Sjoerd Gaastra 1921-2013. Detlef Gaastra

Читать онлайн.
Название Sjoerd Gaastra 1921-2013
Автор произведения Detlef Gaastra
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783960083177



Скачать книгу

immer mit dem „Völkischen Beobachter“ in der Anzugtasche herum gelaufen ist. Dieser Lehrling, höheres Lehrjahr, konnte es nicht abwarten zu den Waffen gerufen zu werden um an der Vergrößerung des Reiches mitzuwirken. Er versuchte meinen Vater immer vom nahen Sieg zu überzeugen. Der hörte sich das auch an und dachte sich seinen Teil. Es gehörte zur Strategie des Überlebens viel zu wissen um vorbereitet zu sein, aber nicht alles von dem Wissen preis zu geben.

       Das erste gemeinsame Foto

      Besagter Lehrling führte später eine Buchhandlung und wurde Präsident eines Bundesligaclubs. Mein Vater kaufte alle seine Bücher bei ihm und frage jedes Mal vertraulich nach dem Stand des Endsieges und den geheimen Wunderwaffen, über die er seinerzeit angeblich genau Bescheid wusste. Mein Vater schenkte mir 1968 zum Geburtstag das „dtv-Taschenbuchlexikon“ in 20 Bänden, von dem aber erst fünf Bände erschienen waren. 15 Monate lang bin ich in diese Buchhandlung gegangen um den neuesten Band abzuholen und kam dadurch dem Buchhändler in näheren Kontakt. Ich glaube beim 18. Band klagte er mir sein Leid mit meinem Vater und bat mich: „Können Sie Ihren Vater nicht mal bitten, mich damit endlich zufrieden zu lassen, ich habe mein Opfer im Krieg gebracht. Ich schäme mich jetzt meiner Dummheit, aber Ihr Vater hat auch nie durchblicken lassen, dass er über besser Informationsquellen verfügte als ich mit Stürmer und Völkischem Beobachter.“ Auf meine Frage, was das denn geändert hätte antwortete er flüstern: „Dann wäre er nicht ihr Vater geworden.“ Ich kann nicht sagen, dass mein Vater nachtragend gewesen wäre, aber er vergaß auch nichts, ob negativ oder positiv.

      Die Sache mit Fräulein Tiemann war inzwischen soweit fortgeschritten, dass eine Familiengründung beschlossen wurde, also 1943 (mein Vater hatte seine Lehre abgeschlossen und war in der aus zwei Personen bestehenden Exportabteilung fest angestellt) gab es eine ordentliche Verlobung. In Ermangelung von Gold und Geld, – aber ohne Verlobungsringe wäre es ja keine ordentliche Verlobung gewesen – hat der Schwiegersohn in spé seinem Schwiegervater für einige Zigarren dessen Ehering abgekauft. Meine Großmutter hatte ihren Ehering in dem Hungerwinter des 1. Weltkrieges beim Suchen von Bucheckern verloren. Ihr Ehemann durfte als Dreher bei den Ankerwerken seinen Ring nicht bei der Arbeit tragen, der wurde darum auch nicht mehr getragen sondern verschwand in der Kassette. Dieser ursprünglich schlichte breite Ring wurde aus Kostengründen einfach durchgesägt, an den Schnittstellen etwas abgerundet und für die Braut enger gemacht. Die Verlobungsringe waren somit eine Neuanfertigung aus Altgold. Die Ringe spielen bei der Hochzeit noch eine Rolle, aber dazu später. Wegen der engen Verbindung zur Familie Delius, sowohl von Seiten meines Vaters, wie auch meiner Mutter war es selbstverständlich, dass die Firma für eine Wohnung sorgen würde. Die gab es in der Güsenstraße, in einem Haus, welches auch zum Firmenkomplex gehörte. Eine drei Zimmerwohnung wurde vollständig eingerichtet. Die Möbel wurden vom Ersparten meiner Mutter und ihrer Mitgift gekauft, die Aussteuer in den Schränken untergebracht und mein Vater zog dort ein und war polizeilich als Bewohner angemeldet und froh dem elterlichen Haus entkommen zu sein.

      Bei der Familie Gaastra in der Senne hatte sich die Situation dramatisch verschlechtert. Meine Großmutter litt zunehmend unter Malariaschüben, das Mitbringsel aus Indonesien und war nicht mehr in der Lage, ihren inzwischen aus acht Personen bestehenden Haushalt zu führen. Das hatte sie aber auch nie gelernt, mit 22 Jahren hatte sie geheiratet und war mit ihrem Erstgeborenem nach Indonesien ausgewandert. Dort stand jede Menge Personal zur Verfügung und Geldsorgen waren ihr schon vom elterlichen Haus her unbekannt. Mein Großvater war desillusioniert und hatte sich, auch gesundheitlich angeschlagen, aufgegeben. Die Bewohner der Siedlung duldeten die asoziale Familie nicht mehr und sorgen dafür, dass Familie Gaastra in einen abseits gelegenen Kotten mit dem Namen „Kuckuck“ umgesiedelt wurde. Sogenannte „Braune Schwestern“ kümmerten sich um die Familie. Der Älteste, ausgesprochen penibel und reinlich, war froh, dieses Elend hinter sich lassen zu können. Trotzdem versuchte er das Möglichste zur Unterstützung der Familie beizutragen.

      Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, der Kotten mit dem Namen „Kuckuck“, ohne sanitäre Anlagen. Wasser musste aus einem Brunnen geschöpft werden. Noch nie war ein Familienzweig so tief gesunken, schon gar kein Familienoberhaupt. Für meinen peniblen Vater war das eine Horrorzeit. Der Kotten wurde 1962 wegen Baufälligkeit abgebrochen. Diese Behausung hätte mein Vater nur noch zum Ende seines Lebens mit dem Umzug in eine Gefängniszelle toppen können. Dazu wäre es aber nicht gekommen.

      Der Eheschließung stand also nichts mehr im Wege. Außer den Nürnberger Rassengesetzen, die zur Eheschließung den Ariernachweis verlangten. Rein visuell entsprachen die Brautleute den Anforderungen, blond und blauäugig. Aber das wurde bei deutscher Gründlichkeit schwarz auf weiß verlangt. Bei der Braut kein Problem, entstammte sie mütterlicherseits einem Lippischem Bauerngeschlecht und väterlicherseits eines Ravensberger Bauerngeschlechtes (den Meyer zu Olderdissen). Der Bräutigam hätte einen über Jahrhunderte reichenden lückenlosen Stammbaum vorlegen können, wenn der jemals in Bielefeld angekommen wäre. Zweimal ist er nachweislich auf dem Postwege durch Bombardierungen verloren gegangen. Aber die Erstellung der amtlichen Unterlagen dauerte jedes Mal unverhältnismäßig lange. Vermutlich sollte seitens der Familie in Friesland die „Kollaboration“ verhindert werden.

      Familienmitglieder waren im aktiven Widerstand, teilweise sogar führend, tätig. Eine 14tägige KdF-Ferienreise unternahmen die Brautleute 1943 nach Rupolding. Der Urlaub verregnete total und meinem Vater waren die Berge seitdem verhasst. Da es aber kriegsbedingt keine große Auswahl an Ferienzielen gab nahmen die Verlobten das Angebot zu einem weiteren Urlaub in Garmisch an. Der KdF-Reisezug startete in Hannover am 14. Juli 1944. Dort warteten die Reisenden stundenlang auf dem Bahnsteig darauf, dass der Zug bereitgestellt würde. Statt des Zuges kam dann die Durchsage man möge sich wieder auf die Heimreise begeben, da die Züge anderweitig benötigt würden. In Bielefeld angekommen suchte mein Vater dann dem Radio die entsprechenden Informationen zu entlocken. Es war D-Day gewesen, die Landung der Alliierten in der Normandie. Da war ihm klar dass die Endphase des Krieges begonnen hatte. Im Büro hing eine große Landkarte auf der die Angestellten mit Stecknadeln täglich den Frontverlauf markierten. Ab jetzt die taktischen Rückwärtsbewegungen Rommels und das Warten auf die neuen geheimen Wunderwaffen. Im Geiste glich mein Vater den Frontverlauf nach seinen Informationen ab und überlegte sich, nicht ohne Angst, wie der Endsieg wohl aussehen möge. Es waren auch ganz persönliche Ängste, was würde mit ihm als „Fremdarbeiter“ geschehen.

      Alles veränderte sich am 30. September 1944. Es war ein sehr warmer Sonnabend und mein Vater beschloss anlässlich des schönen Wetters nach Kracks zu fahren um die ehemaligen Nachbarn zu besuchen. Er überlegte sich, ob er mit dem Fahrrad oder der Eisenbahn fahren sollte und entschied sich wegen der Wärme für die Bahn. Er kleidete sich sehr sommerlich, eine kurze Hose, ein kurzärmeliges Sommerhemd und Sandalen, ohne Strümpfe. Als er auf dem Bahnsteig stand, um die Abfahrt des Zuges zu erwarten, wurde Fliegeralarm gegeben. Ein größerer Bomberverband näherte sich Bielefeld. Alle suchten schnell Sicherheit im Bahnhofsbunker. Nach wenigen Minuten wurde Entwarnung gegeben, die Flugzeuge hatten Kurs auf Osnabrück genommen. Die Alliierten hatten bereits die Lufthoheit über Deutschland gewonnen und seitens der Flugabwehr kaum noch Widerstand zu erwarten, so dass die Angriffe auch bei Tageslicht geflogen wurden. Nach zehn Minuten wurde noch einmal Alarm gegeben, die Bomber hatten Osnabrück nur überflogen um ihre todbringende Last über Bielefeld abzuwerfen. Erneut suchten alle Schutz im Bahnhofsbunker während sich die Stadt in ein Inferno verwandelte. Der Bahnhofsbunker erhielt mehrere Volltreffer, hielt aber stand. Im Inneren des Bunkers müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Die zusammen gedrängten Menschen wurden durcheinander gewirbelt und konnten sich nicht auf den Beinen halten. Eine Panik brach nicht aus, weil die Eingeschlossenen wussten, dass es keinen Ausweg aus der Situation gab. Nach der Entwarnung dauerte es noch eine längere Zeit bis die Bunkertüren geöffnet werden konnten. Alle waren nur froh darüber noch am Leben zu sein. Die vor ihnen liegende brennende Stadt wurde in den Ausmaßen kaum wahrgenommen. Da die Innenstadt nicht mehr zugänglich war, machte sich mein