Das Lied der Grammophonbäume. Frank Hebben

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Название Das Lied der Grammophonbäume
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783957770479



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als würde ich jählings in die Tiefe stürzen: Um mich herum verfinsterte sich alles, die Bäume, der See, das Haus zu meiner Rechten, bis alles in Nacht versank, mondlos, mit schwarzen Wolken am Himmel.

      Ich höre ihn graben, hinter mir; das Scharren seiner Schaufel, die wieder und wieder ins Erdreich sticht, metallisch klirrend, wenn die Spitze auf Steine trifft. Er summt eine Melodie von Schubert; ich versuche, sie auszublenden, indem ich mich auf das Brausen des Windes konzentriere, doch es gelingt mir nicht – seine Stimme klingt in meinem Kopf, hallt nach wie der dumpfe Laut des Körpers, als er in der Grube aufschlägt. »Wenn du mir helfen würdest, Alice, wär es bereits getan!«

      Meine Gedanken rasen; ich wage nicht, mich umzudrehen. »In meinem Rücken kannst du tun, was du nicht bleiben lassen kannst – helfen werde ich dir nicht.«

      »Mein Engel«, ruft er, und mich schaudert, »warum willst du es nicht begreifen?« Ich höre, dass er näher kommt, seine festen Schritte im Gras. »Sprich mit mir, Alice.«

      »Reicht es dir nicht, dass ich dulde, was du tust? Du kannst doch nicht noch mehr verlangen!«

      Er ist heran gekommen, ich höre ihn keuchend atmen. »Lass mich«, schreie ich, als er seine eiskalten Finger auf –

      Die Schwärze zerbrach, graues Tageslicht.

      Ich starrte in Eveline Suthers Augen, eine Hand hatte sie mir auf die Schulter gelegt. »Was ist mit dir«, fragte sie mich besorgt. »Wir haben dich schreien gehört.«

      »Ich, ich habe …«, stotterte ich.

      »Geht es dir gut?« Eveline schaute mich an. »Beim Herrn, du zitterst am ganzen Leib.«

      *

      »Besser, wir bringen Sie in die Pension zurück«, schlug mir Jason Suther vor, nachdem Eveline mich zur Grube geführt hatte. »Bei diesem Wetter erkältet man sich leicht, Misses Parry. Sie müssen dringend Ihre Kleider wechseln.«

      »Wo ist denn Ihr Regenschirm?« Constable Johnson grub weiter, ohne aufzusehen. »Haben Sie keinen, Misses Parry?« Selbst bei dieser belanglosen Frage war sein Tonfall forschend; ich sah weg.

      »Misses Parry?«, wiederholte er.

      »Ja doch«, zischte ich überreizt und strich mein Haar beiseite. »Hören Sie, bevor ich gehe, muss ich mir die Schäden im Haus ansehen – allein.«

      »Das hat doch bis morgen Zeit, Misses Parry.« Erneut spürte ich Evelines Hand auf meiner Schulter.

      »Es geht mir gut, glauben Sie mir.« Ich versuchte ein Lächeln, als ich mich umdrehte. »Nur scheinen mir hier draußen Schwimmhäute zu wachsen.«

      Ein artiges Lachen; sie nickte. »Ja … das geht wohl jedem von uns so.«

      »Es wird nicht lange dauern«, versprach ich und ließ die anderen stehen.

      Von hinten hörte ich Jason Suther flüstern: »Scheint sie alles sehr mitzunehmen, einer von uns sollte in der Nähe von ihr bleiben.«

      »Tun Sie das, Mister«, sagte der Constable halblaut, aber der Wind trug seine Worte herbei. »In einer Viertelstunde kommen wir nach.«

      *

      Rasch beschleunigte ich meine Schritte, an der Rückseite des Hauses entlang zum Ostflügel. Jedes zweite Fenster war zerbrochen, manche der Scherben steckten noch im Rahmen, andere lagen im Gras verstreut – es knackte laut, wenn ich gedankenverloren auf eine drauftrat. Ein Riss im Mauerwerk hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, armlang und zwei Finger breit; haarfeine Verästelungen gingen von ihm ab wie Wurzeln.

      Mir stockte der Atem; die Unwetter, die Regengüsse, mussten tatsächlich das Fundament unterspült haben, sodass ein Teil des Gebäudes abgesackt war. Wie war das möglich gewesen, der Keller lag tief. Und wenn innen – oh, nicht auszudenken!

      Ich hastete weiter, rannte zur Stirnseite. Der Himmel über dem Anwesen strahlte jetzt in rostroten Tönen, das Grau war gewichen, und alles wirkte überhell, obwohl die Sonne verborgen blieb. Ich spürte die Tropfen kaum, die auf mein Gesicht nieselten, als ich an Säulen und Regentraufe vorbei zum Dach hochstarrte – geblendet vom Licht.

      Etwas schien die Wolken wie ein Strudel zurückzuziehen, wobei die Front des Hauses mehr in den Vordergrund rückte; die Fenster, die Tür blähten sich auf, ich konnte sogar das Namensschild lesen: Parry Manor, die Buchstaben von gelben Flechten bedeckt. Und dann hörte ich sie wieder, die Schreie, die mich schon so lange in meinen dunkelsten Träumen heimsuchten.

      Mir wurde übel, ich taumelte.

      Die Beine sackten mir weg.

      *

      Wie lange ich im Schlamm auf den Knien gelegen hatte, weiß ich nicht mehr, wenige Sekunden vielleicht, doch wie aus tiefer Trance stand ich schließlich auf, ordnete meine Röcke, ehe ich die Stufen des Hauses empor stieg. Die Tür war nicht verschlossen, so öffnete ich sie und trat ein.

      Leer – ein dunkler Flur, von Schatten durchzogen. Ich konnte die blassen Flecken auf der Tapete ausmachen, dort, wo unsere Gemälde gehangen hatten, Landschaftsbilder und Ruinen von Dartmoor. Seitlich die Umrisse zweier Türen, zum Salon, zur Küche; und am Ende die Wendeltreppe.

      Nur langsam tastete ich mich an den Wänden entlang, setzte einen Fuß vor den anderen. Mein Atem ging schnell, ich keuchte. Noch drei Schritte, zwei, und ich hatte die erste Tür erreicht.

      Ich öffnete sie.

      Auch der Salon war leergeräumt, allein der Sekretär stand noch am Fenster; jemand hatte ein Laken drübergeworfen, dessen Saum sich im Luftzug wellte. Dort hatte Paul abends gesessen, stumm über seine Forschungspapiere gebeugt – Auswertungen, neue Versuchsreihen; bis tief in die Nacht bereitete er sich auf seine Arbeit im Laboratorium vor.

      Widerstrebend trat ich näher. Im Schatten glaubte ich, seine gekrümmte Statur zu sehen, seinen Kittel, seine Schultern, sein sprödes Haar, das ihm auf den Rücken fiel.

      Ich höre ihn atmen, keuchen; nein, unmöglich – das kann nicht sein.

      Da bewegt sich etwas.

      Er dreht sich um, und ich sehe seine Wangen, farblos, ausgehöhlt, sein Gesicht, seine Lippen, oh, diese furchtbaren Lippen! Und plötzlich die Schreie; sie dringen aus dem Boden, hallen durchs Zimmer – Schreie von Tieren, Menschen, die er vom Spital beschafft.

      Paul steht auf; ich weiche vor ihm zurück. »Nein«, kreische ich, starr vor Schreck. »Wehe, du fasst mich an!«

      Sitzt er dort, steht er vor mir? Lächelt er mich an? Seine dunklen Konturen verschwimmen, als er zu mir spricht: »Eine Welt ohne Schmerz, wäre das nicht herrlich, Alice?«

      »Lass mich in Frieden damit!«

      Ja – er lächelt; jetzt sehe ich es genau. Sein kaltes, blutleeres Lächeln. »Warum willst du es nicht verstehen, Alice? Keine Schmerzen zu haben, heißt, den Tod nicht länger zu fürchten.«

      »Hohles Gerede! Dein moralischer Standpunkt hat sich verschoben«, antworte ich fest. »Du bist fanatisch geworden, Paul.«

      Er hebt das Kinn, und sein Lächeln verblasst. »Rede nicht so altklug daher, ich muss es tun, ich muss! Wer könnte es denn sonst tun, außer mir?«

      Alles Schatten – über mir, unter mir, um mich herum. Ich zwinge mich zurück zur Tür. »Ich höre sie schreien, Paul, Tag und Nacht. Du folterst sie zu Tode dort unten!«

      Kommt er näher? Er kommt näher. »Wie sollte ich sonst lernen, den Schmerz zu begreifen?«

      »An hilflosen Opfern, Paul?«

      »An Alten, Schwachsinnigen«, brüllt er aus der Dunkelheit her. »Sie sterben für wahres Menschenheil.«

      Ich kann nicht verhindern, dass ich auflache. »Was? Das ist also deine Philosophie? Ich werde dem Ganzen ein Ende setzen. Verlass dich darauf!«

      »Komm zu mir, Alice, meine Liebe. Ich brauche dich; bitte, sei mir ein Halt.« Seine