Reiseziel Utopia. Victor Boden

Читать онлайн.
Название Reiseziel Utopia
Автор произведения Victor Boden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783964260208



Скачать книгу

Probleme.«

      »Oh«, sagte Kerr fasziniert. »Und warum lebt ihr so?«

      »Es gefällt uns schlichtweg besser. Technik ist schön und gut, aber im Großen und Ganzen gibt es in der Stadt einfach etwas zu viel davon. Wir finden es so angenehmer und der Stadtrat hat keine Probleme damit.«

      »Und die Nanocloud?«

      »Haben einige von uns nie kennen gelernt, andere haben sich von ihrer trennen lassen, als sie hierherkamen. Ganz unterschiedlich.«

      Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, hob Janier den Zeigefinger. »Jetzt bin ich an der Reihe, junge Dame. Warum bist du ganz alleine in einem Taxipod hierhergekommen?«

      Kerr ließ sich tief in die Polster zurücksinken. Der Geruch von Kunstleder überschwemmte sie. Und was war das, was ihr in der Nase kitzelte? Staub? Wie ungewöhnlich für das Innere einer Wohnung. Sie bemerkte, wie ihre Gedanken abschweiften, und zwang sie zum Gespräch mit Janier zurück.

      »Ich ... ich möchte bei euch leben. Ohne Nanocloud.«

      Janier hob überrascht eine Augenbraue. »Du hast erst die Bloxx, warum weißt du, dass du gar nicht erst die Cloud willst?«

      »Ich weiß es einfach«, antwortete sie trotzig.

      »Ich verstehe.«

      Für einen Moment starrten beide in ihre Tassen.

      »Weißt du«, sagte Janier dann. »Wenn du später keine Nanocloud willst, lässt du dich einfach mit keiner koppeln. Aber es ist ziemlich schwierig, die Behörden zu überzeugen, dass du die Bloxx abstoßen möchtest.«

      »Habt ihr sie euch denn nicht selber entfernt?«, fragte Kerr kleinlaut.

      »Selber? Du meinst uns gegenseitig hier in Basic? Aber nein, warum sollten wir? Wir gehen zu den entsprechenden Zentren in der Stadt für sowas, wie alle anderen auch. Die machen das umsonst und wissen, wovon sie reden.«

      Kerr sackte in sich zusammen und krallte die Hände ins Fell ihres Löwen. »Das heißt, ich kann nicht hier leben?«

      Janier stand auf und ging um den Stubentisch herum zum Sofa hin. »Nicht ohne Einwilligung deiner Eltern. Das verstehst du doch sicher? Wissen sie denn, dass du hier bist?«

      Kerr presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab und Tränen füllten ihre Augen. Sie sprang auf die Beine und rannte zur Tür.

      Das sollte alles viel einfacher sein!

      »Kerr!«, rief Janier und lief ihr hinterher.

      Doch sie wollte nicht mehr mit ihm reden. Sie wollte raus aus dieser stickigen Wohnung mit all dem Staub und weg aus Basic, wo man sie offenbar auch nicht haben wollte. Hinter ihr polterte es und sie hörte Janier fluchen.

      Sie packte ihren Rucksack und eilte die Treppe hinab. Auf der Straße rannte sie ziellos in eine Richtung, nahm Gassen, überquerte Plätze und glaubte fest daran, irgendwann wieder in der Stadt ankommen zu müssen.

      Sie lief und lief, bis sie schwer keuchte und ihre Beine sie nicht mehr tragen mochten. Sie befand sich an einer Kreuzung einiger schmaler Straßen, wo es nur spärliche Beleuchtung gab.

      Kerr setzte sich schluchzend an die Straßenecke und presste ihren Rucksack an ihre Brust.

      Alles war umsonst gewesen. Niemand hier würde ihr helfen und dieser Janier wollte sie nur zurückbringen zu ihrer Mutter. Dabei würde sie ihr damit nur noch mehr Kummer bereiten.

      Um den mächtigen Kloß in ihrem Hals runterzuspülen öffnete Kerr ihren Rucksack. Als sie nach ihrer Wasserflasche tastete, spürte sie auf einmal etwas Ungewöhnliches. Sie zog es heraus und hielt das Nanoboard ihrer Mutter in den Fingern. Kerr schlug die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Wie war das hierher gekommen? Der Löwe mauzte leise und rieb seinen Kopf an ihren Beinen.

      »Oh du«, keuchte Kerr und drehte das Board vor ihrem Gesicht.

      Der Haarreif war von filigranen silbernen Fäden umwickelt und mit blauen Perlen versehen. Das Schnittstellenplättchen glänzte perlmuttfarben, als sie es im spärlichen Licht drehte. Ohne zu überlegen, setzte sie es auf und spürte sofort ein leises Kribbeln an ihrer Schläfe, als sich der Reif automatisch an ihre Kopfform anpasste. Danach spürte sie es schon beinahe nicht mehr. Ihre Mutter zog das Board nur aus, wenn sie sich schlafen legte, da sie Angst hatte, es zu beschädigen. Was würde sie sagen, wenn sie am Morgen erwachte und es war weg? Wie würde sie ihren Tag bestreiten, ohne die Möglichkeit, ihre Nanobots zu kontrollieren?

      Verzweiflung überkam Kerr und sie presste das Gesicht in den Stoff des Rucksackes.

      »Du dummes Tier du.«

      Der Plüschlöwe fauchte auf und Kerr zuckte zusammen. Er mochte einfache Sprache verstehen, hatte jedoch noch nie aggressiv reagiert, wenn sie ihn rügte. Ruckartig blickte sie auf. Hörte sie Schritte? Überall tanzten die Schatten der großen Stadt, aber sie konnte nichts in ihrer unmittelbaren Nähe erkennen.

      »Janier?«, fragte sie zaghaft.

      Anstelle von einer Antwort erklangen ein tiefes Knurren und ein Schaben auf dem Beton.

      Kerr sprang auf die Beine und presste sich gegen die Fassade hinter ihr, als könnte sie durch sie hindurchschlüpfen.

      Das war nicht Janier. Es waren keine Menschen. Als ein Paar runde Augen im Dunkel aufleuchteten, rannte Kerr los.

      Hinter sich hörte sie nun deutlich das schnelle Kratzen von Krallen auf dem Boden und ein Hecheln. Ihr Herz raste so schnell, dass ihre Füße nicht mitkamen. Sie strauchelte, fing sich und lief weiter. Nun erklang ganz deutlich ein Bellen, schnell gesellten sich zwei weitere hinzu.

      Die Hunde waren ganz nah.

      Kerr rannte einfach weiter die Straße entlang. Bis diese aufhörte. Ihr entfuhr ein Schrei, als sich auf einmal eine Mauer vor ihr auftat.

      »Nein!«

      Sie warf einen Blick hinter sich. Drei Wildhunde waren dicht hinter ihr stehen geblieben, bellten und sabberten. Da sprang etwas an ihr vorbei in Richtung der Bestien. Der kleine Plüschlöwe wurde im Flug von einem der Hunde gepackt und so lange hin und her geschüttelt, bis der Körper erschlaffte und an die nächste Wand geworfen wurde. Die Hunde entblößten ihre Zähne und traten näher, bis ihre Tatzen einen breiten Streifen Licht betraten, den eine Lampe auf den Grund warf.

      Kerr sank an Ort und Stelle zu Boden und schloss die Augen, um nicht sehen zu müssen, was auf sie zukam. Helle Punkte blitzten vor ihren Lidern auf, so fest presste sie sie zusammen. Wie tanzende Lichter.

      Wie unter dem VR-Helm.

      Das Kribbeln in ihren Schläfen wurde stärker und auf einmal war sich Kerr ihrer NanoBloxx bewusster als jemals zuvor. Sie riss die Lider auf und fixierte die Lichtfläche vor ihr. Vor ihrem inneren Auge entstand eine Bühne. Darauf tummelten inexistente Partikel, stapelten sich aufeinander und begannen, sich zu einem Gebilde aufzutürmen. Kerr hielt den Atem an und starrte wie gebannt auf das Bild, von dem sie wusste, dass es nur in ihrem Kopf existierte. Sie konzentrierte sich auf die Einzelteile, rief die

      Routinen ab, die sie längst verinnerlicht hatte und gab der Gestalt eine Form.

      Da erwachten die Partikel zum Leben.

      Kerr schrak zurück, als ein lautes Brüllen erklang. Neben ihr thronte der undeutliche Schemen eines grau schimmernden Löwen, mehr als doppelt so groß wie die Hunde, die Vorderpfoten angriffslustig in den Boden gestemmt. Ein weiteres Mal riss das Konstrukt den Rachen auf und brüllte. Die Wildhunde vor ihm legten die Ohren an und jagten winselnd in die andere Richtung davon.

      Kerr starrte mit offenstehendem Mund auf die Kreatur. In dem Moment fielen die NanoBloxx ineinander zusammen und sammelten sich wieder über ihrer Schulter. Der Löwe war verschwunden.

      Ein verstörtes Lachen drang über Kerrs Lippen, gleichzeitig mit einer Welle der Erleichterung.

      Als sich ein neuer Schatten über sie legte,