Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette

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Название Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39
Автор произведения Wolfram Ette
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783866746619



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die Theaterzensur abgeschafft. »Jeder Bürger«, hieß es nun, »darf ein öffentliches Theater errichten und dort Stücke aller Art spielen lassen«49. Gab es Anfang 1791 in Paris neun Theater, so waren es Ende des Jahres bereits 70.

      Die moderne, mediengestützte Öffentlichkeit hatte von Anfang an zwei Aspekte: Sie galt der Verbreitung revolutionärer wissenschaftlicher und politischer Ideen, und sie war zugleich ein wirtschaftliches Projekt zur Vermehrung der Profite derer, die ihr Kapital auf dem neuen Markt investierten, der ebenso vielversprechend wie riskant war. Ohne kapitalistischen Unternehmergeist hätten sich die aufklärerischen, demokratischen Ideen nicht entfalten können; aber sie konnten sich nur in einer medialen Sphäre verbreiten, in der es primär gar nicht um Inhalte ging, sondern um die mediale Warenform.

      In Europa und in den USA florierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Massenproduktion. Der Handel musste mit Anzeigen, Werbung und Design angekurbelt werden; technologischer Fortschritt ebnete den Weg zu deren Medium, der Massenpresse. Ein neues technisches Medium, die elektrische Telegrafie, war die Basis der drei großen kommerziellen Nachrichtenagenturen Hava, Reuters und Wolff’s, die in Paris, London und Berlin gegründet wurden und sich 1870 zu einem Weltkartell zusammenschlossen.50 Rotationspresse und Zeilendruckmaschine steigerten den Erfolg der kommerziellen Massenpresse weiter. Wichtige bürgerliche Ziele waren nun erreicht; der Handel dehnte sich nahezu schrankenlos aus. Der Diskurs über Menschenrechte wurde vom Diskurs über zeitgemäße Außenpolitik als Motor des Exports und Imports verdrängt.

      Habermas hat den Übergang zur Massenpresse als Refeudalisierung des öffentlichen Raumes interpretiert. Ihm zufolge sind der »Waren- und der Nachrichtenverkehr« die wesentlichen »Elemente des frühkapitalistischen Verkehrszusammenhangs«51 gewesen, in dem es noch keine öffentliche Sphäre im bürgerlichen Sinne gab; in der postmerkantilistischen Phase des Kapitalismus habe diese Sphäre dann zunächst Autonomie erlangt und später wieder eingebüßt. Im Spätkapitalismus sei das Publikum kein »kulturräsonierendes« mehr, sondern nur noch ein »kulturkonsumierendes«52.

      »Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Kommunikation.«53

      Doch diese Beschreibung trifft es nicht ganz. Falsch ist daran die Vorstellung, dass die Gesetze des Marktes in die Sphäre des Publikums »eindringen« würden. Sie gehörten vielmehr von Anfang an dazu: als gleichursprüngliche Gegenkraft zur autonomen Kommunikation über Inhalte und Sachfragen. Raisonnement und Konsum sind nicht Stufen des Verfalls, sondern eine widersprüchliche Einheit von Identität und Differenz im Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit.54

      Deren innerer Widerspruch bestand darin, dass sich – mit den Worten von Arnold Künzli – »ein partikulares Interesse – das des aufstrebenden Bürgertums – mit dem Nimbus der Universalität umgab.«55 »Das Entréebillet zu dieser ursprünglichen liberalen ›Oeffentlichkeit‹ war das private Eigentum, und damit wurde Oeffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des Bürgertums«, heißt es bei Künzli. »Was öffentliche Meinung genannt wurde, war die interessierte Meinung dieses Bürgertums, die sich als universelle gerierte und als Gemeinwohl deklarierte.«56

      Auch im 20. Jahrhundert, unter den Produktionsbedingungen des Fordismus, war die massenmediale Öffentlichkeit noch privilegierter Ort der Urteilsbildung freier und gebildeter Bürger. Skandale und Sensationen in Zeitung, Radio und Fernsehen waren alltagskulturelle Aufputschmittel für die arbeitsfreie Zeit, einlullende Unterhaltung fungierte als Beruhigungsmittel. Andererseits hörte die Beschäftigung mit politischen, sozialen und kulturellen Fragen aber nicht einfach auf, denn nun fing auch die Klasse der Nichteigentümer der Produktionsmittel an, öffentlich zu »räsonieren«. Ihre Angehörigen hatten ein Interesse daran, über ihre Lebenslage in der Industriegesellschaft zu kommunizieren und über die Aussichten, sie zu verbessern. Wenn sie in kommerziellen Zeitungen Berichte über Skandale und Verbrechen verfolgten und anschließend darüber diskutierten, war das zumindest ein Teil davon.57 Dies wäre ohne das in sich widersprüchliche, bürgerliche Konzept der Öffentlichkeit nicht möglich gewesen. Denn, wie Künzli zusammenfasst: »Indem das Bürgertum in seinem Emanzipationskampf gegen Feudalismus und monarchistische Staatsautorität für sich Oeffentlichkeit konstituierte und im freien Diskurs eine öffentliche Meinung herausbildete, leistete es, auch wenn es noch nicht Oeffentlichkeit an sich war, einen revolutionären Beitrag zur Emanzipation überhaupt.«58 Und es gab auf der anderen Seite bekanntlich auch das staatliche Rundfunkwesen Großbritanniens und das öffentlich-rechtliche System in der Bundesrepublik, die man als Bastionen der Medien-Domestizierung durch, teilweise steuerfinanzierte, Aufklärung und Bildung der Bevölkerung bezeichnen kann. Diese domestizierten freilich nicht allein den marktwirtschaftlichen Willen zur Macht, der, wenn man so will, die Massenmedien antreibt, sondern auch die Erlebnis- und Erfahrungswelt der Menschen, die ihnen ausgesetzt sind. Oskar Negt und Alexander Kluge haben das in den 1970er Jahren als postkolonialistische innere Kolonisierung der Menschen in den industriellen Zentren der Welt beschrieben. »Die Widersprüchlichkeit des vom Kapitalismus struktrurierten öffentlichen Erfahrungshorizonts schlägt sich auch in den Individuen nieder, die von ihm unterdrückt werden«59: als »Kolonisierung des Bewußtseins«60.

      Wenn das Ideal einer Sphäre aufgeklärter Bürger, die im räsonierenden Diskurs politische und soziale Meinungsbildung betreiben, aus der heutigen Medienlandschaft61 verschwindet, handelt sich es aber nicht um Fehlverhalten oder Anzeichen von moralischem Verfall. Medienakteure auf einem globalen Markt sehen sich kaum noch in der Pflicht, mündige Bürger zu erziehen. Sie müssen sich in einem Betrieb erhalten, der – über die mediale Warenform – dabei hilft, aus Geld mehr Geld zu machen. Im Blick auf diesen »Realgrund« haben sie sich zu verantworten – alles andere ist nachrangig. Bei verschärfter Konkurrenz um die Anteile an den Restprofiten einer (offenbar permanenten) Überakkumulationskrise wird dem Appell an die Verantwortung die Geschäftsgrundlage entzogen. Sensationalismus, Pornografie und Reklame sind Überlebensstrategien in einer Epoche, die geprägt ist durch das »Zeitungssterben« und durch eine umkämpfte Neuverteilung der legalen Zugänge zur Ausbeutung der »Ressource Aufmerksamkeit«62. So setzt sich die Kapitallogik durch – auch dort, wo sie partiell suspendiert war: in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern, deren Funktionäre auf hohe Publikumsquoten fixiert sind. Die Massenmedien kehren gleichsam in ihren Grund zurück – Zeitungen waren im Europa der Frühen Neuzeit Werbeprospekte der Buchdrucker und das Radio in seinen Anfängen in den USA ein Reklameorgan der Konsumgüterindustrie. Im Spanischen und Italienischen sind la publicidad und pubblicità heute die Worte für Werbung. Und in den sogenannten social media wird überwiegend Privates ausgetauscht. Es spricht Einiges dafür, dass Slavoj Žižek Recht hat, wenn er mit Blick auf das Internet feststellt: »Der öffentliche Raum verschwindet.«63

      Gegen die marktwirtschaftliche Orientierung des Handelns, das an Selbsterhaltung, Selbststeigerung und Überwältigung der Konkurrenten orientiert ist, bringt die Medienethik ihr normatives Bild von Öffentlichkeit in Stellung. Funiok zentriert es um ein Diskursmodell64, das von der Ambivalenz der Öffentlichkeit absieht. In diesem Modell gibt es vier Typen öffentlicher Äußerungen: 1. autoritäre, monologische Kundgaben, 2. Agitation und Propaganda, 3. die Befeuerung kollektiver Erregungszustände und 4. advokatorische Statements zugunsten von Benachteiligten oder zugunsten des Gemeinwohls.65 Die Sympathien sind klar verteilt: Autoritäre Verlautbarungen und agitatorische Hetze in den Medien gefährden die Demokratie; zivilgesellschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit fördert sie, sofern es nicht parteiisch auf die Ziele einzelner sozialer Bewegungen fixiert ist. Und wenn öffentliche Erregungszustände aufgegriffen oder angeheizt werden, bis hin zur Formierung als Gegenmacht, könne das sowohl negative Wirkung haben als auch positive (wie im Vorfeld des Untergangs der DDR). Idealerweise zeichne sich der öffentliche Diskurs durch eine Auseinandersetzung aus, die nicht strategisch ist, sondern verständigungsorientiert und argumentativ. Im Diskursmodell der Öffentlichkeit sei Wahrheit der Maßstab für deskriptive Sachaussagen, und normative Richtigkeit, das heißt Gerechtigkeit, Maßstab für praktische Aussagen. »Es kommt zur Revision der eigenen Beiträge, zum Fallenlassen falscher Behauptungen und