Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015. Группа авторов

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Название Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015
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Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960080336



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Begegnungen im Treppenhaus hätte erfahren können.

       Die Erinnerung

      Die ersten Wochen und Monate nach seinem Einzug kamen Lärm und Unruhe aus Frau Graus Wohnung, die direkt unter der seinen lag. Dann wurde es ruhiger. Nur an den Wochenenden dröhnte schwere Beat-Musik aus ihr. Die gehörte zu dem jungen Mann, der durch das Treppenhaus zu fliegen schien, wenn er Frau Grau besuchte. Dann brach die Musik abrupt ab, Türen knallten, der junge Mann polterte in wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Ein frischer Luftzug wehte durch die offen gelassene Haustür und trug den starken Geruch seines Duschgels mit sich.

      Eines Tages hörten die Besuche auf. Der kleine Herr Friedrich bemerkte es etwas spät und fragte nun seine Nachbarin nach dem Grund der wohltuenden Stille. Die Allwissende erzählte ihm bei einem ihrer nächtlichen Besuche: „Stellen Sie sich vor, der junge Mann, der Sohn von Frau Grau, ist rübergemacht, getürmt, obwohl es ihm doch hier gut ging. Zu gut“, setzte Frau Kluge noch nach. Und er solle mal darauf achten, wie sehr sich Frau Grau verändert habe. Sie würde jetzt ihrem Namen alle Ehre machen.

      Herr Friedrich lüftete, als sie weg war, sah auf die still gewordene Straße, bemerkte die frisch mit Kreide aufgetragenen Wegmarkierungen, die im eigentümlichen Kontrast zu den schadhaften Häusern und Wegen standen. Er empfand kein Mitleid für Frau Grau.

       Besuch von Frau Grau

      Doch dann stand sie eines Tages vor seiner Tür. Herr Friedrich erkannte sie gar nicht sogleich. Er bemühte sich zu verbergen, wie betroffen er über ihr verändertes Äußeres war! Sie war stark abgemagert. Noch im Gegenlicht erschrak er, wie verhärmt ihr Gesicht aussah. Er bat sie in seine Wohnung. Führte sie in die Küche, die immer ordentlich aussah, weil er nie kochte. Sie legte ein Geschenk auf den Tisch und fragte ohne Umschweife, ob er für ihr Kätzchen sorgen könne. Sie habe bemerkt, dass er jetzt viel zu Hause sei. Sie selbst sei ja nun ganz alleine, geschieden und ihren Sohn könne sie auch nicht fragen, der sei fort und sie müsse demnächst ins Krankenhaus. Er versprach, sich um alles zu kümmern. Er brühte Kaffee in zwei großen Bechern auf und bot Weinbrand an, den sie zunächst ablehnte. Sie sei zuckerkrank und das Herz wäre auch nicht in Ordnung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie fasste sich schnell und sagte: „Ich höre Sie so gerne spielen. Es stört mich überhaupt nicht, im Gegenteil, es tut mir richtig gut.“

      Sagte sie das, weil sie ihren Sohn vermisste? Herr Friedrich hatte sich über den Weggang einiger seiner Sänger, Tänzer und Schüler kaum Gedanken gemacht, es gab doch genug Nachwuchs. Wenngleich – einige vermisste er schon, wer ausgereist war, blieb unwiderruflich weg, es gab keine Wiederkehr! Und so fühlte auch er sich gegen Ende des Schuljahres jedes Mal leer und ausgebrannt, er sehnte sich nach Sonne und Meer und nach menschlicher Wärme.

      Gern zeigte er Frau Grau nun auch die anderen Zimmer seiner Wohnung, deren Wände mit Postern und Fotos beklebt waren, hauptsächlich mit Tieren und Landschaften. Dazwischen hing, provisorisch mit Stecknadeln und Zwirn befestigt, ein wildes Sammelsurium von Hühnergöttern, Vogelfedern und bizarr gewachsenem Gezweig. Eine Weile betrachtete Frau Grau diesen ungewöhnlichen Wandschmuck. „Die schönsten Geschenke sind umsonst und nicht bezahlbar“, sagte er zu ihr. Sie verstand sofort.

      Er brühte wieder Kaffee auf, diesmal trank Frau Grau ein Gläschen Weinbrand und dann noch eins, ihr Gesicht rötete sich und sie sah schon viel besser aus, als sie beide nun auch noch in ihre Wohnung gingen. Die stand freilich im Kontrast zu Herrn Friedrichs Bleibe und war viel gemütlicher. Sie tranken weiter, redeten, vor allem Frau Grau konnte gar nicht aufhören. Der Alkohol hatte ihre Zunge gelöst und Herr Friedrich tätschelte ihre Hand und gewann tiefe Einblicke. Einmal in den Alltag der sozialistischen Produktion des benachbarten Chemiebetriebes, dann in ein Leben für die Partei, aber auch in das tiefe Leid um den geliebten Sohn, der Republikflucht begangen hatte. Über ihren geschiedenen Mann sprach Frau Grau nicht. Sie hatte alles, was an ihn in der Wohnung erinnerte, entfernt und sich ein herrenloses Kätzchen aus der Gartenkolonie mit nach Hause genommen.

       Frieda und Friedrich

      Danach besuchten sich die beiden, Herr Friedrich und Frau Grau, die mit Vornamen Frieda hieß, häufiger. Frau Kluge dagegen stellte ihre nächtlichen Besuche bei Herrn Friedrich ein. Außerdem hatte der ganz unverhofft ein Telefon bekommen! Nanu? Das Leben schien Frau Grau wieder zuzulächeln. Und Frau Grau lächelte zurück. Es tat nicht mehr so weh, dass sie nach der Republikflucht ihres Sohnes strafversetzt worden war, weil sie im Lohnbüro als nicht mehr vertrauenswürdig galt und nun in den Schichtdienst, in die Produktion musste. Der Posten als Kassiererin in der Einheitspartei war ihr auch abgesprochen worden. Doch es gab Hoffnung. In den Arbeitspausen eilte sie zum Telefon und rief Herrn Friedrich an. Es tat ihr so gut, seine Stimme zu hören. Ihre heitere Stimmung färbte auf die neuen Kollegen ab, die gutmütig frotzelten: „Jetzt kommt unsere Turteltaube“, gleichzeitig aber aufpassten, dass sie sich bei der schweren körperlichen Arbeit nicht übernahm. Sie amüsierten sich, dass sie ihren Liebsten mit seinem Nachnamen anredete. „Frieda und Friedrich, das klingt beinah so schön wie Paul und Paula“, erklärte sie treuherzig und dachte an den DEFA-Film. Es war auch keine Rede mehr davon, dass Frau Grau ins Krankenhaus musste. Die Liebe ist und bleibt immer noch die beste Medizin! Manchmal holte Herr Friedrich sie in seinem neuen Trabi von der Arbeit ab, sie fuhren dann gleich in ihr Gärtchen oder an einen Badesee. Sie lebten mit Bedacht und Genuss und zum ersten Mal fühlte sich der kleine Herr Friedrich in dieser Beziehung nicht eingeengt. Er wurde ihrer nicht überdrüssig, ganz im Gegenteil. Diese Beziehung war herzerwärmend und anheimelnd wie die Musik, die Frau Grau so gerne hörte. Er spielte für sie Bach und Beethoven, die langsamen Sätze der Sonaten gefielen ihr ganz besonders. „Es ist, als wandelte ich durch Landschaften.“ Sie sagte wandelte und tat es tatsächlich.

       Hinter verschlossener Tür

      Ende September 1989 wurde Frau Grau eines Tages von ihrer Arbeit weg in die Betriebsleitung gerufen. Dort stellte sich ein ihr fremder Parteigenosse vor und führte ein Unter-Vier-Augen-Gespräch mit ihr. Das fand in einem separaten Raum am Ende des Flures statt, dessen Tür keine Aufschrift trug. Der sehr sympathische Mitarbeiter redete sie mit Genossin Grau an. Er eröffnete ihr neue Perspektiven, wenn, ja, wenn sie sich kooperativ zeige, wachsam gegenüber allen subversiven Elementen, die unserer Republik schaden wollen, sei, auch auf den Herrn Friedrich und der Frau Kluge ein Auge habe. Und wenn sie ihren Sohn, den einst so hoffnungsvollen Sportkader, zur Rückkehr in unsere Republik bewegen würde.

      „Aber wieso? Woher wissen Sie das?“, stammelte Frau Grau, die mehr ahnte als begriff.

      „Wir sind gut informiert und wir helfen Ihnen, Genossin Grau.“

      Sie wurde bei Androhung schärfster Strafen zur Geheimhaltung dieses Gespräches, das doch sehr einseitig ausgefallen war, verpflichtet; unterschrieb ein Formular, ohne es zu lesen, erhielt ihren eingezogenen Parteiausweis und wenige Tage darauf ihren alten Arbeitsplatz zurück. „Sie haben bewiesen, dass Sie eine standhafte Genossin sind“, sagte die „Graue Eminenz“ zum Abschluss und drückte der hilflosen Frau Grau in beabsichtigter Herzlichkeit recht lange die Hand. Nun war sie interne Mitarbeiterin und sollte Spitzeldienste leisten. Oh Mutterherz!

       Der Anruf

      In den nächsten Wochen erhob sich der Sturm, der sich schon so lange angekündigt hatte. Zu Ende das bleierne Warten … Die Wende kam, der Umsturz. Er trieb die Menschen auf die Straße. Jeder Tag brachte etwas Neues mit sich. Der verschollene Sohn von Frau Grau meldete sich am Telefon von Frau Kluge. Warum er nicht eher ein Lebenszeichen von sich gegeben habe, wollte sie von ihm wissen.

      „Ich wollte meine Mama nicht in Schwierigkeiten bringen“, antwortete er.

      „Schwierigkeiten hatte sie mehr als genug“, sagte Frau Kluge streng und klar und holte Frau Grau ans Telefon.

      Frau Grau wurde rot und blass, schluchzte und lachte: „Du bist wieder da. Nun wird alles gut. Wir sehen uns, ja, ich komme. Mein Junge!“

      Sie musste sich setzen. Frau Kluge stürzte mit einem Glas Wasser zu ihr und beendete energisch das Gespräch, indem sie in den Hörer rief: „Das ist alles zu viel für Ihre Mutter!“