Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015. Группа авторов

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Название Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960080336



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Was wollte er nur im kapitalistischen Ausland, wo doch sein Zuhause hier, bei ihr, war.

       Die Westreise

      Die Mutter reiste zu ihrem Sohn. Sie war wie im Fieber. Die fremde neue Welt beunruhigte sie. Es ist etwas anderes, dieser, nur aus dem Fernsehen bekannten, in Wirklichkeit zu begegnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie dem Taxifahrer die Adresse ihres Sohnes nannte. „Sie kommen wohl von drüben? Es ist ziemlich weit“, sagte er freundlich. Er hatte Erfahrung mit den Leuten von drüben, die ahnungslos in sein Taxi stiegen und am Ziel nicht den vollen Fahrpreis bezahlen konnten. Während der Fahrt erfuhr er die Geschichte von Frau Grau und beschloss, sie umsonst mitzunehmen. Gegebenenfalls konnte er den Fahrpreis vom Sohn noch einfordern.

      Frau Grau musste lange läuten, der Fahrer lehnte mit verschränkten Armen am Taxi und sagte: „Zeit ist Geld. Ich fahre Sie wieder zurück“, da öffnete sich in der vierten Etage des Hauses ein Fenster. Eine Frauenstimme rief etwas. Nach einer Weile erschien die junge Frau in der Tür und begrüßte Frau Grau. Über deren Äußeres aber erschrak Frau Grau bis ins Mark. Oh Gott, eine Nutte, ich bin hier falsch, dachte sie. Die junge Frau lachte eigenartig, als hätte sie die Gedanken der Mutter erraten. „Ihr Sohn hat sich schon aufs Ohr gelegt. Wir arbeiten nämlich nachts.“

      Sie ging zum Fahrer und flüsterte etwas, was die verwirrte Frau Grau nicht verstand. Darauf kam er, trug das kleine Gepäck in die vierte Etage, drückte der Mutter beinah heimlich seine Visitenkarte in die Hand und murmelte: „Falls Sie mich brauchen.“

      Die junge Frau brachte ihm ein paar Geldscheine, rief dann frech in die Wohnung: „Karl, steh auf, dein Muttchen aus dem Osten ist da“, stellte die Reisetasche mitten in den Flur, half Frau Grau aus dem Mantel, legte ihren Hut auf die Ablage, die so hoch angebracht war, dass sie ihn ohne Hilfe niemals würde herunternehmen können.

      Frau Grau ging auf die Toilette, sah ihr blasses Gesicht im Spiegel, fremd in der Überfülle von rosa Toilettenartikeln und Nippes. Die starken Düfte und Gerüche machten sie benommen. Sie hörte die laute Stimme der anderen Frau, die immer wieder diesen idiotischen Satz wiederholte: „Steh auf, dein Muttchen aus dem Osten ist gekommen“, und schließlich die Stimme ihres Sohnes, der sich, aus tiefem Schlaf gerissen, nicht zurechtzufinden schien.

       Der Sohn

      Sie verließ schnell das Bad und fiel im Flur fast über die Reisetasche in seine Arme. Wie klein sie doch war. Der Sohn hob sie hoch. Wie stark er war, fand sie. Ein Gebirge aus Muskeln und Fleisch. So hatte sie ihn nicht in Erinnerung. Er trug sie einfach in die Küche und setzte sie behutsam ab. „Mein Muttchen“, dröhnte er heiser und sie ärgerte sich über die ungewohnte Anrede. „Jetzt trinken wir erst einmal Kaffee und du“, er wandte sich an seine Gefährtin, „verdrückst dich und schminkst dir endlich deine Visage ab, meine Mama denkt ja sonst was!“ Die junge Frau warf ihm einen Blick zu, den niemand hätte deuten können, weil ihre Augen bis zu den Brauen dunkel geschminkt waren. Doch sie ging gehorsam ins Bad.

      Nun war die Mutter mit dem Sohn allein in der Küche, die er groß und mächtig wie ein Koloss ausfüllte. „Ist das deine Frau?“ Ihre Stimme war so leise und piepsig, dass er ihre Frage überhörte, wohl auch, weil er zur gleichen Zeit redete: „Wie geht es dir? Wie war die Fahrt?“

      „Ach, es geht“, konnte sie nur flüstern und musste ihn weiter anstarren. War das wirklich ihr Sohn?

      „Ich mache Bodybuilding, sieh mal.“ Er entblößte seinen Arm bis zur Schulter. Unter der Haut bewegten sich die Muskeln wie Tiere.

      „Wozu machst du das?“, fragte sie und schaute entsetzt auf seinen Arm.

      „Ich arbeite bei der Security, das schreckt mehr ab als alle Worte“, antwortete er stolz.

      „Was heißt ßäkjuriti?“ Frau Grau kannte das Wort nicht.

      „Ich sorge dafür, dass sich die Gäste in unserer Location sicher fühlen.“

      Er sprach das Wort englisch aus und Frau Grau fragte ahnungsvoll weiter: „Welche lokäschen? Bist du etwa Türsteher, Rausschmeißer? Ist das dein Beruf?“

      „Ja, Mama, das ist mein Beruf, und ich verdiene nicht schlecht damit.“ Er stand auf, schüttete sich eine Menge Pulver in ein Glas, verrührte es mit Milch und trank. „Das ist Eiweißpulver für meine Muskeln.“

      Die junge Frau schob sich wieder in die Küche. Ihr Gesicht glänzte fettig, wirkte müde und ein wenig derb, aber nicht unsympathisch. Ich würde sie auf der Straße nicht wiedererkennen, dachte Frau Grau, ein Allerweltsgesicht. Die junge Frau schenkte Kaffee ein. Sie fragte nicht, ob die Mutter frühstücken wolle, sondern forderte alle auf, ins Wohnzimmer zu gehen und dort zur Begrüßung Sekt zu trinken. „Wir haben hier alles, nur keinen Platz“, meinte sie, als sie in der beklemmend engen Stube standen, in der schwarze Polstermöbel, eine dunkle Schrankwand und ein klobiger Couchtisch waren. Auf dem Sofa vor dem Fenster lagen ein paar Wäschestapel, sonst sah es aufgeräumt aus, wenn nicht der übervolle Aschenbecher auf dem Tisch gewesen wäre. Die Mutter glaubte, ersticken zu müssen. Während der Sekt eingegossen wurde, versuchte sie das Fenster hinter dem Sofa zu öffnen, kam aber mit dem Verriegelungsmechanismus nicht zurecht. Sie kniete hilflos zwischen den umstürzenden Wäschebergen, hielt mit beiden Händen den Fensterflügel fest, der sich aus den Scharnieren gelöst hatte, und musste es sich gefallen lassen, dass die junge Frau wieder und wieder sagte: „Unser Muttchen aus dem Osten, herrjemine …“

      Sie tranken den Sekt und wurden nicht warm dabei. Frau Grau fühlte sich übernächtigt und stellte keine Fragen. „Wir müssen uns ein wenig ausruhen“, sagte der Sohn zur Mutter. „Mach es dir hier gemütlich.“ Seine Freundin (die Mutter wusste noch immer nicht, ob die beiden ein Ehe- oder ein Liebespaar waren) räumte die Wäschestapel weg, trug die Gläser hinaus, brachte ein paar Handtücher und die Reisetasche und sah dabei Frau Grau nicht ein einziges Mal an. Dann schloss sie mit Nachdruck die Tür. Frau Grau hörte sie in die Hände klatschen und „So“ sagen, als hätte sie eben eine unangenehme Pflicht erledigt. Danach wurde es still.

       Verwirrung und böses Erwachen

      Obwohl es kühl war und die Couchdecke nach Zigarettenrauch roch, legte sich Frau Grau auf das Sofa und dachte an ihren lieben Friedrich. Dabei erholte sich ihr beklommenes Herz und sie fiel in einen tiefen erquickenden Schlaf, aus dem sie erst nach Stunden erwachte. In der Wohnung rumorte es, sie hörte Türen klappen, etwas wurde über den Flur geschleift und herausgetragen, die Toilettenspülung rauschte, in der Küche gab die Kaffeemaschine Geräusche von sich, als würde sich jemand übergeben, dann spielte viel zu laut Radiomusik. Als Frau Grau aus dem Zimmer trat, sagte die Stimme des Ansagers gerade: „An allen strategisch wichtigen Orten steht Militär bereit. Heute wird scharf geschossen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben.“

      „Ganz schön was los bei euch im Osten“, schrie die junge Frau und stellte das Radio leiser.

      Wieder tranken sie nur starken Kaffee. Frau Grau verspürte Heißhunger und dachte daran, die Reste ihres Reiseproviants heimlich zu essen.

      „Karl führt uns jetzt aus.“ Die Freundin schien hier den Ton anzugeben. Beide, der Sohn und sie, waren auffällig gekleidet, rochen stark nach Parfum, und Frau Grau fühlte sich überhaupt nicht wohl in ihrer Gesellschaft. Auch das große, tiefergelegte Auto missfiel ihr. Während der Fahrt hörten sie Radio und Frau Grau wäre jetzt viel lieber bei ihrem Friedrich zu Hause gewesen als bei ihrem Sohn, der ihr so fremd geworden war.

      Sie hielten vor einem Hotel an. Der Glanz der fremden Umgebung war überwältigend, das Essen ungewohnt delikat, die Getränke süffig und berauschend, selbst die Seife auf der Toilette, die dezente Musik, die sich mit den Wohlgerüchen verband, betörten sie und lähmten ihre Urteilskraft. Sie tranken, der Sohn schenkte wieder und wieder ein, sie prosteten sich zu: „Ja, das Leben im Kapitalismus ist schön, wenn man Geld hat“, rief er.

      „Frau Grau, du solltest Frau Rosa heißen.“ Die Freundin kicherte laut über ihren Witz, doch der Sohn sah seine Mutter besorgt an und griff nach ihrem Puls.

      „Du hast ihr doch nicht