77 Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin. Группа авторов

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Название 77 Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin
Автор произведения Группа авторов
Жанр Медицина
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Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783954660131



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      Fehlervermeidung

       Alle Unfallbeteiligten sind Patienten.

       Keine individualmedizinischen Maßnahmen vor kompletter Sichtung aller Unfallbeteiligten.

       Auch bei wenigen Unfallbeteiligten immer eine erste Triage durchführen, Prioritäten setzen und für ausreichende Nachforderung von Rettungsmitteln sorgen.

       Keine voreilige Abbestellung von anfahrenden Rettungsmitteln.

       Nachforderung von Rettungsmitteln erst nach kompletter Sichtung.

       Die erste Sichtung hat nie den Anspruch, definitive Diagnosen zu stellen, sie dient lediglich zur Festlegung der organisatorischen Entscheidungen und der ersten Behandlungsprioritäten.

       Nach einer solchen Sichtung muss die Situation deshalb also immer noch als „dynamisch“ verstanden und gegebenenfalls flexibel auf sie reagiert werden.

       Man sollte sich niemals durch aufgeregte Patienten von den eigenen Prinzipien abbringen lassen.

      Die Besatzung eines Rettungswagens wird zu einer 35-jährigen Patientin entsandt, deren Angehörige den Rettungsdienst wegen starker Atemnot bei extremer Unruhe riefen.

      Die Besatzung des RTW trifft auf eine agitierte Patientin, die kaum ansprechbar am Küchentisch sitzt und nach Luft ringt. Die Haut ist kühl, die Atemfrequenz beträgt 36/min. Ein Blutdruck kann aufgrund der Unruhe der Patientin nicht gemessen werden. Ein schneller, flacher Puls ist an der Arteria radialis tastbar.

      Die Angehörigen sind ebenso beunruhigt wie die Patientin selbst und drängen Rettungssanitäter und -assistenten, endlich Hilfe zu leisten. Die Rettungsdienstmitarbeiter stellen die Diagnose „Hyperventilation“ und versuchen nun, die aufgeregte Situation in der Küche der Erdgeschosswohnung dadurch zu entschärfen, dass sie die Patientin unter den Achseln fassend vom Küchenstuhl hochziehen und langsam gehend in den auf dem Hof bereitstehenden Rettungswagen bringen. Hier applizieren sie eine Gesichtsmaske als Rückatemmaske und drücken diese Maske mit sanfter Kraft und unter beruhigendem Zuspruch auf das Gesicht der Patientin. Der zweite Mitarbeiter legt ein Pulsoxymeter an. Dieses gibt jedoch wegen der kühlen Peripherie der Patientin kein Signal.

      Weil sich die Atemnot der Patientin nicht legt und sie zudem zyanotisch wird, alarmieren die Einsatzkräfte den Notarzt nach. Wenige Minuten später erleidet die Patientin einen Herz- und Atemstillstand, und die Rettungsdienstmitarbeiter beginnen mit der Wiederbelebung.

      Der etwa zehn Minuten nach der Alarmierung eintreffende Notarzt findet eine intubierte Patientin vor, die nach Gabe von 2 x 1 mg Adrenalin einen tachykarden supraventrikulären Rhythmus aufzeigt.

      Zwischenzeitlich geben die Angehörigen auf Nachfrage einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus an. Es sei jedoch in den letzten Monaten zu keiner Besonderheit gekommen.

      Die Kapnometrie ergibt einen Wert von 62 mmHg bei einem Atemminutenvolumen von 8 l/ min, und der arterielle Blutdruck beträgt nunmehr 90/50 mmHg. Bei der Blutzuckermessung zeigt das Gerät den Wert „High“, liegt also jenseits der für das Gerät bestimmbaren Grenze von 600 mg/dl.

      Die Patientin wird auf die Intensivstation des regional zuständigen Krankenhauses aufgenommen. Dort wird ein Blutzucker von 763 mg/dl bestimmt und innerhalb der nächsten Stunden auf Normalwerte herunterreguliert. Die Klinik der Patientin bessert sich zusehends, und bereits am Morgen des Folgetages kann sie extubiert werden. Wach und orientiert wird sie am 4. Tag nach der Aufnahme von der Intensivstation auf die normale Pflegestation verlegt.

      Hintergrund

      Die Hyperglykämie beim Coma diabeticum entwickelt sich meist langsam und führt typischerweise zu Dehydratation, trockener Haut, metabolischer Azidose und Acetongeruch. Hinzu kommt häufig die sogen. Kussmaul-Atmung, durch die der Patient versucht, die metabolische Azidose zu korrigieren.

      Im Gegensatz zur Hyperventilation, bei der ein niedriges CO2 durch eine Vasokonstriktion der hirnversorgenden Gefäße zu einer Bewusstseinsstörung führt, ist diese beim Coma diabeticum eher als Folge einer intrazellulären Dehydratation zu werten.

      Die Mitarbeiter des Rettungsdienstes ließen sich von den Angehörigen bedrängen, sofort tätig zu werden und unterließen eine ausführliche Anamneseerhebung und klinische Untersuchung. Hier wäre durch eine einfache Messung des Blutzuckers aufgefallen, dass die Werte derart erhöht waren, dass sie das Gerät nicht mehr anzeigte. Ein strukturiertes Vorgehen zur Untersuchung von akut erkrankten Patienten ist insofern unerlässlich.

      Fehler und Gefahren

       Das Rettungswagenteam hat sich von den Angehörigen zu Maßnahmen drängen lassen, ohne eine Anamneseerhebung und Untersuchung durchzuführen.

       Die Patientin wurde gehend zum Rettungswagen geführt, wodurch der Zustand der Atemnot eher verschärft wurde.

       Eine Hyperpnoe muss von einer Hyperventilation unterschieden werden.

       Es wurde kein Blutzucker gemessen.

       Die Atmung der Patientin wurde durch die Rückatemmaske behindert.

      Fehlervermeidung

       Bei allen bewusstseinsgestörten Patienten muss der Blutzucker bestimmt werden.

       Grundsätzlich Erhebung der Anamnese und standardisierte Durchführung einer klinischen Untersuchung.

      Um 02:30 Uhr ruft ein Hausarzt den NAW zur Unterstützung zu einem Patienten mit einer stark blutenden Handverletzung.

      Beim Eintreffen liegt ein junger Mann in einem dunklen kleinen Zimmer auf dem Bett. Der Patient ist ansprechbar, blass, kaltschweißig und offenbar unter starkem Alkoholeinfluss. Im Zimmer finden sich zahlreiche Blutspuren. Der Hausarzt berichtet, dass der Patient sich mit einer zerbrochenen Flasche versehentlich in den volaren Handgelenkbereich rechts geschnitten habe. Die Wunde wurde mit einem Druckverband versorgt. Zusätzlich erhielt der Patient einen periphervenösen Zugang, worüber eine Infusion läuft. Der Notarzt stellt einen Blutdruck von 110/80 mmHg und einen Puls von 90/min fest. Eine schnelle Untersuchung der Handbewegungen weist auf mehrere Beugesehnenverletzungen hin. Der Verband ist nicht durchgeblutet. Der stabile Patient wird mit dem NAW ohne weitere Untersuchungen in eine Klinik mit handchirurgischer Abteilung eingeliefert. Während des Transports und bei Übergabe in der Klinik ist der Patient weiterhin stabil.

      In der Klinik wird der Patient auf die Operation vorbereitet und – wegen der arteriellen Gefäßverletzung – relativ schnell in den OP gebracht. Beim Abwaschen der Hand stellt der Handchirurg fest, dass der Patient auch eine Stichverletzung im rechten oberen Bauchbereich hat. In den darauf folgenden Untersuchungen stellt sich eine Dickdarmverletzung dar, die unverzüglich, noch vor der Handverletzung, operativ versorgt werden muss.

      Die spätere Vervollständigung der Anamnese ergibt, dass der Patient sich nicht selbst verletzt hat, sondern bei einem Streit von einem Verwandten mit einem Messer angegriffen worden war.

      Hintergrund

      Jede Versorgung eines Trauma-Patienten muss nach einem standardisierten Protokoll erfolgen. Dazu zählt neben der Evaluierung und Stabilisierung der Vitalfunktion auch die Ganzkörper-Untersuchung. Um Verletzungen nicht zu übersehen, muss dazu der Patient immer möglichst vollständig entkleidet und auch so gedreht werden, dass der gesamte Rücken eingesehen werden kann. Zusätzlich sollte ein festes Schema – am besten vom Kopf bis zum Fuß – eingehalten werden. Oftmals ist eine Verletzung so imposant, dass der Helfer sich damit vordringlich beschäftigt, ohne die