Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette

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Название Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39
Автор произведения Wolfram Ette
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783866746619



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Wirtschaft und Verwaltung nach wie vor eine Verankerung innerhalb der Lebenswelt aufrechterhalten müssten. Dennoch stehe ihre strukturelle Dynamik im Gegensatz zum Streben nach gegenseitiger Verständigung durch Sprache. Im Gegensatz zu den Marxisten hätten Luhmann und andere zu Recht auf die fortschrittlichen Errungenschaften moderner Systemdifferenzierung hingewiesen: Indem die moderne Gesellschaft von der mühsamen Aufgabe der unmittelbar sprachlichen Koordination entscheidender Prozesse befreit wurde, eröffnete sich ein nie dagewesenes Potential für soziale Komplexität. Der Fehler des Marxismus sei die Gleichsetzung der Entstehung moderner Subsysteme mit unerfreulichen – und potentiell austauschbaren – Formen der Klassenherrschaft. Die marxistische Kapitalismuskritik sei eine Sozialtheorie, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet habe (vgl. II, 500 f.).

      Dennoch, so Habermas, könne die marxistische Kritik erfolgreich umformuliert werden. Unter heutigen Bedingungen wendeten sich die Subsysteme der Wirtschaft und Verwaltung gegen die Lebenswelt. Da materielle Reproduktion nur auf Kosten unersetzlicher konsensabhängiger Handlungsformen stabilisiert werden könne und kommunikatives Handeln zugunsten der entsprachlichten Medien Macht und Geld über Bord geworfen werde, um die Lebenswelt wirkungslos zu machen, trügen die Subsysteme der Wirtschaft und Verwaltung nicht mehr zu sozialer Komplexität bei, sondern unterhöhlten die Grundlagen der modernen Gesellschaft (vgl. II, 292 f.). Wo sich Krisen auf der Ebene von Wirtschaft und Verwaltung nur durch Beeinträchtigung der Lebenswelt vermeiden ließen, würde diese Gegenstand der Kolonialisierung (vgl. II, 452). In Habermas’ durch Weber beeinflusster Neuformulierung des Marxismus lassen sich Krisentendenzen in Wirtschaft und Staatsverwaltung nunmehr lediglich durch die Dezimierung kommunikativen Handelns im Zaum halten. Entgegen Marx’ Hoffnung, dass sich Bürokratie und Markt letztlich transzendieren ließen, seien beide tatsächlich unersetzliche Rationalitätsformen, trotz der von ihnen gleichzeitig generierten, potenziell destruktiven gesellschaftlichen Konsequenzen.

      Warum also die Wendung zu zeitgenössischer Jurisprudenz, um diesen besorgniserregenden Trend zu erklären? In Anlehnung an Weber argumentiert Habermas, dass sowohl moderner Kapitalismus als auch Bürokratie nur auf der Grundlage modernen, gesetzten Rechts abgesichert seien. In gewisser Hinsicht Weber widersprechend, sieht Habermas in modernem Recht Elemente moralisch-praktischer Rationalität, basierend auf Lebenswelt und symbolischer Reproduktion. Modernes, ›postkonventionelles‹ Recht verbinde die Lebenswelt mit Wirtschaft und Staatsverwaltung; es biete einen unentbehrlichen Treff- oder Transformationspunkt für die rivalisierenden und potentiell widersprüchlichen Dynamiken. Recht ermögliche es, dass Staatsverwaltung und Geld als Ersatz für kommunikative Interaktion wirken. Mit einem Bein in der Lebenswelt und mit dem anderen sicher in den formal organisierten Systemen der Wirtschaft und Verwaltung stehend, könne das Recht einen hervorragenden »Indikator für die Grenzen zwischen System und Lebenswelt« abgeben (II, 458). Daraus folge, dass sich Störungen in der Beziehung zwischen Lebenswelt und sozialen Systemen als ›Pathologien des Rechts‹, d. h. als Formen der ›Verrechtlichung‹, äußern. Fundamentale Krisentendenzen der heutigen Gesellschaft könnten also die Form einer ›Rechtskrise‹ annehmen.

      Es ist leicht nachzuvollziehen, warum Habermas deshalb der Meinung war, dass kritische Theorie sich den scheinbar obskuren Debatten um aktuelle Rechtsentwicklungen zuwenden sollte. Vermutlich hat er die Vielzahl von Forschungsergebnissen mit Befriedigung registriert, die die theoretischen und diagnostischen Meriten seiner Theorie insgesamt zu bestätigen scheinen. Nicht nur in der BRD argumentierten Juristen und Sozialwissenschaftler energisch, dass das Recht in der Gegenwart Pathologien und Krisentendenzen aufweise.4

      Habermas weist im letzten Kapitel der Theorie des kommunikativen Handelns darauf hin, dass scharfsinnige Rechtspublizisten ambivalente Formen des heutigen Aufsichtsrechts ausfindig gemacht haben, welche die Freiheit mindestens im gleichen Maße bedrohen, indem sie sie zu garantieren helfen (vgl. II, 531). Verrechtlichung – grob definiert als die Ausweitung des Formalrechts auf weitere Sozialsphären und dessen zunehmende Verdichtung – habe immer schon eine fundamentale Voraussetzung der Moderne dargestellt. Im Gegensatz zu großen Teilen der modernen Rechtsentwicklung zeigten diese Ausweitung und Verdichtung jedoch im Bereich des Sozialstaates alarmierende Tendenzen: »Schließlich ist die Allgemeinheit des Tatbestandes auf den bürokratischen Leistungsvollzug […] zugeschnitten« (II, 532), was gesellschaftliche Solidarität untergrabe und Paternalismus generiere. Gesetzliche Regelungen könnten als Vehikel dienen, mittels dessen »die mediengesteuerten Subsysteme Wirtschaft und Staat mit monetären und bürokratischen Mitteln« (II, 522) unangemessen eingreifen. Das Formalrecht geselle sich zu bürokratisch verwalteten finanziellen Entschädigungen, um komplexe Formen sozialen Handelns dem Einfluss »gewalttätiger Abstraktion« auszusetzen, was mitunter mehr schädliche als positive Folgen zeitige. Habermas geht davon aus, dass modernes Formalrecht immer schon mit einem »Handlungssystem, in dem unterstellt wird, dass sich alle Personen strategisch verhalten«, verbunden war, wodurch es in die Lage versetzt wurde, ebenso »die funktionalen Imperative eines über Märkte regulierten Wirtschaftsverkehrs [zu] erfüllen« wie die »Imperative« der Staatsverwaltung (I, 352). Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Subsysteme jedoch führe dazu, dass diese Beziehung von Seiten des Rechts zunehmend auf eine Weise gestaltet werde, die inkongruent ist mit kultureller Reproduktion, sozialer Integration und Sozialisierung. Die moralisch-praktischen Wurzeln modernen Rechts drohten aus der Lebenswelt herausgerissen zu werden. Die normative und diskursive Untermauerung werde zugunsten der Hegemonie der systemischen Medien Geld und Macht, welche mit der Lebenswelt in eine einseitig autistische Beziehung treten, aus dem Weg geräumt: Facetten der Lebenswelt, die mit den abstrakten Medien Geld und Macht nicht in Einklang zu bringen sind, würden verdrängt.

      Im Gegensatz zu neoliberalen Kritikern der Verrechtlichung lehnt Habermas das Wachstum des modernen Staats per se offensichtlich nicht ab. Im Gegenteil: Er behauptet an einer Stelle der Theorie des kommunikativen Handelns, dass Recht grundsätzlich neben Macht und Geld als abstraktes Steuerungsmedium dienen könne, und zwar in solchen Bereichen des Wirtschafts-, Handels-, und Sozialrechts, »die sich ja ohnehin gegenüber den normativen Kontexten des verständigungsorientierten Handelns verselbständigt haben.«5 In gesellschaftlichen Bereichen, in denen das Handeln bereits hauptsächlich formal organisiert und daher unmittelbar durch systemische Imperative geformt sei (z. B. im Arbeitsrecht), stelle die staatliche Regulierung üblicherweise kein Problem dar (vgl. II, 538). In anderen gesellschaftlichen Bereichen jedoch, die eng mit der Lebenswelt verbunden sind (z. B. Familie und Bildungssystem), erweise sich Verrechtlichung als schwieriger einzuordnen. Würde die Validität derartiger Normen in Frage gestellt, drängten Themen von moralischpraktischer Bedeutung umgehend in den Vordergrund: »Sie bedürfen einer materiellen Rechtfertigung, weil sie zu den legitimen Ordnungen der Lebenswelt selbst gehören« (II, 536). Im Gegensatz zu Gebieten, in denen das Recht ohne größere Probleme als Steuerungsmedium dienen könne, nähme es anderswo die Form dessen ein, was Habermas als Rechtsinstitutionen beschreibt: Diese »stehen in einem Kontinuum mit sittlichen Normen und überformen kommunikativ strukturierte Handlungsbereiche« (II, 537). Diese Gefahr sei besonders dort ausgeprägt, wo vergleichsweise wenig formale Organisation existiere. Selbst dort könne staatliche Intervention prinzipiell soziale Integration ergänzen, anstatt wesentliche Aufgaben der Lebenswelt imperialistisch durch die Fremdmedien Geld und Macht zu überformen (vgl. II, 541). Die empirische Beweislage allerdings weise darauf hin, dass eher Letzteres der Fall sei. Finanzielle Entschädigung und juristische Intervention in Schul- und Familienrecht überforderten nicht nur die staatliche Bürokratie; sie schleusten auch die Logiken der Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die davon möglichst befreit bleiben sollten. Mit Blick vor allem auf Beispiele aus der zeitgenössischen BRD argumentiert Habermas, dass die wachsende Regulierung von Schulen komplexe Sozialisationsmechanismen künstlich in ein »Mosaik von anfechtbaren Verwaltungsakten« zerlegten (II, 545). Die Gefährdung elementaren pädagogischen Handelns sei ein Ergebnis dieser Entwicklung. Bemühungen, Rechte von Kindern auf juristischem Wege zu schützen, verletzten in ähnlicher Weise »die kommunikativen Strukturen des verrechtlichten Handlungsbereichs« (II, 543).

      Habermas geht so weit zu behaupten, dass Verrechtlichung auch empirische Argumente für den ambitionierten Versuch der Theorie des kommunikativen Handelns bereitstelle, marxistische Ideen der Verdinglichung neu zu formulieren.6 Wo Marx und Lukács erklärt hatten, dass gesellschaftliche