Jesus findet Muslime. Christiane Ratz

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Название Jesus findet Muslime
Автор произведения Christiane Ratz
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783961400102



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Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Leben ist dunkel. Gleich einem Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Hör mein Schreien und hilf mir …“

      Wieder und wieder las ich diese Worte. Sie verschafften mir seltsamen Trost.

      Ich bezahlte meine Fahrkarte und ging hoch aufgerichtet durch den Mittelgang. Ich ließ mich auf einem freien Sitzplatz nieder. Bleich und abgemagert starrte mich in den Scheiben des Busses mein Spiegelbild an, während draußen die Landschaft vorbeizog. Wie viele Jahre war es her, dass ich alleine mit dem Bus nach S. gefahren war? Immer noch wunderte ich mich, dass mein Mann mir erlaubt hatte, alleine zu fahren.

      Tags zuvor hatte ich meinen Bruder angerufen und ihn gebeten, mir zu helfen. Er holte mich am Bus ab, und zusammen fuhren wir zu seiner Wohnung. Während er seinen Wagen durch den dichten Nachmittagsverkehr lenkte, musterte ich ihn von der Seite. Mein großer Bruder hatte sich verändert. Sein Gesicht war weicher geworden. Er war ein starker Raucher gewesen, hatte ständig zu viel getrunken und eine Menge Probleme gehabt. Doch das war nicht der Grund dafür, dass meine Familie den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Eines Tages hatte meine Mutter mich angerufen und mir verboten, weiter mit meinem Bruder zu sprechen oder ihn zu besuchen. Er hätte sich von Gott abgewandt und sei Christ geworden, lautete ihre knappe Begründung. Da ich meine eigenen Sorgen hatte, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber. Ich gehorchte Mutter, ohne ihre Argumente infrage zu stellen. Wer sich mit Christen abgab, machte sich unrein. Und zudem könnte ich mich und meine Kinder mit einem christlichen Onkel in Lebensgefahr bringen. Doch nun brauchte ich ihn dringend, es war mir egal, was die Leute dazu sagen würden.

      „Lieber Bruder, du bist der Einzige, der den ‚Alten‘ dazu bringen kann, mir Geld zu bezahlen.“

      Ich versuchte meinem Bruder zu schmeicheln und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „Es ist ja nicht für mich, sondern für meine Kinder. Mehr will ich gar nicht. Er hat sich seit Jahren nicht um uns gekümmert. Es ist nicht mehr als recht und billig, dass er Unterhalt für sie bezahlt.“

      „Lass das Gott in Ordnung bringen.“

      Gott? Was für eine seltsame Antwort aus dem Mund meines großen Bruders, dem es doch sonst nie an prahlerischen Worten gemangelt hatte. Schon wieder fühlte ich Ärger in mir aufsteigen.

      „Das kann auch Gott nicht in Ordnung bringen.“

      Unablässig betete und schrie ich doch schon zu Gott, auch jetzt hatte ich meine Tasbih, die Gebetskette, bei mir und ließ sie pausenlos durch meine Finger gleiten. Ich versuchte dem Allmächtigen zu gefallen, doch das gelang mir ganz offensichtlich nicht. Es schien, als wären Gottes Ohren taub.

      Dass er längst unterwegs zu mir war, ahnte ich nicht.

      „Es tut mir leid, dass du so traurig bist, Shayah.“ Leila, die Frau meines Bruders, nahm mich bei meiner Ankunft herzlich in ihre Arme und küsste mich. Dann führte sie mich in ihr Wohnzimmer, in dem es nach meinem Lieblingsgericht duftete. Tatsächlich gab es Fisch mit Safranreis! Während wir aßen, berichtete ich den beiden von meinem Leben in I.

      Einmal fragte mein Bruder: „Möchtest du mit mir einen Hauskreis besuchen?“ Da ich immer aufgeschlossen für Neues bin und neugierig war, ging ich zusammen mit Leila und meinem Bruder dorthin.

      Lieder und Gebete empfangen uns.

      „Shaya, heute wirst du an Jesus glauben.“

      Lachend wehre ich die Worte des Pastors ab, fühle mich etwas überrumpelt. „Ich bin doch Muslima.“

      Obwohl ich noch nie unter Christen gewesen bin, beginne ich mich zu entspannen. Ich bin einfach da und sehe ihnen zu. Die Musik im Fernsehen gefällt mir. Alle singen mit und preisen Gott. Danach beten sie füreinander, so etwas kenne ich überhaupt nicht. Ich überlege: Zu ihnen zu gehören würde bedeuten, von der eigenen Familie verstoßen zu werden, so wie mein Bruder. Hinter vorgehaltener Hand würden die Leute tuscheln: „Shaya ist schmutzig, haltet euch fern von ihr.“

      Inzwischen verteilen sich alle im ganzen Raum, stehen oder sitzen in kleinen Gruppen beieinander und unterhalten sich ungezwungen. Wir trinken Tee, und es gibt Obst dazu.

      „Heute wirst du deine Knie vor Jesus beugen.“

      Warum kann mich dieser Pastor nicht in Ruhe lassen?

      „Hey, du kannst mich nicht zwingen.“

      „Shaya, probiere es doch mal eine Woche aus, mit Jesus zu leben. Und lade ihn ein, dein Gast zu sein. Wenn du dich gut fühlst, dann gib Jesus dein Leben. Einen Versuch könnte es wert sein, oder?“

      Das ist eigentlich keine schlechte Idee. Was habe ich schon zu verlieren? Schließlich wird es niemand merken, ob ich es eine Woche mit Jesus versuche.

      „Gerne würden wir für dich beten, Shaya. Möchtest du das?“

      Etwas zögerlich nicke ich und knie mich auf dem Fußboden nieder. Neben mir steht Leila, fest hält sie meine Hand. Der Pastor legt mit seiner Hand auch seine Bibel auf meine Schulter. Langsam spreche ich ihm das Gebet nach, das er mir vorbetet. Auf meiner Schulter wird es beinahe unerträglich heiß. Legt Jesus selbst mir gerade die Hand auf? Als der Pastor seine Hand wegnimmt, ist mir alle Last, die ich seit Wochen oder gar Jahren mit mir herumtrage, abgenommen. So gut, so leicht, habe ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt.

      Die Leichtigkeit fiel auch dann nicht ab, als wir nach Hause fuhren. Beim Abendessen berichteten mir Leila und mein Bruder abwechselnd, was sie mit Jesus erlebt hatten. Wie er ihr Leben lebenswert gemacht hatte.

      Ich nahm das Neue Testament, das mir Leila schenkte, mit in mein Zimmer. Es sollte sich dabei um den Teil der Bibel handeln, in dem am meisten über Jesus steht. Und ich begann darin zu lesen. Zufällig stieß ich auf eine Geschichte, in der Jesus über das Wasser geht. Es ist bereits Nacht, und Freunde von Jesus, in diesem Buch werden sie als seine Jünger bezeichnet, haben fürchterliche Angst. Sie dachten, Jesus wäre ein Gespenst.

      Irgendwann schlief ich wohl über dem Lesen ein. Zum ersten Mal seit meiner Scheidung, ohne zuvor ein Schlafmittel eingenommen zu haben.

       „Shaya, komm.“

       Ich stehe am Ufer, Wasser umspült angenehm meine nackten Füße. Aus der Dunkelheit kommt mir ein großer, weiß gekleideter Mann entgegen. Über das Wasser geht er auf mich zu, seine Hand ist freundlich nach mir ausgestreckt. „Komm Shaya, komm. Hab keine Angst.“

       Noch zögere ich, doch dann kann ich einfach nicht anders, als ihm entgegenzugehen. Ich gehe auf dem Wasser.

      „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was für ein Wasser das ist, in das man nicht einsinkt. Ich fühlte mich so wunderbar gut und leicht!“

      Aufgeregt erzählte ich Leila am Morgen von meinem Traum.

      „In der Bibel hat Jesus seinen Freund Petrus gebeten, über das Wasser zu ihm zu kommen. Sieh her, hier lese ich dir diese Stelle vor:

      Das Boot mit den Jüngern war inzwischen weit draußen auf dem See.

      Der Wind trieb ihnen die Wellen entgegen und machte ihnen schwer zu schaffen.

      Im letzten Viertel der Nacht kam Jesus auf dem Wasser zu ihnen.

      Als die Jünger ihn auf dem Wasser gehen sahen, erschraken sie und sagten:

      „Ein Gespenst!“, und schrien vor Angst.

      Sofort sprach Jesus sie an: „Fasst Mut! Ich bin‘s, fürchtet euch nicht!“

      Da sagte Petrus:

      „Herr, wenn du es bist, dann befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!“

      „Komm!“, sagte Jesus.

      Petrus stieg aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus.

      Als er dann aber die hohen Wellen sah, bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: „Hilf mir, Herr!“

      Sofort streckte Jesus seine Hand aus, fasste Petrus und sagte:

      „Du