Traumzeit für Millionäre. Roman Sandgruber

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Название Traumzeit für Millionäre
Автор произведения Roman Sandgruber
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783990401842



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      „Hast du je einen armen Holzhändler gesehen?“, fragt Josephine in Johann Nepomuk Nestroys spätem Lustspiel Frühere Verhältnisse. Nestroys Holzhändler von Scheitermann ist der Vertreter eines Berufszweiges, dem bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zentrale Bedeutung zukam. Im Holz- und Kohlenhandel waren die Einkommensmöglichkeiten am spektakulärsten. Es waren riesige Summen, die umgesetzt wurden. Die Holzversorgung einer Stadt von der Größe Wiens war ein gewaltiges logistisches Problem. Um das Brenn- und Nutzholz von den naturgemäß dezentralen und abgelegenen Standorten in den Wäldern zu den stark zentralisierten Verbrauchsorten zu bringen, waren ein enormer technischer Aufwand und ein entsprechend hoher Kapitaleinsatz erforderlich: einerseits für die Errichtung und Erhaltung der Transportwege, der Riesen, Triften, Klausen, Schwemmkanäle und Flößereianlagen, andererseits zur Finanzierung der langen Umschlagzeiten. Da konnten sich leicht oligopolistische und monopolistische Strukturen etablieren.99

      Die Holzhändler waren die Kolonialherren des Habsburgerreiches. Ihre Forste und Einflussgebiete zogen sich von den Wäldern Bosniens über Transsylvanien bis in die Bukowina hin, auf die Höhen der Karpaten oder des Tatragebirges. Drach, Engel v. Janosi, Groedel, Munk, Ortlieb, Eissler waren bekannte Namen. Die aus Bisenz (Bzenec) in Mähren stammende Familie Eissler betrieb den Holzhandel in drei verschiedenen Firmen: J. Eissler & Brüder, Josias Eissler & Söhne und die Bosnische Forstindustrie Eissler & Ortlieb. Von den mehreren hunderttausend Hektaren wurden jährlich mehrere tausend geschlagen. Auf Privatbahnen mit mehr als hundertfünfzig Kilometern Schienennetz und mit an die zwanzig Lokomotiven wurde das Holz gefördert. Arbeiter rodeten, fällten, schlichteten, verluden. In Kroatien besaßen die Eissler ein Gut, in Österreich hatten „J. Eißler und Brüder“ und ihre Gründung, die Holzbank, das Land ihren Einfluss spüren lassen, in Ungarn herrschte die Firma nach dem Zerfall der Monarchie als „Eissler es testvere“, als „Eissler i fratti“ in Rumänien und „J. Eissler bratri“ in der Tschechoslowakei. Heimito von Doderer hat dem Handelshaus und seiner „Holzbank“ in den Dämonen ein literarisches Denkmal gesetzt, Franz Theodor Csokor mit dem Schuss ins Geschäft die Tragödie der Ermordung des Firmenchefs durch seinen Cousin beschrieben.100

      Mit dem Ende der Brennholzwirtschaft hatte der Holzhandel seine Struktur grundsätzlich umorientieren müssen. Nutzholz wurde zu einem Exportprodukt, das in großen Dampfsägewerken geschnitten und verarbeitungsbereit gemacht wurde. Die Holzhändler legten sich Parquettenfabriken und Fournierwerke zu. Die Papier- und Zellulosefabriken stiegen als neue Großverbraucher ein. Auch wenn diese bestrebt waren, sich eine eigene Versorgungsbasis aufzubauen, waren sie doch auf den Handel als Vermittler angewiesen.

      

       Rangierte unter den reichsten Berlinern und Wienern zugleich: das Ehrengrab für den Kohlenhändler und Philanthropen Eduard Arnhold in Berlin-Wannsee.

      Neben die Holzhändler traten die Kohlenhändler. Das Durchschnittseinkommen der 17 reichsten Kohlenhändler war mit über einer Million Kronen unter allen Branchen am höchsten. Der Aufstieg des Kohlenhandels begann in den 1850er Jahren mit der Fertigstellung der ersten Bahnverbindungen. 1831 waren in Wien nur 3.000 t Mineralkohle verbraucht worden, 1850 schon etwa 50.000 t und 1890 bereits 727.000 t. Der Wiener Kohlenverbrauch hatte sich nach 1850 in jedem Jahrzehnt etwa verdoppelt.101 Die großen Kohlenhändler zementierten ihre Machtbasis in einer Verbindung von Kohlenförderung, Transportwirtschaft und Großverbrauchern ein. Die größten unter ihnen, die Gutmann, kontrollierten ein weit verzweigtes Geschäftsfeld. Im Einkommensranking standen sie gleich hinter den Rothschild. Wilhelm Isaak Ritter von Gutmann hatte sich zu Beginn der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts im damals aufstrebenden Kohlengeschäft zu etablieren begonnen und in weiterer Folge zusammen mit seinem jüngeren Bruder David die Firma „Gebrüder Gutmann“ gegründet. Mit Anselm von Rothschild, der die wichtigste Kohlenbahn, die Nordbahn, dominierte, übten sie monopolistischen Einfluss auf die Wiener Kohlenversorgung aus und beherrschten ab 1872 mit Witkowitz, zur Hälfte geteilt mit Rothschild, auch die größte Eisenhütte der Monarchie. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts bildeten die Gutmann eines der größten Wirtschaftsvermögen Österreichs und rückten zur zweitreichsten Familie der Stadt auf. Als David Ritter von Gutmann, der 1910 ein jährliches Einkommen von 3,541.097 Kronen versteuerte, 1912 verstarb, hinterließ er ein Nettovermögen von 19,368.192 Kronen. Zu den ganz großen Kohlenhändlern zählte auch die Familie Berl. Oskar v. Berl versteuerte 1910 ein Einkommen von 1,216.964 Kronen. Schon sein Vater war einer der größten Kohlenhändler Wiens gewesen und einer der Lieblinsgegner von Karl Kraus („der Kohlenwucherer Berl“ Fackel 59/​19, 1900). Karl Königer, Inhaber der Karl Königer & Sohn, versteuerte ein Einkommen von 908.332 Kronen. Josef Kaufmann war ebenfalls Gesellschafter der Firma Karl Königer & Sohn. Adolf Schramek, aus Lipnik in Mähren stammend, machte einen steilen Aufstieg im Wiener Kohlenhandel. In der Wiener jüdischen Gemeinde war er bekannt, weil er als Präsident des Tempelvereins „Am Volkert“ die große Synagoge in der Leopoldstadt, den vom Architekten Ignaz Reiser geplanten Pazmanitentempel (Pazmanitengasse 6), finanzierte. Julius Muhr, der 1910 mit einem Einkommen von 281.649 Kronen fast schon ein „armer“ Kohlenhändler war, starb am 9. April 1942 bei der Deportation nach Izbica. Der Macht des Kohlenhandels versuchte Karl Lueger nicht nur mit der Forderung nach Verstaatlichung der Nordbahn zu begegnen, sondern auch mit der Etablierung gemeindeeigener Kohlenhandelsfirmen.

      Die Wiener Kohlenhändler teilten sich den Markt mit den preußischen Kohlenmagnaten. Der Berliner Unternehmer, Kunstmäzen und Philanthrop Eduard Arnhold, der fast den gesamten Handel mit schlesischer Steinkohle am Berliner Markt in seine Hand gebracht hatte, machte auch in Wien glänzende Geschäfte und versteuerte 1910 in Österreich ein Jahreseinkommen von 1,284.189 Kronen. Er zählte zu den fünf reichsten Berlinern und rangierte auch in Wien unter den zehn größten Einkommenssteuerzahlern. Eduard Arnhold gehörte zweifellos zu den bemerkenswertesten Figuren, nicht nur als Kohlenhändler, sondern auch als Kunstsammler und Mäzen. Sein Aufstieg vom mittellosen Lehrling des Kohlenhändlers Caesar Wollheim über die Prokura zum Teilhaber und schließlich zum unumstrittenen Chef einer eigenen Kohlenhandelsfirma, die er seinerseits an die Spitze der Branche katapultierte, war bemerkenswert.102 Karoline Wollheim, die Witwe des Berliner Kohlenhandelsmagnaten Caesar Wollheim, versteuerte in Wien 1910 ein Jahreseinkommen von 424.853 Kronen. Auch der preußische Kommerzienrat Fritz Friedländer-Fuld, Inhaber der gleichnamigen Kohlengroßhandlung in Gleiwitz, und Käthe Hegenscheidt, die Witwe von Rudolf Hegenscheidt, des Inhabers der Kohlenfirma Emanuel Friedländer und Compagnie in Berlin, waren unter den Wiener Spitzenverdienern zu finden.

      Eine Handvoll Wiener Großhändler waren die Speerspitze des Kapitalismus in der Habsburgermonarchie: Sie waren Bankiers, Industrielle, Großgrundbesitzer und Großhändler in einem. Auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich gab es im Jahr 1902 im Warenhandel ungefähr 80.000 Hauptbetriebe mit insgesamt etwa 180.000 Beschäftigten. Diese Zahl entsprach 4 Prozent aller Berufstätigen. Über 80 Prozent von ihnen waren hauptberuflich im Handel tätig, der Rest hatte im Handel nur eine Nebenbeschäftigung. 45 Prozent der Berufstätigen im Handel waren selbständig. Dies und die große Zahl von Betrieben bedeutet, dass der durchschnittliche Handelsbetrieb klein war: In gut 40 Prozent der Betriebe arbeitete nur eine (in der Regel selbständige) Person. Unter den ohnehin nicht sonderlich zahlreichen Großbetrieben des Landes mit tausend Beschäftigten oder mehr gehörten kaum welche zum Handel. Im Unterschied dazu findet man unter den Speditionen auch große Unternehmen wie Schenker & Co. mit etwa 1.300 Mitarbeitern im Jahr 1913.103

      Die Struktur des Handels erklärt sich aus der Struktur der Wirtschaft. Nahezu zwei Drittel der Bevölkerung der Habsburgermonarchie waren noch in der Landwirtschaft und verstanden sich überwiegend als Selbstversorger, die nur beim Verkauf ihrer Produkte, von Getreide und Vieh, mit dem Handel in Kontakt kamen und alle heiligen Zeiten auf den Jahrmärkten sich einige städtische Konsumgüter nachschafften. 1902 gab es im Gebiet der späteren Republik Österreich ungefähr 3.500 Viehhändler, die fast ausschließlich als Betriebe mit ein bis zwei Personen