Название | Gregorsbriefe |
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Автор произведения | Gregor Schorberger |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957712844 |
Monatlich oder alle zwei Monate ging es mit dem Zug vom verwunschenen kleinen Karnaper Bahnhof auf die große Reise nach Kamp-Lintfort in die Heimat Mamas. Meistens fuhren wir zu viert, Mama, Christiane, Marlene und ich, für einige Tage an den Niederrhein. Du, Papa, bliebst bei unseren Tieren.
Als geduldete Verwandtschaft aus Essen-Karnap waren wir in den ersten Jahren bei Mamas jüngster, stets nervöser, ständig den Bohnerwachsbesen schwingenden Schwester Klärchen untergebracht. Sie wohnte mit ihrem Vater in einem Feuerwehrhaus. Wenn ich zu Opas Wohnung hinaufging, blickte mich ein furchterregender, ausgestopfter Habicht mit seinen funkelnden Augen an. Ob ich wollte oder nicht, ich musste, um zu Opas Wohnung zu gelangen, an diesem toten Tier vorbei. Bestimmt liegt es an diesem Erlebnis, dass ich mir bis heute keine toten Tiere länger ansehen kann. Opa Ruhl wirkte in seiner großen Gestalt mit seinem Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer unnahbar auf mich, als hätte er keine Gefühle. Nur Mamas Schwester Käthe freute sich sichtlich, wenn Mama mit uns drei Kindern zu Besuch kam. Sie spielte mit uns, las uns schöne Märchen vor und überraschte uns mit kleinen lustigen Stücken, die sie aufführte. Tante Käthe wohnte in Ossenberg am alten Rhein-Arm, einer Gegend mit verwunschenen Wildpflanzen, riesigen Ulmen und Pappeln, großen Kerzen gleich, die zum Himmel loderten, und wuchtigen Trauerweiden, die sich tief vor Teichen und Seen verbeugten. Dorthin ging sie mit uns spazieren und erzählte uns viele spannende Geschichten von dieser etwas unheimlich wirkenden Urwaldlandschaft.
Da ich mit sechs Jahren etwas größer geworden war, brauchte ich nicht mehr mit Mama und meinen Schwestern in Tante Klärchens Haus zu bleiben. Einige Straßen weiter wohnte Tante Christine, eine ältere, ihren drei Kindern gegenüber sehr strenge Schwester Mamas, die zwei Söhne und eine Tochter hatte. Schnell fühlte ich mich mit diesen ein wenig älteren Cousins wohl. Johannes und Theo nahmen mich auf ihre Entdeckungsreisen in Hinterhöfe und überwucherte Wildgärten mit, wo sie geheime Buden hatten. Ich genoss beim Raufen besonders im Sommer ihre schwitzenden Körper. Auch zum Fußballplatz ging ich aus Liebe zu ihnen mit, obgleich schon damals Fußball für mich stinklangweilig war. Die Nächte im Bett zwischen Johannes und Theo hatten etwas prickelnd Erotisches an sich. Nach Kissenschlachten schmiegte ich mich unter der Bettdecke besonders eng an Theos Körper, da mir sein Po gefiel. Heute bin ich dankbar für diese erotischen Erlebnisse mit meinen Cousins, zeigten sie mir doch, Papa, schon als Kind, dass ich mich nicht nur phasenhaft, sondern manifest zu Männern sexuell hingezogen fühlte.
So unterschiedlich die beiden Orte Kamp-Lintfort und Essen-Altenessen auf mich wirkten, so unterschiedlich erlebte ich auch die beiden Herkunftsfamilien: die Schorbergers extrovertiert und selbstbewusst, die Ruhls introvertiert und schamhaft. Einig waren sich beide Familien in der Tabuisierung von Tod, Trauer, Sexualität und Familienkonflikten. Kinder galten als notwendiges Anhängsel der Eltern und gehörten bei geselligen Zusammenkünften an den Katzentisch, da sie nichts von den Themen der Erwachsenen mitbekommen sollten.
Zu Hause in Karnap erlebte ich Dich, Papa, im Garten oder auf dem sommerlichen Hof in kurzer Hose, und mit oder ohne Hemd als körperlich unbefangen. Für Dich war es selbstverständlich, mich nachts, wenn ich mit meinem Oberbett vor Eurem Ehebett im Schlafzimmer stand, in Dein Bett kommen zu lassen – im Gegensatz zu Mama, die mich abwies. Bei Dir angekommen, nahmst du mich zärtlich in den Arm, und wenn ich ängstlich war, hast Du mich zur Beruhigung gestreichelt. Überhaupt, wenn Du gute Laune hattest, konntest Du uns drei Kinder zu unserem Vergnügen lange streicheln und kitzeln, was ich immer genossen habe. Dein unkonventionelles Verhalten hat erheblich dazu beigetragen, ein unverkrampftes Körpergefühl zu mir selbst zu entwickeln.
Dennoch sind Nähe und Distanz einschließlich der vielen Schattierungen zwischen diesen beiden Polen für uns beide zeitlebens ein großes Thema geblieben. Genoss ich als Kleinkind, bei Dir zu schlafen, am Tage gekitzelt oder, wenn es heiß war, im Garten mit dem Wasserschlauch abgespritzt zu werden, wehrte ich Dich dennoch öfters und sehr zu Deinem Leidwesen ab. Vor allem dann, wenn Du mich spontan umarmen, liebkosen oder auf den Schoß nehmen wolltest, wie es viele Fotos aus der Kindheit zeigen. Vielleicht hatte ich instinktiv Angst von Dir aus Liebe zu mir einverleibt, aufgefressen zu werden? Oder lag es daran, dass ich anfänglich ein dickes Kind war, bis ich durch viel Bewegung, Rennen, Ballspielen und Turnen, mein Übergewicht verlor?
Du erfreutest Dich an unserem Schulsport, gingst selbst mit uns schwimmen, fochtst später mit uns regelrechte Tischtenniswettkämpfe aus, bei denen Du am meisten schwitztest, oder nahmst uns zum Sammeln von Huflattich am unheimlichen Emscherdamm mit. Aber trotz all dieser sportlichen Aktivitäten litt ich unter vielen Krankheiten. Die Mandeln entnahmen sie mir im Krankenhaus der Stadt Gladbeck, wo ich in einem hellen schönen Krankenzimmer lag. Gern erinnere ich mich an sehnsuchtsvoll erwartete Besucher, die Geschenke mitbrachten, wie etwa die Schokolade von Stollwerck, deren Verpackung zweigeteilt war: Oben waren die Köpfe und unten die Unterkörper. Beim Verschieben der Teile machte es mir Spaß, plötzlich Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidern zu entdecken. Letztlich wollte ich selbst die verschiedenen Rollen dieser Schokoladen-Menschen ausprobieren. Ja, Du, Papa, hast mit mir als Kleinkind – allein der vielen Kinderkrankheiten wegen – einiges ertragen müssen. Hinzu kam noch mein phlegmatischer Charakter. Wegen meiner offenen Schnürsenkel, meiner unordentlich liegengelassenen Spielsachen und Zerstreutheit hast Du ständig mit mir gehadert. Phlegmatisch bin ich bis heute geblieben, sodass Burkhard mir in unserer gemeinsamen Wohnung nachgeht, um die von mir offen gelassenen Schubladen wieder zu schließen.
Noch vor der Einschulung unternahm Mama mit uns die ersten großen Reisen zur rundlichen, Kinder liebenden Tante Lieschen und dem sympathischen, Schnauzer tragenden Onkel Wilhelm nach Lauterbach in Hessen. Gleich zwei Sommerferien, 1953 und 1954, verbrachten wir Kinder mit Mama in der reinen unverfälschten Natur des Vogelsbergs. Im hübschen Fachwerkstädtchen Lauterbach genossen wir Kinder die märchenhaften Entdeckungen in einer ganz anderen Welt. Weite Wiesen und Fluren, haushohe Tannen und Laubbäume, die Geschichten zu erzählen wussten.
Dort gab es einsame Aussichtstürme im Wald, die Mama mit Marlene, Christiane und mir auf dem Arm erklomm. Von oben konnten wir das sagenhafte Panorama der Vogelsberglandschaft genießen. Allein ich hatte da oben, obwohl auf Mamas Arm, solche Angst, wie es ein Foto zeigt, dass ich bei der zweiten Turmbesteigung protestierend auf der untersten Treppe sitzen blieb. Auf dem Waldboden fühlte ich mich freier und erfreute mich am Anblick der Rehe und Hirsche, die wir zu Hause nur vom Gelsenkirchener Zoo her kannten. Im Wald fanden wir außerdem Steinpilze, Schirmpilze und an den Wiesenrändern Pfifferlinge. Tante Lieschen nannte uns ihre Namen und bereitete diese zu einem schmackhaften Mittagessen. Die Spätsommer- und Herbstzeit ist auch heute ob des reichlichen Pilzangebots in der Frankfurter Kleinmarkthalle meine Lieblingsjahreszeit. Ein besonderer Genuss waren für mich als Kind Tante Lieschens Pilzmahlzeiten, nicht aber ihr Zwiebelkuchen, den wir Kinder mit Streuselkuchen verwechselten und überhaupt nicht mochten. Fast täglich schriebst Du, Papa, uns anschauliche Briefe, was sich alles zu Hause, im Stall bei den Tieren oder in Haus- wie Schrebergarten ereignet hatte. Einerseits konntest Du Dich selbst sehr gut versorgen, warst aber auch glücklich, wenn meine ledig gebliebene Tante, Deine ältere Schwester, für einige Tage kam und Dich verpflegte, wie Du uns schriebst. Meine rundliche, stets nach Luft – besonders beim Treppensteigen wegen ihres Asthmas – schnappende Tante Guste war und blieb meine Lieblingstante. Sie versorgte Dich, Papa, manchmal, wenn Mama mit uns allen in Urlaub war. Mit uns Kindern reiste sie in der Phantasie durch die ganze Welt, weil sie wusste, dass sie am nächsten Sonntag im Lotto gewinnen würde. Und tatsächlich, am 8. Mai 1964 hatte Tante Guste »5 Richtige im Lotto«. Statt das Geld für sich zu behalten, wie Mama es wünschte, beschenkte sie ihre Lieben. Wir bekamen einen großen orientalischen Teppich für das Wohnzimmer, den wir uns sonst nie hätten leisten können. Ich freute mich jedes Mal, wenn sie zu Besuch von Altenessen nach Karnap kam, um mit Mama und mir zu unserem Vergnügen Rommé zu spielen. Begeistert erzählten wir Dir dann nach unserer Rückkehr anhand der Fotos von unseren Erlebnissen im gastfreundlichen Haus in Lauterbach.
Fremde Menschen, Landschaften und Städte durfte ich mir darüber hinaus dadurch vertraut machen, dass Ihr mich in den ersten Schuljahren der Gesundheit wegen allein in Kindererholungsstätten nach Oberbayern