Reiseziel Utopia. Victor Boden

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Название Reiseziel Utopia
Автор произведения Victor Boden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783964260208



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Amt des Verkünders war wahrlich kein schweres, dennoch sollte es mit Sorgfalt und Respekt ausgeübt werden – wenn nicht schon vor der Tradition oder dem Amt an sich, so doch wenigstens vor den Scheidenden, die die Wanderung zum Feld der Bäume stets sehr ernst nahmen. Es war ihr letzter Gang zum Ersten Baum und der letzte Kontakt mit ihrer Tradition für den Rest ihres Lebens.

      Auch dem Verkünder selbst wurde in der Kolonie durchaus Achtung und Respekt für seine Aufgabe entgegengebracht, allerdings war es kein Amt, das mit besonderen Vergünstigungen oder gar einer Bezahlung versehen war.

      Die Kolonie war in sich abgeschlossen, so dass es keinem Bewohner zum Vorteil gereicht hätte, mehr an Reichtum oder Gütern zu erwerben als andere.

      Dennoch war manch ein Traditionsamt mit einem höheren Maß an Anerkennung und materieller Gegenleistung verbunden und so für die jungen Leute erstrebenswerter.

      Auch die Ehre an sich, das Amt über Jahrzehnte auszuüben, barg für die Jugend keinen Reiz, sondern stellte eher eine lästige Verpflichtung dar. Selbst wenn keiner der neuen Generation es jemals zu handwerklicher Meisterschaft bringen und somit irgendwann vielleicht zu den Scheidenden gehören sollte.

      Cebou war sich im Klaren darüber, dass der Sohn des Schmieds lieber so lange wie möglich bei seinem Vater bleiben und es zu solcher Meisterschaft bringen wollte, um die Kolonie eines Tages zu verlassen.

      »Da ist es endlich!«

      Der Ausruf des jungen Cilander riss Cebou aus den Gedanken. Der alte Mann und die drei Jünglinge hatten die Hügelkuppe

      gerade überschritten und wanderten den Weg zum Feld hinab, wo Cebou die wartende Gruppe der Scheidenden erblickte.

      Cilander war ein sehr begabter Holzschnitzer und Zimmermann. Er hatte gute Chancen eines Tages nicht nur zu den Scheidenden zu gehören, sondern darüber hinaus sogar auf einem unter seiner Leitung gebauten Schiff die Kolonie zu verlassen. Cebou schätzte ihn jedoch anders ein. Er kannte Cilander schon seit seiner Geburt, denn der alte Mann wohnte neben dessen Familie und hatte den jungen Mann aufwachsen sehen.

      Bei allem handwerklichen Können, das ihn zu einem Scheidenden machen könnte, war Cilander ein recht ruhiger und bescheidener Bursche und anders als viele andere seines Alters eher traditionsbewusst.

      Er schien Cebou am ehesten geeignet für das Amt des Verkünders.

      Weniger geeignet hielt er den dritten Jüngling, Cilou, den zweiten Sohn seiner Cousine Cedrice, den Cebou als gewissenhaften und zuverlässigen, aber ebenso wenig traditionsbewussten jungen Mann kannte.

      Cebous Meinung in der Sache seiner Nachfolge war jedoch sowieso zweitrangig. Die Ratsmitglieder der Kolonie würden zwar seine Einschätzung zur Kenntnis nehmen, die Wahl würden sie allerdings ohne den Verkünder treffen.

      Cilou war der einzige der drei Jünglinge, der bis zur Ankunft am Feld der Bäume schwieg. Als Cebou und die jungen Kerle schließlich die Gruppe der Scheidenden erreicht hatten, trat der älteste der Männer und Frauen vor den Alten, senkte den Kopf und sprach die traditionellen Worte:

      »Geleite uns zum Ersten Baum und berichte, Verkünder!«

      Mehr war nicht nötig, der weitere Ablauf war allen Anwesenden bekannt und so schritt Cebou an der Spitze der Gruppe voran auf das Feld der Bäume. Die drei Jünglinge mischten sich dabei unter die Scheidenden.

      Das Feld der Bäume erstreckte sich vor den Kolonisten leicht ansteigend bis zu einer Hügelkette am Horizont, in westlicher

      Richtung war es gesäumt von einer Klippenlinie und dem dahinter liegenden Meer, zur östlichen Seite hin endete das Feld an einem Waldesrand.

      Den Weg, den Cebou einschlug, wählte er willkürlich, aber mit festem Ziel. Es gab keine festgelegten Pfade oder gar befestigte Wege. Die wenigen Tiere, die gelegentlich aus dem Wald über das Feld liefen, taten das zu selten, um Trampelpfade zu hinterlassen, und die Kolonisten suchten es nie auf; abgesehen vom Verkünder und den Scheidenden jedes Jahr.

      Das Feld der Bäume war durch das raue Meeresklima kärglich bewachsen und, nachdem es die Kolonisten seit Jahrzehnten nicht mehr nutzten, lediglich mit Moosen, Flechten und spärlich mit Gras bedeckt. Pflanzen, die – so hatte es für Cebou den Anschein – sich auch gar nicht die Mühe machen wollten weiter zu gedeihen und schon gar nicht das zu überwuchern, was dem Feld den Namen gab.

      Cebou führte die Kolonisten in gewundenem Wege über das Feld und begann mit seiner Erzählung, die er schon so oft vorgetragen hatte. Jedes Jahr hatte er die Abfolge und Wortwahl variiert, nur der Inhalt war stets derselbe gewesen:

      »Ein Feld voller Bäume war dies alles hier einst, als unsere Vorfahren vertrieben worden waren aus ihrer Heimat.

      Was ihr nunmehr seht und was uns einen gewundenen Weg einschlagen lässt zum Ersten Baum, das sind die Ursprungsreste unserer Kolonie.«

      Der alte Mann breitete dabei seine Arme aus und die Menschen hielten inne mit der Wanderung, um das Feld zu betrachten. Ein Feld mit riesigen Ausmaßen. Ein Feld voller Baumstümpfe.

      Cebou setzte Bericht und Weg fort und die anderen folgten ihm zwischen den Stümpfen hindurch.

      »Unsere Vorfahren wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Warum das geschah, ist nicht überliefert. Doch überliefert ist, dass die Vorfahren begabte Menschen waren, so talentiert, dass ihre Fähigkeiten und Verdienste wohl Neid und Missgunst ihrer Mitmenschen schürten. Wir wissen es nicht und was immer die Gründe gewesen sein

      mögen, die zur Vertreibung geführt haben, es ist überliefert, dass diese Menschen ein Schiff bauen durften, sie und ihre bescheidene Habe zu fassen. Es heißt, sie wurden alle von der ersten Erde fortgeschickt, weil alles so übervölkert und unübersichtlich und überfüllt war auf der einen Welt. Nach beschwerlicher Reise, bevor sie an hiesigen Gestaden anlanden konnten, wurde das metallene Schiff von einem fürchterlichen Sonnensturm erfasst. Wie durch ein Wunder starb kein einziger, das Metallschiff wurde jedoch zerstört und das Meiste, was unsere Vorfahren mitgenommen hatten, sank mit den Überresten des Schiffes auf den Grund des Meeres.«

      Erneut hielt Cebou in der Erzählung inne. Ein gutes Stück des Weges hatten der Verkünder und seine Begleiter noch vor sich bis zum Ersten Baum und Cebou blieb ab und an stehen und sah sich um, um sich zwischen den schier unzähligen Baumstümpfen zu orientieren.

      Schließlich setzte die Gruppe ihren Weg fort und Cebou erzählte weiter:

      »Aber diese Menschen waren froh, allesamt gerettet zu sein, und besaßen Mut und Hoffnung genug, mit dem Wenigen, das ihnen geblieben war, einen Neuanfang zu wagen. Zudem waren sie in der glücklichen Lage, hier alles vorzufinden, was sie brauchten, um nicht nur eine sichere Behausung, sondern gar ein neues Leben zu schaffen.«

      So wanderten Cebou, die Scheidenden und die drei Jünglinge über das Feld der Bäume, der Alte erzählte von den Anfängen und dem Aufbau der Kolonie, der Entdeckung der riesigen Wälder und wie die begabten Handwerker neue Häuser errichteten, was sie sonst noch alles aus dem wenigen an Raumschiffsmetall fertigten, wie sie Fischfang betrieben, Äcker anlegten, wilde Tiere fingen und zähmten und dergleichen mehr.

      Immer wieder hielten sie inne und Cebou blickte sich um und setzte stets im Gehen die Erzählung fort.

      Die Wanderung zum Feld der Bäume selbst setzte Cebou von Jahr zu Jahr mehr zu, doch am meisten bei alledem strengten ihn doch der Weg zum Ersten Baum und das begleitende Erzählen an.

      So war der alte Mann froh, bald sein Amt an einen Jüngeren abgeben zu können und auch die Verantwortung und Bürde loszuwerden, die ihn nunmehr schon seit Jahren plagten.

      »Schließlich bauten unsere Vorfahren ein hölzernes Schiff. Von Größe und Bauart ziemlich ähnlich dem Metallraumschiff, mit dem sie gekommen waren und das sie beinahe alle in den Tod gerissen hätte. Aber vielleicht gerade deswegen, um es als ein Zeichen des Neuanfangs und gleichzeitig der Stetigkeit, der Tradition zu formen, erbauten sie es dem gesunkenen Schiff so ähnlich. Allen Menschen an den neuen Gestaden ging es gut, keiner hatte Not zu leiden und es wollte auch niemand die neue Heimat verlassen. Das Schiff sollte