Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015. Группа авторов

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Название Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960080336



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und reproduzieren lassen, ist deshalb für den postindustriellen Standort Leipzig von zentraler Bedeutung. Wenn es in Zukunft gelingt, mehr kreativwirtschaftlich stabile Modelle zu profilieren, die für andere Städte Modellcharakter haben, wäre dies ein essentielles Alleinstellungsmerkmal der Stadt und damit ein echter Standortfaktor. Leipzig ist zur Kultur bestimmt.

      Dass solche Experimente auch fehlgehen, enden, scheitern können, lehrt die Geschichte. Umso wichtiger ist ihre historische Bedeutung in der Erinnerung. Und gerade hierfür braucht es eine Topografie der konkreten Versuche oder gar eine Archäologie konkreter Utopien, kurzum ein „Archiv der Ideen“. Für eine solche Leipziger „Archivierung“ wollen wir als Initiative Ost-Passage Theater mit dem Buch „Leipzig – Die utopische Kommune 1989 – 2015“ zum Stadtjubiläum der 1000-jährigen Ersterwähnung Leipzigs, im Rahmen des Kongresses Kultur|Standort. Bestimmung, einen Beitrag leisten.

       Auf Spurensuche – Leipziger Geschichten

      Auch die Initiative Ost-Passage Theater ist eine konkrete Utopie im Blochschen Sinne, da sie sich für eine Art des Theatermachens einsetzt, die an der Front der bürgerlichen Theateridee experimentiert. Die Initiative ist ein Zusammenschluss mehrerer Akteure aus der freien Theaterszene Leipzigs mit dem Ziel, die Energien sowohl der subkulturellen Bestrebungen als auch der soziokulturellen Bemühungen in einer neuen Form von „Nachbarschaftstheater“ zusammenzuführen und damit wieder näher an den selbstbewussten Ausdruck einer Leipziger Bürgerkultur heranzurücken. Wir behaupten: Leipzigs breite und vielfältige Kulturlandschaft entsteht zu einem großen Teil in den kleinen, oftmals unauffälligen Feldern der Soziokultur und der Subkultur. Dort wird unseres Erachtens der entscheidende Beitrag zur kulturellen Vielfalt der Stadt und zur kulturellen Bildung ihrer Bürgerinnen und Bürger geleistet.

      Um diese sozio- beziehungsweise subkulturellen Energien aufzuschließen, haben wir Anfang 2015 unter der Federführung des freien Theaterkollektivs gruppe tag, das mit der Initiative Ost-Passage Theater assoziiert ist, zusammen mit dem Kulturamt Leipzig, der Rosa Luxemburg Stiftung, der Initiative Leipzig+Kultur und weiteren Kooperationspartnern einen Autorenwettbewerb unter dem Titel „Leipzig – Die utopische Kommune“ gestartet. Uns interessierte, welches Neue aus dem „Noch-nicht-Gewordenen“ von den Leipziger/​-innen in der Folge von 1989 bis heute antizipiert wurde und an welchen Orten es sich als konkret Mögliches kristallisierte. Welche Menschen besuchten diese Orte, was inspirierte und bewegte sie? Welche Konflikte und Kämpfe mussten bestritten werden? Was ging verloren, was wurde gewonnen? Welche Geschichten haben sich letztlich wirklich zugetragen und welche lassen sich in diesem Kontext entspinnen?

      Aus den eingesandten Kurzgeschichten ist in diesem Band eine Auswahl von zehn Texten versammelt. Sie stehen in ihrer stilistischen und inhaltlichen Breite exemplarisch für die Vielschichtigkeit Leipzigs und ihrer Bewohner/​-innen. Eine Geschichte konnte die Jury des Autorenwettbewerbs besonders überzeugen. Sie gewann nicht nur den Wettbewerb, sondern wurde in einer Bühnenfassung an unterschiedlichen Theatern der Stadt uraufgeführt. Die Kurzgeschichte „Ein kleines Blatt vom Baum der Geschichte“ von Frau Gisela Kohl-Eppelt bildet deshalb den Anfang dieser kleinen Anthologie, denn sie erzählt klug und nüchtern von der Wendezeit in Leipzig, ohne Klischees und ostalgische Verklärung und mit einem außergewöhnlichen Sinn für Details. Vom Leben in und nach der (Zeiten)Wende berichten auch die neun darauffolgenden Geschichten. Zusammengenommen bilden sie ein vielseitiges Prisma, in welchem sich die Zeitgeschichte vielgestaltig bricht und dabei den Blick auf Individuelles und Intimes freigibt. – Auf das Leben, die Liebe und die Hoffnung in Leipzig. Vielleicht nicht immer in stilistischer Brillanz, dafür aber mit einer Intensität, die ans Authentische heranreicht.

      Zuletzt: Vielleicht sind es ja eben die konkreten Utopien der Leipzigerinnen und Leipziger – ihr Festhalten am möglich Unmöglichen, ihr Beharren auf einer Perspektive nach vorn, ihr Insistieren darauf, dass da noch Hoffnung ist – die die reale Substanz des aktuellen Hypes um Leipzig ausmachen. Die Kurzgeschichte „Erstbesiedelung“ spielt darauf in ironischer Weise an und fragt zum Schluss: „In Abwandlung des Spruches ‚Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen‘ müssten wir heute sagen ‚Aus Fehlern lernen heißt siegen lernen‘. Aber wer lernt schon, Fehler als Fehler zu begreifen? Sieger gleich gar nicht.“

      Lasst uns in diesem Sinne den Blick darauf richten, was es dringend zu verändern und zu verbessern gilt. Halten wir fest an unseren konkreten Utopien.

       Matthias Sterba und Daniel Schade

       Initiative Ost-Passage Theater

       Leipzig, im Herbst 2015

       EIN KLEINES BLATT VOM BAUM DER GESCHICHTE

      Jeden Abend steht der kleine Herr Friedrich am verschlossenen Fenster und sieht auf den nicht enden wollenden Verkehr zwischen den renovierten Häusern und gut sanierten Straßen. Er spürt wie immer, wenn auch gedämpft, die Erschütterungen des Hauses und hört das dumpfe Brausen, das, würde er je ein Fenster öffnen, wie ein brüllendes Tier in seine Stube stürzte. Er bildet sich ein, die Stimme seiner Frau zu hören, wie sie Komm ins Bett! ruft. Aber Herr Friedrich ist allein und sieht sich als ein Baum ohne Blätter.

      1989 war das anders. Da erhob sich ein Zischeln und Raunen wie ein aufkommender Herbstwind beim Bäcker, beim Frisör, in den Wartezimmern von Ärzten, in der Straßenbahn. Die Worte, die Gesprächsfetzen hängten sich um seinen Mantel und blieben wie Laub auf ihm liegen.

       Die erste Begegnung

      Herr Friedrich war Musiker und klimperte sich als Klavierlehrer und Korrepetitor ehrgeizlos durchs Leben, wie er sagte. Das war untertrieben, denn seine Schüler glänzten auf Schulkonzerten und in Wettbewerben. Man munkelte, dass er für den Posten des Direktors der staatlichen Musikschule vorgemerkt sei. Herr Friedrich lebte schon lange allein. Seine Beziehungen hielten nicht. Er fand sie belastend und nach kurzer Zeit langweilig. Umso mehr schätzte er die Freundschaft. Die gab es mit seinen Schülern und deren Freunden, sodass sich im Lauf der Jahre ein beziehungsreiches Netzwerk entwickelte, das er wirkungsvoll verknüpfte.

      Da klopfte eines Tages die Liebe auch an seine Tür und stellte alles andere in den Schatten. Es war vor drei Jahren, 1987, er zog in eine größere Wohnung. Das Haus war sanierungsbedürftig. Doch es wurde einfach abgewohnt. Wenn es regnete, stellten die Mieter Wannen und Eimer auf die Treppen, denn dort lief der Regen in Strömen die Wände herunter. Frau Grau aus der zweiten Etage besaß offensichtlich nur kleine Schüsseln. Die leerte Herr Friedrich gerade in seinen Eimer, als sie ihre Wohnungstür öffnete. „Danke“, sagte sie mit leiser hoher Stimme und forderte ihn auf, einen Moment zu warten. Sie drehte sich anmutig in der Tür und schenkte ihm dann einen gelben Apfel. Kurz huschte ihre kleine Katze zur Tür hinaus und ebenso schnell wieder hinein. Frau Grau schloss ihre Wohnungstür und der kleine Herr Friedrich stand noch eine ganze Weile auf der Stufe, den Apfel in der einen, den Eimer in der anderen Hand, und lauschte. Er lauschte betört der Situation nach. Die Regentropfen knallten in die leeren Schüsseln. Und sein Herz pochte. Frau Grau sah so frisch und adrett aus. Ihr Name passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren.

       Die Allwissende

      Nein, klatschsüchtig war seine freundliche Nachbarin Frau Kluge nicht. Sie stand mitten im Leben, nahm Anteil, wusste Bescheid über alles und jeden und über die Mieter im Hause sowieso, da sie als Einzige ein Telefon besaß und es den Hausbewohnern gefällig zur Verfügung stellte. Zwei Straßenbahnhaltestellen weiter war ihre Arbeitsstelle, eine Betriebskantine für Straßenbahner. Frau Kluge kochte dort, so auch für die Straßenkehrer, schmierte Brote für Streifenpolizisten und Taxifahrer. Ihren Nachbarn, Herrn Friedrich, den sie sofort in ihr mütterliches Herz geschlossen hatte, lud sie öfter und gern ein, noch einen Happen in ihrer Kantine zu essen, und gelegentlich tat er das auch. Manchmal klingelte Frau Kluge ebenso bei ihm an der Wohnungstür, wenn sie noch Licht sah, und fragte, ohne eine Antwort abzuwarten: „Ist es recht?“, um sich dann sofort auf die braune Couch ins Wohnzimmer zu setzen, sich eine Zigarette anzuzünden und ihn aufzufordern, mit ihr doch noch einen kleinen Absacker – den sie