Gregorsbriefe. Gregor Schorberger

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Название Gregorsbriefe
Автор произведения Gregor Schorberger
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783957712844



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besuchte. Heute ist mir der Theaterbesuch zu aufwendig. Ich mag nicht, rechtzeitig Eintrittskarten zu besorgen, besondere Kleidung zu tragen und mich in einem bürgerlichen Milieu zu bewegen, das nicht meines ist. Du, Papa, hattest weder an Kinobesuchen noch am Theater Interesse, freutest Dich aber mit uns über diese Abwechslung im Alltag.

      Ich erinnere mich gut an die ersten Ballettaufführungen des Nachbarn Erich Wecker in unserer kleinen Wohnung. Auf Deine Einladung hin kam dieser in Sprache und Gestik feminin wirkende junge Mann zu Besuch. Erich hatte keine Scheu, uns an seinem Balletttraining teilhaben zu lassen. Du, Papa, warst nach seinen graziösen Vorstellungen voll des Lobes, was ihn wiederum freute. Auf Mamas Frage, ob er inzwischen eine Freundin hätte, erklärte Erich ihr, dass er kein Interesse an Frauen habe. Noch vor seinen Auftritten in unserer Küche flüsterte er mir seinen Künstlernamen Konstantin zu. Ich fühlte mich dadurch von ihm geehrt. Mit Argusaugen bekam ich als Kind mit, dass Konstantin ein anderer Mann als meine Onkel Paul und Konrad war. Dass ich anders empfand als andere Jungen, durfte aber damals nicht bekannt werden. Schon im Alter von acht Jahren gab es ein strenges verinnerlichtes Tabu, öffentlich über meine Zuneigung zu einem Jungen zu schwärmen, was bei meinen Schwestern selbstverständlich toleriert wurde. Hatte ich als Kind nur Tierbilder über meinem Bett hängen, so erlaubte ich mir erst zu Studienbeginn 1971 in meinem Freiburger Studentenheim Poster von Balletttänzern, die mir in ihrer erotischen Ausstrahlung gefielen.

      Zu Hause in Karnap hatten wir es geschafft: von der Zwei-Zimmer-Wohnung neben der Polizeiwache im Erdgeschoss über der Gefängniszelle in eine Drei-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage. Der unaufhaltsame Aufstieg der Familie Schorberger. Wie wir die gemeinsame Toilette und Badewanne mit der in dieser Etage in zwei Zimmern wohnenden Familie Samer, Eltern und drei Kinder, geregelt haben, ist mir bis heute ein Rätsel. Dennoch haben wir uns vertragen, und selbstverständlich nahmen sie, obgleich evangelisch, an meiner ersten Kommunionfeier am Weißen Sonntag 1957 teil. Ich genoss es, an diesem Tag im Mittelpunkt nicht nur von Familie, Verwandten und Nachbarn zu stehen, sondern auch des gesamten Stadtteiles Essen-Karnap. Bei diesem Kommunionfestgottesdienst erstrahlte die Kirche im vollen Glanz. Angesichts des Hochfestes Mariens, der unbefleckten Empfängnis, habe ich als Kind wegen unserer Gefängniszelle im Haus allen evangelischen Nachbarn erzählt, dass wir als Katholiken das Fest »Maria im Gefängnis« feiern. Erst durch den Kommunionunterricht erfuhr ich den eigentlichen Grund des Hochfestes: Maria ist von ihren Eltern Joachim und Anna ohne Erbsünde geboren worden. Für mich, Papa, ist diese Erbsündenlehre, die sich auf die Schuld von Adam und Eva bezieht, eher ein Mythos als ein Geheimnis des Glaubens. Ohne es richtig benennen zu können, fühlte ich mich schon als Kind oft schuldig, nicht wegen der oberflächlichen »Sünden« wie ich habe genascht, ich habe den Eltern widersprochen, ich habe die Hühner gejagt, sondern wegen etwas nicht in Worte zu Fassendes. Befreit und erleichtert fühlte ich mich dann jeweils nach der Beichte durch die Vergebung der Sünden. Dank Jesu Barmherzigkeit konnte ich danach glücklich an der Kommunionfeier teilnehmen.

      Beim Nachhauseweg am Kommuniontag trug ich würdevoll die Kerze über die Karnaper Straße an der Seite meines Mitschülers Axel, der meine tiefe Zuneigung zu ihm leider nicht erwiderte. Du, Papa, hattest in der Woche zuvor viele unserer Tiere geschlachtet, um die Festgäste, die Verwandten aus Kamp-Lintfort und Altenessen sowie die Hausnachbarn, zu beköstigen. Mama hat mit Hilfe ihrer Geschwister tagelang Kuchen gebacken und das Festessen vorbereitet. Ich hatte zum ersten Mal einen Anzug mit weißem Hemd und Fliege an. In diesem Kleidungsstück, das ich nach der Kommunionfeier selten trug, habe ich mich immer unwohl gefühlt. Ganz neue Kleider, und zwar einen kurzen roten Rock mit einem weißen Rochetthemd, erhielt ich danach auch zum Dienen in der Messe. Stolz trug ich in der kleinen Schar der Messdiener während der Messfeier die Kerze. Später durfte ich dem Priester Wasser und Wein zur Gabenbereitung reichen und das Weihrauchfass mal mehr, mal weniger heftig schwenken. Als kleiner Knirps von elf Jahren war ich plötzlich eine Person des öffentlichen Auftritts geworden. Besonders ehrenhaft war für mich, bei der Fronleichnamsprozession und bei den Wallfahrten nach Kevelaer eine Fahne tragen zu dürfen.

      In den Messdienerstunden erhielten wir kleine Hefte mit Bildergeschichten, die von Wundern und biblischen Erzählungen handelten. Ganz aufmerksam hörte ich zu, als vom Schilfmeer die Rede war, in dem Moses im Körbchen ausgesetzt worden war, oder von Abrahams großen Karpfen im Teich von Urfa in Mesopotamien. Besonders aufgewühlt hat mich die Erzählung von der innigen Freundschaft des Königs David zu Jonatan. Erst später im Theologiestudium erfuhr ich vom erotischen Begehren Davids. In seiner Totenklage sagt er im zweiten Buch Samuel im ersten Kapitel: Schmerz kommt mir an wegen dir, mein Bruder Jonatan, du warst mir so lieb. Wundersamer war mir deine Liebe als Frauenliebe. Über diese spannenden biblischen Geschichten hinaus machte ich im Messdienerunterricht meine ersten Lateinerfahrungen, da wir die lateinischen Messgebete – damals wurde die ganze Messe noch in dieser Sprache gehalten – auswendig lernen mussten. Es machte mir besonderen Spaß, das Confiteor zu lernen, ohne zu ahnen, wie tief seine Inhalte später Auswirkungen auf mich haben sollten. Denn in diesem von allen Messdienern gesprochenen Gebet kommt die Aussage vor: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa« (»durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld«). Heute bin ich nicht überrascht zu sehen, dass ich später, gerade in der Zeit der Pubertät, nicht oft genug zur Beichte gehen konnte, da ich mich bewusst oder unbewusst schuldig fühlte.

      Die Bilder aus der Volksfrömmigkeit von der alleinseligmachenden römisch-katholischen Kirche, von Todsünden, von ungetauften Kindern, die, wenn sie starben, nicht in die Hölle, aber auf einen Eisberg kamen, habe ich als Kind tief in mich aufgenommen. Als meine Cousine Petra, 1959 geboren, wochenlang ungetauft in ihrem Körbchen lag, hatte ich als Zwölfjähriger große Ängste um sie, falls ihr ein tödlicher Unfall passieren sollte. Bei einer Familienfeier, zu der Tante Friedel und Onkel Paul anlässlich der Geburt ihres Kindes eingeladen hatten, saßen alle gemütlich im Wohnzimmer und Petra lag allein in ihrem Körbchen in der Küche. Schnell ging ich zu ihr, nahm Wasser, goss einige Tropfen über ihr kleines Köpfchen und taufte sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Ich sehe noch, wie mich die kleine Petra bei meiner Taufhandlung lächelnd und still wie eine geheime Verbündete anschaute. Ganz erleichtert kehrte ich zur Festgesellschaft, die dank Petras Schweigen nichts von meiner geheimen Handlung gemerkt hatte, ins Wohnzimmer zurück. Ich weiß nicht, ob ich Dir, Papa, die Geschichte damals erzählt habe. Bestimmt warst Du wie ich überrascht zu hören, dass Petra uns in den 1970er Jahren erzählte, Theologie studieren zu wollen. Doppelt getauft wirkt Petra inzwischen segensreich, zuerst viele Jahre als Gemeindepastorin und seit einigen Jahren als Krankenhausseelsorgerin. Hier haben wir beide uns zu guter Letzt in derselben Aufgabe wiedergefunden, eine Profession, die mir bis zur Rente kostbar blieb.

      Bis zu meinem Eintritt als Postulant in die Ordensgemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu bin ich gerne in Karnap Messdiener geblieben. Nicht geblieben bin ich bei den Pfadfindern, deren Uniform und Symbole mich zwar sehr beeindruckten, damals genügte mir jedoch die Erfahrung, sie überhaupt getragen zu haben, wollte ich doch mal wie Du, Papa, in Uniform auftreten. Du selbst machtest kein Aufheben wegen Deiner Uniform. Mein Tragen der Pfadfinderuniform ist nur ein kleines Beispiel von vielen dafür, was Du in mir gesät hast. So wie Du uniformiert zum Dienst gingst, ging ich dann stolz in Pfadfinderkluft zu den Treffen im Gemeindehaus. 1961 war ich auf Einladung eines Mitschülers in ein Zeltlager ins Sauerland mitgefahren. Das Zelten gefiel mir überhaupt nicht, da wir behelfsmäßig draußen am Waldrand zu essen, zu schlafen und zu wachen hatten.

      Mein Interesse an Uniformen blieb auf einige Monate begrenzt, und ich verabschiedete mich von der Pfadfinderschaft. Allein der Verkauf der Zeitung »Befreiung« der CAJ (Christliche Arbeiter Jugend) begeisterte mich einige Jahre lang. Ich lernte aufgrund der Inhalte dieser Zeitung erste Anzeichen von Unrecht in Gesellschaft und Kirche kennen. Vom Kaplan angeregt, verkaufte ich die »Befreiung« erfolgreich nach der Kirche. Ging es doch hier um meinen ersten selbstständigen Arbeitsauftrag im Alter von dreizehn Jahren.

      Heute, beim Rückblick auf die Schulzeit von 1954 bis 1962 stelle ich fest, dass es eine erholsam schöne, ungebundene Kindheit war. Viel wichtiger, als für die Schule zu lernen, waren mir das verträumte Spielen im Hof, im Garten und meine Freundschaft mit unseren Tieren.

      Für heute verabschiede ich mich von Dir

      mit einer herzlichen Umarmung und Gruß

      Dein