Bis zum Äußersten. Rongliang Zhang

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Название Bis zum Äußersten
Автор произведения Rongliang Zhang
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765574481



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um erneut mein „Geständnis“ zu schreiben, wusste ich: Was ich jetzt schrieb, hatte die Macht, über meine Zukunft zu entscheiden. Fragte sich nur, was für eine Zukunft ich wollte. Ich hatte die Wahl: Glück oder Leiden, die Partei oder Jesus, Freiheit oder Gefängnis, die Welt oder den Himmel – ewigen Tod oder ewiges Leben.

      Ich konnte nichts essen und nicht schlafen. Ich kniete mich vor dem Herrn hin und begann zu beten. Bald stand ich wieder auf, entschlossen, das zu schreiben, was ich schreiben musste. Was gab es noch groß zu überlegen? Ich hatte doch längst beschlossen, Jesus nachzufolgen, und hatte nicht die Absicht umzukehren. Gerne hätte ich meine Position in der Partei behalten, aber mich von meinem Herrn und Erlöser abzuwenden − unmöglich!

      Ich begann wieder zu beten. Ich spürte, wie Jesus neben mir stand, und dann kam mir plötzlich eine Bibelstelle in den Sinn. Gott legte die folgenden Worte aus dem Hohelied Salomos in mein Herz: „Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, sodass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so könnte das alles nicht genügen“ (Hoheslied 8,6-7).

      In diesem Augenblick bekam ich die Kraft, meine Entscheidung zu treffen. Ich sagte: „Jesus, du bist mein Ein und Alles. Du bist mir das Wichtigste im Leben. Wen sonst könnte ich wählen als dich?“

      Am Morgen gab ich meinen Brief in der Parteizentrale ab. Er endete mit den Worten: „Ich gehöre zu Jesus Christus. Er hat mir eine so große Erlösung geschenkt, dass alles andere klein dagegen ist.“

      Es waren mehrere Personen im Büro, als ich meinen Brief abgab. Der Funktionär, der den Brief entgegennahm und las, wurde rot im Gesicht. „Ist das Ihr Ernst?“

      „Jawohl“, sagte ich mit fester Stimme.

      „Sie spielen mit Ihrem Leben! Sind Sie ganz sicher, dass Sie das nicht bereuen werden?“

      „Ganz sicher“, erwiderte ich.

      Man entließ mich. Als ich das Büro verließ, spürte ich eine plötzliche Freude in mir, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Aber es macht einen froh und getrost, wenn man weiß, dass man das Richtige getan hat − auch wenn man gleichzeitig weiß, dass es einem eine Zukunft bringen wird, die nicht leicht ist.

      6. Verhör, Folter, Arbeitslager

      Am 2. Juni 1971 wurde ich aufgefordert, mich auf der Polizeiwache der Stadt zu melden. Während ich dort war, wurden mehrere Beamte zu meinem Haus geschickt, um nach meiner Bibel und etwaigen anderen religiösen Schriften zu suchen. Ich wusste, dass sie die Bibel nicht finden würden. Ich lieh sie oft aus und wir sorgten dafür, dass sie nie längere Zeit im selben Haus war, damit die Polizei sie nicht so leicht finden konnte. Wenn ich sie bei mir zu Hause hatte, versteckte ich sie oft irgendwo in den Bergen unter einem Stein, was sich jedoch als problematisch erwies, denn dort wurde sie oft vom Regen nass. Während ich in der Polizeiwache saß, stellte der Fahndungstrupp mein Haus auf den Kopf. Die Polizisten wussten, dass ich eine Bibel hatte, aber ich weigerte mich, ihnen zu sagen, wo sie war, und sie konnten sie nicht finden. Alles, was sie fanden, war ein Gesangbuch, aber ihrem triumphierenden Gehabe nach hätten es genauso gut tausend Bibeln sein können. Sie empfahlen ihren Vorgesetzten sofort, mich wegen Besitzes verbotener Schriften vor Gericht zu stellen. Ich wusste, dass ein Gesangbuch nicht dasselbe war wie eine Bibel, aber in den Augen der Parteifunktionäre war es genauso belastend für mich.

      Kurz bevor ich im Taufgottesdienst erwischt worden war, hatte ein älterer Christ Lob- und Danklieder vor sich hin gesungen. Ein Parteifunktionär hatte ihn gehört und gefragt, was er da sang. Als der alte Herr es ihm erklärte, fragte der Funktionär ihn: „Hassen Sie den Sozialismus? Hat die Partei Sie nicht gut behandelt? Versuchen Sie sich als Klassenkämpfer?“ Der alte Mann wurde angezeigt und zu vier Jahren in einem Umerziehungslager verurteilt.

      Jetzt musste ich denken: Wenn der vier Jahre gekriegt hat, weil er Lieder sang, beantragen die bei mir vielleicht die Todesstrafe, weil sie ein ganzes Liederbuch gefunden haben.

      Als der Hausdurchsuchungstrupp zurückkam, hatte er das Gesangbuch dabei. Die Beamten hielten es hoch und zeigten allen ihren Schatz. Dann sahen sie mich an. „Wo haben Sie das her? Wer hat Ihnen dieses Buch gegeben?“

      „Niemand. Die Lieder in dem Buch habe ich selbst geschrieben.“

      „Sie − die Lieder geschrieben? Unmöglich! Dafür sind Sie viel zu dumm. Sie haben noch nicht mal die Schule abgeschlossen und können nur mit Mühe und Not lesen, geschweige denn Lieder schreiben!“

      Die Fragen wurden immer bohrender und es dämmerte mir: Ich würde nicht mehr zurück nach Hause kommen. Jetzt verhörte ich nicht mehr andere, jetzt wurde ich selbst verhört. Der Spieß war umgedreht. Was ich früher anderen über den Umgang mit „Konterrevolutionären“ beigebracht hatte, fiel jetzt auf mich selbst zurück. Ich verspürte keine Lust herauszufinden, wie gelehrig meine Schüler gewesen waren.

      Man steckte mich in eine Einzelzelle, wo das Verhör weiterging. „Wo haben Sie das Buch her? Wer hat es Ihnen gegeben? Wer schmuggelt diese Bücher?“

      Ich antwortete nicht. Ich merkte, wie ich immer hungriger wurde. Sie hatten angefangen, mir nichts mehr zu essen zu geben, um meinen Widerstand zu brechen. Erst Essensentzug, dann Schlafentzug. Ich kannte das System, aber diesmal saß ich zum ersten Mal auf der anderen Seite des Verhörtisches. Ich wusste, was kommen würde, und dieses Wissen machte mir meine Lage nicht leichter.

      Die kommunistische Ideologie hat furchtbare Auswirkungen auf die Seelen der Menschen. Sie löscht das Individuum als Person aus. Und nicht nur der Kommunismus tut dies, sondern im Grunde jede Lehre und jede gesellschaftliche Institution, die den Glauben an Gott systematisch zerstört. Christen wissen, dass sie alle Brüder und Schwestern in Jesus Christus sind; sie sind eine große Familie. Sie wissen auch, dass selbst die Menschen, die nicht an Christus glauben, nach Gottes Bild erschaffen sind. Und sie kennen die „goldene Regel“: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ (Lukas 6,31) Ein Mensch, der mit Jesus Christus verbunden ist, kann unmöglich foltern, denn er versetzt sich unwillkürlich in die Rolle des Gefolterten. Es ist unmöglich für einen echten Christen, einem Folteropfer ins Gesicht zu blicken, ohne sich mit ihm solidarisch zu fühlen, gerade so, als würde er selbst soeben geschlagen.

      Diese Solidarität, diese Mitmenschlichkeit nimmt der Atheismus weg. Der chinesische Kommunismus hat damals die Gesellschaft entmenschlicht. Er sah die Menschen, der Evolutionsideologie folgend, als höher entwickelte Tiere. Der Einzelne war kein Mensch mehr, sondern nur noch ein austauschbares Stück Material. Die Staatsideologie kannte keine Söhne und Töchter, Mütter und Väter, Brüder und Schwestern mehr, sondern nur noch das Kollektiv der Rädchen im Getriebe, die gefälligst mehr zu produzieren hatten, als sie verbrauchten.

      Es war nicht leicht für mich, dort in dieser Zelle zu sitzen und darüber nachzudenken, was für eine hohe Position ich in der Partei gehabt und wie ich ihr mit allem, was ich hatte, gedient hatte. Mir dämmerte, wie falsch es gewesen war, mich dem Kommunismus anzuschließen. Das war der Anfang meines Abschieds von all den falschen, naiven Vorstellungen, die ich von der Partei gehabt hatte.

      Die Worte Mao Zedongs hörten auf, mich zu begeistern. Die „Mao-Bibel“ sagte mir nichts mehr. Stattdessen fand ich meine Kraft und Freude allein in der Bibel − dem Buch meines Herrn und Heilands, der mich nie im Stich lassen würde (vgl. zum Beispiel Hebräer 13,5).

      Ich wurde jeden Tag verhört. Da ich nichts zu essen bekam, wurde ich immer schwächer. Die Wärter schlugen mich zu Boden und traten mich. Jeder Schlag schoss mir durch den ganzen Körper − immer stärker, je schwächer ich vor Hunger wurde. Die Verhörbeamten verloren die Geduld und ich war am Rande der Bewusstlosigkeit.

      Am dritten Tag war ich total fertig vom Hunger und den Schlägen. Die Sommerhitze war furchtbar. Es gab kein Bett und der Fußboden war hart. Ich versuchte, zum Schlafen die kühlste Stelle zu finden, damit ich nicht so schwitzte. Denn ich wusste: Je mehr ich schwitzte, umso mehr würde mein Körper austrocknen. Aber irgendwann wurde mir das egal vor lauter Schwäche.