn wir von unserer moralischen Überlegenheit schlichtweg (also gedanken- und kritiklos) ausgehen –, geben wir damit unseren Hammer aus der Hand. Und dann verlieren wir, selbst wenn wir nominell gewinnen, Wesentliches. Was wäre gewonnen, wenn wir uns hernach lediglich an derselben Stelle, auf denselben Positionen wie unsere Widersacher wiederfänden, die wir äußerlich bezwungen haben mögen, aber inhaltlich, vom Tun und Lassen her, nicht mehr von ihnen unterscheidbar wären? Wäre dann nicht ihrer Geisteshaltung der Sieg zuzuschreiben, wenn wir unsere Aufgaben unterwegs verlieren, des einen oder anderen kurzfristigen Vorteils (oder eben des ganzen nominellen Sieges) willen?

      Ich behaupte: Wer die Ähnlichkeit zum eigenen Gegner nicht erkennt und anerkennt, ist schon dabei, ihm den Sieg zu schenken – weil es zunehmend egal werden könnte, wer ihn erringt.

      Was hat das alles mit Thurisaz, der dritten Rune zu tun? Zunächst nichts. Ich kann es aber gerade am Beispiel dieser Rune nicht lassen, vor allzu schnellen Wertungen zu warnen. Moralische Überlegenheit, von der hier mehrfach die Rede war, ist ein hauchdünnes Gewebe – eine unbedachte Bewegung, und es bleibt irgendwo hängen und zerreißt… Wie schnell ist dieses zarte Ehrengewand dahin und hinterlässt uns entblößt!

      In der Edda-Erzählung „Des Hammers Heimholung“ ist eine interessante Weisheit verborgen. Genüsslich wird geschildert, wie der Donnergott seinen von den Riesen geraubten Hammer, der ja in gewisser Hinsicht seine Identität darstellt, nur dadurch zurückgewinnen kann, indem er ein anderes, ihm offenbar wichtiges Identitätsmerkmal verleugnet: seine Männlichkeit. Der vordergründig derbe Schwank, dessen hochmittelalterliche Ausstattung nicht mehr viel Germanisches hat, hält damit einen überraschenden Feinsinn bereit, der allerdings unter dem groben Getobe erst einmal entdeckt werden will. Die Nebenbedeutung des Hammers als männlich apostrophiertes Fruchtbarkeitssymbol macht den Angelpunkt des Plots pikanter, als dessen dramaturgische Schlichtheit zunächst vermuten lässt. Allen Getues und Gepränges entblößt, ließe sich die Story glatt so deuten: Der Donnergott erhält das geraubte Hauptattribut seiner Männlichkeit nicht eher zurück, als er sich bereit zeigt, auf sein Mannssein ganz zu verzichten (obzwar nur zum Schein und als taktische Geste beziehungsweise Hinterlist, aber das ändert nichts am faktischen Sinn: den mal ganz ungeschminkt und unverkleidet betrachtet).

      Es geht mir hier an dieser Stelle nicht um eine Genderfrage, sondern um das Wiedererlangen einer Identität (und zwar gleich welchen Inhalts). Deren gestisches Aufgeben sehe ich als springenden Punkt. Das hat – selbst wenn es so klar nicht intendiert gewesen sein mag (zumindest nicht bei Nacherzähler und Ausschmücker Snorri S., von dem wir die Geschichte haben) – initiatorische Qualitäten. Dass die in dem Fall über ein Attribut wie „Männlichkeit“ transportiert werden, halte ich für einen eher unbewussten Erzähl-Kniff zugunsten damals größtmöglicher Verständlichkeit. Unser heutiges Stirnrunzeln oder Augenverdrehen über Gründe und Auswirkungen sozialer Spurrillen, Unwuchten und Klischees wären zu den Entstehungszeiten des Schwanks – oder gar jener (uns unbekannten) Geschichten, die ihm vorausgingen, um in ihm zu münden – nicht ahnbar gewesen. Im Klartext: Ich bezweifle, dass vor siebenhundert oder noch mehr Jahren am Rollenverständnis der Geschlechter so gezweifelt werden konnte wie heute gezweifelt werden muss: Dieser Zweifel ist eine neuzeitliche, überaus junge Errungenschaft. Auch wenn es hier wie da zum Verzweifeln sein mag… und sich darüber hinaus die hochmittelalterlichen Geschlechterrollen von altgermanischen unterschieden haben mögen. Das aber lässt sich schwerlich anhand der Thrymskviða thematisieren, da der Schwank keine Spur davon enthält.

      Plattes Moralisieren jedenfalls verengte unsere Sicht (nicht nur auf Runen) derart, dass ich es nirgends empfehlen kann, sondern dringend davon abrate. Wenn wir das Chaos für schlecht oder böse halten, nähern wir uns ihm anders, als wenn wir seine Eigenschaften unter zunächst ausschließlich dem Gesichtspunkt betrachten, wie sie sich wo auswirken und welche Folgen sie unter welchen Umständen haben. Eine solche Kühlheit der Betrachtung hat etwas Künstliches, sie gestattet uns jedoch einen