Gregorsbriefe. Gregor Schorberger

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Название Gregorsbriefe
Автор произведения Gregor Schorberger
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783957712844



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in der Jugendherberge benannt hatte: »1. Wir hätten jetzt die doppelte Anzahl von Decken zum Zudecken. 2. Da nur eine von beiden Matratzen trocken ist, schlafen wir beide am bestens auf der einen trockenen zusammen. 3. Die gegenseitige Körperwärme bringt uns die ersehnte Ruhe trotz der anhaltenden lauten Rattengeräusche.« Den Genuss und die Erotik, unsere Körper zu genießen, trauten wir uns nicht einzugestehen. Zu dieser Zeit war Sexualität für Wolfgang wie für mich ein Tabu und mit vielen Vorbehalten belegt.

      In diesen Jahren der Abendschulzeit standen drei Hochzeiten an. Silberne Hochzeit – in meinem Tagebuch schrieb ich, dass auch Du, Papa, der sich so leicht über alles aufregte, an diesem großen Tag mit 30 Gästen in unserer Karnaper Wohnung zufrieden warst. Die Kopfschmerzen, die Mama in den Tagen zuvor plagten, hatten sich zum Glück gelöst. Mitten in der Woche, am Dienstag, dem 14. Februar 1967, hast Du mit Mama in der Karnaper Marienkirche einen Dankgottesdienst gefeiert, bei dem ich als Messdiener mitwirken dufte. Genau 25 Jahre zuvor hattest Du Mama im Alter von 34 Jahren in der Kamp-Lintforter St. Josefs-Kirche mit ernstem Gesichtsausdruck, wie es mir das Foto zeigt, geheiratet. Im Rückblick auf 25 Jahre mit Mama hörte ich Dich sagen: »Alles, es war einmal!«

      Drei Jahre nach Deiner Silbernen Hochzeit und ebenfalls gut drei Jahre nach Christianes Hochzeit stand Marlene, mein 23 Jahre altes Schwesterchen, am 14. März 1970 vor dem Traualtar in der Karnaper Marienkirche. Nach der festlichen Messe durften Karlheinz’ Bruder und ich als Brautzeugen in der Sakristei das Hochzeitsdokument unterschreiben. Beim Fest in einem Restaurant am Kaiserpark mit seinen frühlingserwachenden Bäumen hattest Du, Papa, Deinen großen Auftritt mit dem Sologesang des Kuckuckswalzers. Gerade fällt mir auf, warum man Hochzeiten eigentlich so groß feiert, da sie immer auch etwas Trennendes, Abschiednehmendes, Zukunftsveränderndes in sich bergen, um so gestärkt den Schmerz – noch versteckt – zu überbrücken.

      Wenige Monate nach Eurer Silbernen Hochzeit, Papa, musstest Du im Juni 1967 wegen des Verdachts auf einen Nierentumor für fünf Tage ins Krankenhaus. Erfreulicherweise bestätigte sich die Diagnose nicht. Aus dem Krankenhaus brachtest Du zu Marlenes und meiner Freude den jungen Krankenpflegehelfer Ottmar nach Hause mit. Er hatte gerade als 20jähriger Abitur gemacht und arbeitete zur Überbrückung, bis er im Polizeidienst eingestellt würde, auf der urologischen Station. Ihm gefiel es so gut bei uns, dass er mehrmals zu Besuch kam. Ich hatte vorher viele Hemmungen, ihm zu begegnen, und Angst, ob wir uns gut unterhalten können würden, sowie tausenderlei andere Bedenken. Ohne es mir eingestehen zu wollen, hatte Ottmar mit seinem sportlich durchtrainierten Körper und bestechenden Charme eine offensive, starke erotische Ausstrahlung auf mich. Bei seinem zweiten Aufenthalt genoss ich seine Nähe beim Hören von Chansons Père Aimé Duvals, den er wie ich gut kannte. An diesem Abend sprachen wir über den Glauben und über französische Literatur.

      Ob mein Freund Ottmar als Krankenpflegehelfer für mich ein Vorbild war oder Du, Papa, als ehemaliger Polizeisanitäter die Ursache dafür warst, mich für den Stationssonntagsdienst im St. Josef-Krankenhaus zu bewerben? Meine vielen eigenen Krankheitserfahrungen der letzten Jahre, schmerzhafte Nierenkoliken, giftige Akne, deren Pusteln am Hals mich für einen Monat stationär in die Uniklinik brachten, heftige Kopfschmerzen verbunden mit Sehstörungen und die inzwischen vertraute chronische Ohrenentzündung, waren bestimmt ein weiterer Grund dafür, anderen Kranken solidarisch beizustehen.

      Dank dem Stipendium für das BAG war meine Arbeit in der Dresdner Bank zum 31. Dezember 1967 beendet. Am Neujahrsmorgen schrieb ich in mein Tagebuch: »Da ich ja jetzt mehr Zeit für das Studium habe, möchte ich gerne an einem halben Tag in der Woche eine andere Arbeit tun, nämlich sonntagmorgens auf einer Station im Krankenhaus helfen.« Der Sonntagsdienst junger Leute im St. Josef-Hospital in Gelsenkirchen-Horst war Tradition. Nach einem Gespräch mit der Oberin teilte sie mir die innere Männerstation von Schwester Zita zu. Der Dienst begann um 7.00 Uhr und endete nach dem Mittagessen. Der erste Sonntagsdienst sollte für mein ganzes Leben prägend werden, da gleich zwei Patienten, ein junger Suizident und ein älterer Herr, in meinem Beisein starben. Ich hatte doch, Papa, ein starkes Zittern in den Beinen bekommen, zumal die Schwester vom Umbetten und Leichenhaus sprach, und deshalb bat ich, aus dem Sterbezimmer gehen zu dürfen. Auf dem Flur ging es mir gleich besser, und kurz darauf kam Schwester Zita und sagte, ich möge doch in die moderne Kantine des Neubaus frühstücken gehen.

      Im Dienst an den Kranken und Sterbenden half mir meine Freundschaft zu Jesus. Besonders das Leiden junger, mir gleichaltriger Männer ging mir nahe, und ich fragte an den nächsten Sonntagen Christus: »Warum?« Sr. Zita sagte mir zu meiner Ermutigung, dass wir in jedem kranken Menschen Jesus begegnen. Sie selbst litt an Unterleibskrebs. Nach zweieinhalb Jahren Sonntagsdienst war zwischen mir und manchen Kranken, insbesondere zu den chronisch Kranken, die immer wieder kommen mussten, Freundschaft entstanden. Der Abschied später von den Kranken, Sterbenden, dem Stationspersonal, den Raumpflegerinnen und Stationsschwestern des St. Josef-Hospital fiel mir viel schwerer als in der gleichen Zeit von den Schülern und Lehrern des Bischöflichen Abendgymnasiums.

      Das ganze Jahr 1967 über reifte in mir der Entschluss, in den Krankenorden der Kamilianer einzutreten, doch erst Anfang November wagte ich, Mama und Marlene davon zu erzählen. Wie meine Schwestern weinte Mama heftig nach dieser Nachricht, ahnend, dass ich bald einmal endgültig von zu Hause Abschied nehmen würde. Du, Papa, sahst Mamas verheultes Gesicht, erfuhrst den Grund und sagtest zu meiner angenehmen Überraschung, darüber brauche man doch nicht zu weinen, sondern man solle sich freuen, und Du seiest stolz, dass ich einen solchen Beruf gewählt habe. Letztlich nahm ich von dieser Ordensgemeinschaft Abstand, als mir nach wiederholten Klosterbesuchen bewusstwurde, wie sehr der Pater Provinzial auf die Privilegien und Immobilien seines Ordens bedacht war. Ich dagegen war gemäß dem Vorbild der französischen Spiritualität ganz und gar von einer Nachfolge Christi überzeugt, die bereit ist, auf alles zu verzichten und von selbstloser Liebe zu Gott und zu den Menschen erfüllt lebt. Ja, Papa, damals war ich, was meine Nachfolge Jesu anging, sehr radikal und konsequent gesinnt.

      Auf dem Katholikentag in Essen 1968 lernte ich bei einem Seminar Bruder Michael von den Kleinen Brüdern Jesu kennen. Er wohnte mit noch zwei Brüdern in einer kleinen Mietwohnung in einem sozialen Brennpunkt am Gleisdreieck von Duisburg-Hamborn. Tagsüber arbeitete er als Müllmann. Bei meinem ersten Besuch kam ein Nachbar hinzu. In der kleinen Küche saßen wir zu dritt bei Kaffee und Plätzchen. Die Teilnahme an der stillen Anbetungsstunde vor dem Abendessen bestärkte meine Bereitschaft für dieses Leben mitten unter den Menschen. Später kam noch Bruder Manfred hinzu. Er arbeitete in einer Fabrik als Hilfsarbeiter. Ich war berührt von ihrem freundschaftlichen Umgang mit den Nachbarn und zugleich fasziniert von der kargen, jedoch auch warmen Zimmergestaltung der kleinen Fraternität inmitten einer Obdachlosensiedlung.

      Jedoch noch vor dem Entschluss, zu den »Kleinen Brüdern Jesu« zu gehen, lernte ich durch unseren Lateinlehrer Bernhard Tobias Trier, »das kleine Rom«, wie er es nannte, und die dortige Benediktinerabtei St. Matthias kennen, die der Legende nach über dem Grab des Apostels Matthias gebaut ist. Der freundliche Gastpater Maurus lud uns Schüler anlässlich unserer Klassenfahrt im Herbst 1968 herzlich ein, in den Ferien für einige Tage in die Abtei zu kommen. Ernst, ein immer modern gekleideter, schlanker, charmant blickender, auf mich erotisierend wirkender Klassenkamerad nahm mit mir sofort das Angebot an, in den Weihnachtsferien eine Woche lang mit dem jungen Konvent den Jahreswechsel zu verbringen. Ernst hatte sich den Namen Sadri zugelegt, da er sich zum Islam hingezogen fühlte. Trotz der hohen mittelalterlichen, fast morbiden, winterlich kalten Räume und Flure des Klosters erfuhren wir beide eine warme herzliche Atmosphäre in der Begegnung sowohl mit den jungen Novizen als auch mit den erfahrenen älteren Brüdern. Wir durften an ihren gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen und beteten mit ihnen im Chorgestühl die Liturgie entsprechend den Tageszeiten. Die Mönche waren in gesellschaftlichen und interreligiösen Fragen gut informiert. Ihre Theologie und benediktinische Spiritualität machten auf Ernst einen besonders großen Eindruck.

      Doch meine Sehnsucht nach dem Leben der Kleinen Brüder Jesu hatte sich bestätigt. Dankbar sagte ich einmal zu Mama, dass ich durch die Familie sehr viel positive Veranlagung mitbekommen hätte. Mithilfe dieser kostbaren Ressourcen konnte ich mich ein Leben lang leicht auf die Seite derjenigen Menschen stellen, die als Kinder und Jugendliche von zu Hause kein herzliches Willkommen mitbekommen haben. Deine, Papa, Mamas, Marlenes und Christianes wunderbaren Talente und lebensbejahende Botschaft nahm