Название | Gregorsbriefe |
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Автор произведения | Gregor Schorberger |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957712844 |
Frankfurt am Main, 21. November 2016
Lieber Papa,
gerade hat die Türklingel geläutet. Ich habe für Burkhard vom Briefträger einen großen Einschreibebrief entgegengenommen. Burkhard bekommt täglich wegen seiner Baustelle im Kaufhaus H&M auf der Zeil Post. Zum Glück hat der Briefträger nur eine Treppe bis zur ersten Etage zu ersteigen, um die Geschäftspost, sofern sie nicht in den Briefkasten geht, bei mir abzugeben. An der Tür sagte ich zu ihm: »Warten Sie noch einen Moment. Ich möchte Ihnen etwas geben. « Weiß ich doch aus eigener Erfahrung, was es heißt, bei Wind und Wetter und gerade bei trübnassem Novemberregen wie heute als Briefträger unterwegs zu sein. Mit erstauntem und dankbarem Blick nahm der junge attraktive Zusteller das kleine Trinkgeld in seine kaltgefrorenen Hände.
Im Rückblick auf längst vergangene Zeiten bin ich überrascht, im Alter von 14 Jahren bei der Post gelandet zu sein. Als ich im April 1962 die Ausbildungszusage erhielt, Papa, freutest Du Dich sehr mit mir. Dir war vor allem wichtig, dass ich über eine spätere Beamtenstellung zeitlebens abgesichert sein würde. Mir selbst hätte keine andere Lehre besser als die bei der Post gefallen können. Die vielseitige Praxis im Zustellungs-, Paket- und Zeitungsdienst, verbunden mit dem theoretischen Lernen, machte mir Spaß. Begeistert hatte ich die gerade eingeführten Postleitzahlen studiert. Schnell lernte ich außerdem alle Bahnstrecken im Ruhrgebiet auswendig, obgleich ich nie in einem Postzug mitfahren sollte.
Im zweiten Lehrjahr bekam ich aufgrund des sehr kalten Winters auf dem Paketwagen Gelenkrheumatismus. Drei Monate lang war ich stationär im St. Josef-Krankenhaus in Gelsenkirchen-Horst in Behandlung. Obwohl an meiner Berufskrankheit unschuldig, bestrafte mich die Postdirektion mit einer vierteljährigen Ausbildungsverlängerung. Vergeblich versuchten meine Altenessener Vorgesetzten, die Verlängerung mit dem Hinweis zu verhindern, dass ich in Essen von 60 Schülern als Lehrgangsbester ausgezeichnet worden war. Somit konnte ich nicht mit meinen Essenern Postlehrlingen zusammen den Abschluss machen, sondern musste als einziger nach Düsseldorf zur Prüfung, was zur Folge hatte, dass ich statt der erwarteten sehr guten Abschlussnote nur eine befriedigende Durchschnittsnote erhielt. Diese enttäuschende Nachricht war für mich so bitter, dass ich auf dem Rückweg ganz depressiv am Düsseldorfer Hauptbahnhof stand. Der Aufstieg in den Mittleren Dienst blieb mir damit verschlossen. Meine neue Berufsbezeichnung »Postschaffner zur Anstellung« erhielt ich feierlich vom Postamtmann in Essen-Altenessen ausgehändigt. Du, Papa, jubeltest über dieses Papier, mit dem ich als Beamter im einfachen Dienst bestätigt wurde. War doch jetzt Dein stets kranker, schwacher Sohn in scheinbarer sozialer Sicherheit.
Ich fühlte mich nach der Postlehre so, als sei alles zu Ende, als ginge nichts mehr weiter, als wäre alles umsonst gewesen, als müsste ich immer schwach und krank bleiben. Dennoch führte mich dieser Zustand als 15jähriger erstaunlicherweise nicht in die Verzweiflung. Dank Mamas Gebetsanleitungen, der Kommunionkind- und Messdienererfahrung war in mir der christliche Glaube vor allem in den unendlich langen Krankenhauswochen zu einer stattlichen grünen Pflanze mit vielen Ablegern herangewachsen. Aber, Papa, auch Deine Worte und Dein zuversichtlicher Blick am Krankenbett – »Es wird täglich besser!«, »Nur noch kurze Zeit und Du bist wieder zu Hause«, »Wenn Du nur gut zu Hause isst und trinkst, wirst Du wieder ganz gesund!« – waren im Sommer 1963 für mich überlebenswichtig.
Als Briefträger war ich oft in den Bergmannssiedlungen des Altenessener Nordens eingesetzt. Diese einfachen Menschen wuchsen mir ans Herz. Ich freute mich, mit ihnen über Glückwunsch- oder Urlaubspost und Geldzuweisungen zu reden. Ebenso litt ich mit ihnen bei schlechten Nachrichten durch Trauerbriefe, Gerichtsbriefe und nicht bezahlte Rechnungen. Monatlich bekamen die Bergleute die Gewerkschaftszeitung »Werk und Wir«, die meine Tasche dermaßen beschwerte, dass ich erneut Knieschmerzen bekam. Auch andere Krankheitssymptome in den Füßen und Beinen, Schmerzen in der Magen- und Herzgegend überfielen mich in den ersten Jahren nach meinem Krankenhausaufenthalt. Hatte ich dazu noch Kopf- und Ohrenschmerzen, Übelkeit und Schwindel, dann musste ich mich krankschreiben lassen, da ich nicht fähig war, meinen großen Bezirk zu meistern. Von manchen Postvorgesetzten erhielt ich Mitleid, sodass sie mich wegen meiner erlittenen Krankheitsrückfälle zeitweise für den Innendienst in der Zeitungsstelle des Postamtes freistellten.
Nach meinem langen Krankenhausaufenthalt wurden wir beide uns wieder so fremd, dass wir uns gegenseitig ständig auf die Nerven gingen. Nichts, aber auch gar nichts konnte ich Dir recht machen. Deine Schimpftiraden habe ich noch heute im Ohr: »Ständig gibst du Widerworte!«, »Zum tausendsten Mal habe ich dir gesagt, nimm die Hände vom Gesicht!«, »Wenn du mich noch einmal so anguckst, schmeiße ich dich die Treppe hinunter!«. Ständig hattest Du mit strafendem Blick etwas an mir auszusetzen. Aus jedem Fehlverhalten meinerseits machtest Du eine gewaltige Sache. Als ich Dich auf dem Hof nicht mit »Guten Morgen!« begrüßte, warst Du so verärgert, dass Du auf meinen Zuruf: »Du sollst mich nicht so anschreien!«, resigniert sagtest, ich solle meiner Wege gehen, dann hättest Du endlich Ruhe vor mir und ich vor Dir. Mama sagte mir oft genug mit traurigem Gesichtsausdruck nach solchen Ereignissen: »Nimm Papas Aussagen nicht so ernst, du musst dich wieder mit ihm vertragen, Papa hat es nicht so gemeint.« Statt von zu Hause fortzulaufen, wie ich es öfter nach solch einem Vorfall vorhatte, blieb ich auch diesmal, aus Liebe zu Mama. Mit meiner Empörung blieb ich indes allein. Auf andere Gedanken kam ich einerseits im Klagegebet an Gott und andererseits, indem ich alles in mein Tagebuch niederschrieb.
»Die 175er« nanntest Du, Papa, in meiner Jugendzeit während der 1960er Jahre Männer, die Männer lieben, wie mir kürzlich Marlene und Christiane berichteten. Wer diese Menschen waren und auf welche Weise Du mit ihnen dienstlich zu tun hattest, erfuhren wir damals von Dir nicht. Aus heutiger Sicht ist mir klar, dass »die 175er« eine der indirekt diskriminierenden Bezeichnungen für homosexuelle Männer ist. Fühltest Du, Papa, Dich als 21jähriger junger Mann in Deiner Männlichkeit durch solche Männer bedroht bzw. gezwungen, Deinen eigenen homoerotischen Anteilen begegnen zu müssen? Ob auch Du mit dem völkischen Nationalismus sympathisiert hast, der schon in der Kaiser- und Weimarer Zeit seine generelle Verachtung von Minderheiten wie jüdischen Familien, Sinti und Roma sowie homosexuellen Menschen proklamierte? Die diskriminierende Politik der Kirchen gegenüber homosexuellen Menschen hat schon in der Weimarer Zeit auch Deine und Deiner Familie prüde Sexualmoral maßgeblich beeinflusst. Wie konntest Du Dich über Erichs graziöse Ballettaufführungen in unserer Wohnung freuen und mit ihm und seinen Eltern befreundet bleiben, während gleichzeitig friedliebende schwule Männer wegen des § 175 in Essen verhaftet wurden? Als junger Essener Polizist der 1930er Jahre war Dir das schwule Lokal »Eldorado« bekannt. Weit über Essen hinaus war dieses neben anderen schwulen Lokalen beliebt und gesellschaftlich anerkannt. Heute steht auf der Gedenktafel am Geringplatz in Essen: Bis zum 2. Mai 1933 befand sich in diesem Haus unter dem Inhaber Willi Hartenfels das Tanzlokal »Essener Eldorado«, ein beliebter Treffpunkt homosexueller Männer und Frauen. Mit seiner Schließung begann die systematische Ausgrenzung von Schwulen und Lesben in Essen. Die von der Gestapo durchgeführte Aktion gegen Homosexuelle zerstörte das Leben der Betroffenen. Willkürliche Schutzhaft, Misshandlungen und Internierung in Konzentrationslagern gehörten zum Schicksal von Männern, die Männer liebten. Frauen, die Frauen bevorzugten, galten als »asozial«. Durch den § 175 StGB noch bis 1994 kriminalisiert, wurden die Opfer totgeschwiegen. Welche Kuriosität, dass gerade mein Verlag an der Technischen Universität Dortmund mit dem gleichen Namen »Eldorado« meine Dissertation »Studie zum Projekt: schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf« kostenlos ins Internet gestellt hat.
Sind es zwei oder mehrere Seelen in Deiner Brust, mit denen Du als Polizeiangehöriger vor und nach dem Zweiten Weltkrieg im Umgang mit homosexuellen Menschen zurechtkommen musstest? Nicht selten sah ich Dich, Papa, mit einem traurigen, wehmütigen oder nachdenklichen Blick in die Ferne schauen und fragte mich schon damals, woran Du Dich wohl gerade erinnert hattest und was in Dir vorging. Heute bedauere ich, Dich nicht gefragt zu haben. Mama habe ich auch nicht gefragt, wie sie als junge gebildete Frau die Hetze von Kirche und Staat gegen homosexuelle Menschen oder jüdische Kinder, Frauen und Männer in Kamp-Lintfort und später in Essen erlebt hat. Bei Mama vermute ich zu diesen Themen ein noch stärkeres absolutes Tabu als bei Dir, Papa. Die Reaktion Mamas mit abweisendem Blick im Januar 1965: »So was muss man doch nicht zeigen« auf eine Fernsehreportage veranlasste mich, in mein Tagebuch zu schreiben: