Bravourös in die Suppe gespuckt. Uli Grunewald

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Название Bravourös in die Suppe gespuckt
Автор произведения Uli Grunewald
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783942401807



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sich alles in Ruhe überlegen, haben jedes Mitspracherecht und riskieren nichts. Ich habe Ihnen ein Gerät mitgebracht, das ist phantastisch. Mit seiner Hilfe können Sie Ihren Gedankenwelten, Reflexionen, Einfällen und Imaginationen mühelos Gestalt verleihen. Sie sprechen, die Maschine schreibt und visualisiert synchron. Eine Audio-Taste gibt es natürlich auch, wenn Sie eine Wiedergabe wünschen. Und ich kann später das Resultat Ihrer Kopfarbeit problemlos ordnen, verdichten und in die geforderte Form verwandeln. Fangen Sie mit Ihrer Geschichte einfach von vorne an und reden Sie frei von der Leber weg. Ich bin mir sicher, Sie können das. Was meinen Sie, haben Sie Lust, sich darauf einzulassen? Gerade jetzt hilft Ihnen das vielleicht. Sie sind ein exaltierter Mensch, der den Auftritt liebt. Wichtig ist, gegen Ihren Willen wird nichts geschehen.“

      Unverständlich, aber er schien mich tatsächlich gut zu kennen. Aus welchem Versandhaus nur hatte er seine Informationen bekommen?! Und wieso offerierte Strelow sein Vorhaben so siegessicher ohne Konjunktive. Wie unwirklich. Mein Ausnahmezustand hatte nun biblische Ausmaße erreicht. Es klang glaubhaft, als Strelow bei der Verabschiedung versicherte, er würde bald wiederkommen und alles mit mir und dem Advokaten en Detail besprechen. Nach seiner Rede, die nicht einmal fünf Minuten dauerte, war ich nicht im Stande, Vernünftiges zu denken, geschweige denn zu sagen. Ich nickte nur und bedeutete eine Gefühlsmischung aus Skepsis und Geneigtheit. Nun bin ich wieder allein. Nur dieses Sprechen-Schreiben-Wunder-Ding leistet mir Gesellschaft und liegt vor mir auf dem Tisch. Screenwriter nennt sich das schwarze Prachtstück, es ist das Neueste auf dem Markt und vorerst nur in Fernost zu haben. Es sieht aus wie meine alte Schiefertafel, auf der ich als Kleinkind kritzelte. Dagegen dieses Juwel scheint gläsern und glänzt wie stundenlang poliert. Was hatte Strelow noch einmal gesagt? Ich brauchte nur einzuschalten und zu sprechen, das Gerät zeichnet auf und zeigt das Gesprochene in Schrift auf dem Tableau. Wort für Wort, haargenau. Ich bin beileibe kein Anbeter von Medienfirlefanzen, doch hiervon würde ich bestimmt beeindruckt sein. Gar nicht schlecht. Wie das wohl gehen mag? Während ich versuche, die Maschine in Gang zu setzen, scheint es, als aktiviere ich auch damit mein Erinnerungsvermögen und überraschend wird der verschüttete Tim Strelow aus meiner untersten Gehirnetage ausgegraben. Ja, richtig, jetzt dämmert es. Jahre ist das her. Der war beim Fernsehen als Redakteur beschäftigt, genau wie ich, nur bei einem anderen Sender. Wiederum Jahre später begegnete er mir wieder. Da war er nackt und schien mich ständig zu beobachten.

      Ich drücke den Stecker in die Dose und dann den winzigen Schalter an der schmalen Gehäusekante. Milchig leuchtet die schwarze Scheibe auf und am Rand blinkt die Aufforderung in greller Schrift: You can talk now. Meine Ellenbogen sind auf den Tisch gestützt. In meine Hände, zu einer Muschel geformt, presse ich Nase, Mund und Kinn. Ich atme tief und starre dabei an die Decke meiner Zelle, die die gleiche fahle Farbe wie der Bildschirm hat. Dann höre ich meine Stimme, die mir fremd und losgelöst erscheint, als gehöre sie nicht zu mir. Dennoch spreche ich weiter – leise, zögernd – und verlasse diesen jämmerlichen Raum:

      Die Vorstellung, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, hat mir stets gefallen. Funktioniert hat das natürlich nie. Zumal ich mich, im Widersinn dazu, ständig für Neues interessierte. Oft genug war das ausgefallen und abseitig von der Normalität. Vieles von dem, vermutlich zu viel, habe ich ausprobiert. Einige von der Heilkünstler-Innung meinen, dass sich das Innenleben der Menschen alle sieben Jahre umkrempelt. Und bei manchen, so wie bei mir, krempelte sich das Außenleben gleich noch mit um. Mein Wechsel-Zyklus allerdings brauchte nur drei Jahre für die ganze Umkrempelei. Und so hatte mich das Leben hin und her geschleudert. Alles ist nur halb geglückt, wenn überhaupt. Nichts habe ich zu einem guten Ende führen können. Ich bin ein Fünfzig-Prozent-Vielkönner. Diese Erkenntnis gibt keinen Anlass zu überbordendem Freudentaumel. Und nun soll ich die ganze Wahrheit offenbaren.

      Mama hatte oft gesagt, ich solle doch alles aufschreiben, weil es so außergewöhnlich sei, was ich erlebte. Sicher würde mir meine Mum diese Empfehlung nicht gegeben haben, wüsste sie von all meinen bizarren Eskapaden und den rabenschwarzen Abgründen. Nun ist der Tag gekommen, an dem ich zwar nichts aufschreibe, aber reden werde. Ein Monolog. Geht das überhaupt? Aber vielleicht wird das mein Rettungsanker? Vielleicht. Von wegen, vielleicht. Bescheuert bin ich, das zu glauben. Was kann mich noch retten? Nichts. Und nichts kann mich mehr gefährden, auch wenn ich mich nun ausziehen werde bis auf die Haut. Am Ende werde ich dastehen wie der vitruvianische Mensch, nackt und von aller Welt vermessen. Was macht das noch? Also wage ich mich auch noch an dieses Abenteuer, begleitet von einer fernöstlichen Computer-Rarität. Eines allerdings ist sicher, nie könnte ich bücherfüllende Geschichten erfinden, auch nicht im Reclam-Format. Darum ist, was nun folgt, wirkliches Leben – zumindest aus meiner Erinnerung.

      Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen

      Mit kurzer Lederhose, langen Blondlocken und dem Terrier-Mischling Purzel, der festgebunden am wackeligen Holzroller hängt, so stehe ich mit sechs Jahren auf dem kleinen Platz vor unserer Hoftür, mitten in einer Wolke aus duftendem Wiesenheu. Das hatte mein Großvater zum Trocknen hier ausgebreitet. Damals war ich ein zierliches, niedliches Kerlchen, was sich später ändern sollte. Diese Erinnerung habe ich wahrscheinlich nur deshalb, weil es davon ein winziges Schwarzweißfoto mit Zackenrand gibt. Meine Kindheit hätte eine Mischung aus schnulziger Heidi mit ihrem Geißen-Peter und den Heiden von Kummerow werden können, wäre da nicht mein tyrannischer Vater gewesen. Mama arbeitete zu Hause. Das fand ich großartig. Wenn die anderen Kinder zur Nachmittagsschicht im Kindergarten ausharren mussten, weil beide Eltern in sozialistischen Großbetrieben Geld verdienen mussten, trabte ich froh heimwärts, in unser jahrhundertealtes Lehmgemäuer. Daheim angekommen, wurde ich liebevoll und mit einem zünftigen Mittagbrot empfangen. Das war häufig zu zünftig, denn aus dem niedlichen Blondschopf wurde bald ein dicker Landjunge. Bis zum heutigen Tag habe ich mir gewünscht, schlank zu sein. Das ist mir nie gelungen. Aber schon damals, als kleiner Mensch, genoss ich die Freiheit und Natürlichkeit des Landlebens. Lag ich zu Tagesende in meinem Bett, konnte ich aus meinem Schlafbüdchen den alten Kirchturm sehen, auf dem an warmen Sommertagen ein Amselhahn sein melancholisches Abendlied für mich pfiff. Ich fühlte mich geborgen und wusste, dass ich behütet schlafen würde.

      Am schönsten aber war für mich die ständige Nähe zu unseren Haustieren. Schon damals waren Tiere für mich lebenswichtig. Das ist bis heute so geblieben. Unzählige Male haben sie mir Momente der Einsicht, Heiterkeit und Entspannung vermittelt. Das haben Menschen nur selten vermocht. Manches war dabei auch traurig, eben wie das Leben selbst. Stundenlang konnte ich dem tierischen Treiben um mich herum zuschauen und liebte es, niedliche Ziegenlämmer auf den Armen herumzuschleppen.

      So konnte ich es kaum erwarten, dass unsere zwei Geißen im Frühjahr ihre Jungen bekamen. Und wie entsetzt war ich, als ich nichtsahnend Tage später im Kohlenschuppen zwei winzige Felle hängen sah, die mein Großvater dort zum Trocknen aufgehängt hatte. Ich stellte mir die geballte Grausamkeit des Schlachtens bis in alle widerwärtigen Einzelheiten vor. Und sah, wie mit groben Händen die kleinen, schneeweißen, zuckenden Körper auf dem Schlachtbrett festgeschraubt wurden. Ich hörte das gurgelnde Röcheln der durchtrennten Kehle, sah das Blut am baumelnden Kopfe herunterrinnen und glaubte den Schmerz zu spüren, den diese reizendsten aller Tier-Geschöpfe durch die kalte Messerklinge erleiden mussten. Die Ursprünglichkeit des Lebens, auch mit seinen derben Seiten, wurde mir so früh vermittelt und fühlbar bewusst.

      Unsere Ziegen, die am Leben bleiben durften, hatten es augenscheinlich richtig gut. Mama, die Tiere ebenso liebt wie ich, sorgte dafür, dass sie von ständiger Kettenhaft befreit wurden und ich für frisches Sommergrün von der kargen Weide hinterm Kirchberg. Bei sonnigem Wetter rüstete ich mich aus mit Buch, Wolldecke und natürlich einer opulenten Zwischenmahlzeit. So zog ich los mit der zierlichen Lissy, der selbstbewussten Jenny und dem Rest der Herde. Sie folgten mir wie dressierte Hunde. Am liebsten mochten sie den Klee unseres mürrischen Nachbarn, der sich bei meinem Großvater über meine Unverfrorenheit und die der Ziegen wutschnaubend beschwerte. Opa nahm jene Schimpfkanonaden gelassen und mit vorausschauendem Pragmatismus hin. Denn am Ende gab frischer Klee, egal woher, die beste Ziegenmilch. Die Jungen aus unserem Dorf versuchten mich zu hänseln, gaben mir Spitznamen, die auf mein gelegentliches Hirtendasein abzielten und kamen damit nicht weiter,