Название | Lenchens Baby |
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Автор произведения | Isolde Kakoschky |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783967525465 |
»Hier habe ich mal eine Nacht zur Beobachtung bleiben müssen«, dachte Franziska an diesen Tag vor wohl fast vierzig Jahren.
»Erinnere mich nicht daran!«, stöhnte Alexander. Auch vor seinen Augen war der Tag sofort wieder präsent.
»Als ich aus der Schule kam, waren die Eltern beide zuhause, das allein erschien mir schon komisch. Und dann höre ich, wie sie was von einem Unfall mit einem Bus erzählen und dass du im Krankenhaus bist. Ich dachte wirklich im ersten Moment, der Bus hat dich überfahren.« Er schüttelte sich innerlich. »Was sie da noch von irgendwelchen Erinnerungen faselten, konnte ich erst einordnen, als ich den Zeitungsartikel gelesen hatte, an dem Tag als Mutti starb.« Seine Stimme wurde brüchig. Konnte man nicht nur schöne Erinnerungen haben? Der frühe Unfalltod seiner Mutter holte ihn immer wieder ein.
Sie stiegen aus dem Auto und betraten den Friedhof. Hand in Hand liefen sie den breiten, von alten Bäumen gesäumten Weg zum Familiengrab der Familie Zandler. Hier hatte schon Opa Fritz die letzte Ruhe gefunden, ihm folgte seine Frau, Oma Klara. Nur wenige Jahre später wurde die Urne der Mutter beigesetzt und zuletzt die des Vaters. Sie füllten eine Vase aus der Gießkanne mit Wasser, das sie unterwegs am Brunnen geschöpft hatten, und verteilten den Rest über die Pflanzen. Noch blühten die Sommerblumen in verschwenderischer Pracht, doch bald wurde es Zeit, an den Herbst und den Winter zu denken. Franziska las die ersten herabgefallenen Blätter auf. Es war ein ewiger Kreislauf vom Frühling bis zum Winter, von der Geburt bis zum Sterben, sinnierte sie. Franzi lehnte sich an Alex. Sie hatten nun nur noch sich und ihre Erinnerungen, die lustigen und die traurigen.
»Wir könnten doch wieder einmal etwas gemeinsam unternehmen, ich meine mit Michael und Heidrun«, schlug Alexander vor. Auch ihm schienen angesichts des Grabes ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen.
»Warum nicht«, stimmte Franziska sofort zu. »Im September hat Michael eine Woche Urlaub und ich kann auch bestimmt noch ein paar Tage frei nehmen vor der Rübenernte. Das würde passen. Sprich mal mit deiner Frau und dann telefonieren wir.«
Inzwischen hatten sie das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs wieder erreicht, wo sie ins Auto stiegen.
»Dann bringe ich dich mal zurück nach Hause und danach trete ich auch die Heimfahrt an. Ich will ja auf dem Weg zur Autobahn noch beim Fleischer anhalten und mir Wurst mitnehmen.« Alexander hatte nicht gesagt, wann er wieder zurück sein würde, doch Heidrun war bestimmt froh, wenn er nicht so spät kam.
»Aber einen Kaffee trinken wir doch noch«, bat Franziska ihren Bruder. Viel zu selten war er hier.
»Das können wir machen«, ließ sich Alexander überzeugen.
Sie brauchten nur wenige Minuten, um den Wohnblock in der benachbarten Stadt wieder zu erreichen. Genauso schnell lief der Kaffee aus der Maschine und kurz darauf verabschiedete sich Alexander dann doch von seiner Schwester.
»Mach´s gut, meine Kleine!« Er hob sie ein wenig an und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Mach´s gut, mein Kleiner!«, erwiderte Franziska und grinste. »Ich spreche mit Michael und du mit Heidrun, dann telefonieren wir. Wäre schön, wenn es klappt!« Alexander zog die Autotür zu und startete den Motor. Noch ein kurzer Druck auf die Hupe, dann gab er Gas und entschwand aus Franziskas Blick.
3
Das war es also gewesen. Mechanisch stellte Franziska die Kaffeetassen in die Spülmaschine. Nun gehörte ihnen nichts mehr von dem, was sie einmal ihr Zuhause genannt hatten. Als kleinen Trost empfand sie das Glück von Annika, Heiko und Lukas. Schon stellte sie sich vor, wie der Junge durch den Garten tobte.
Auf dem Tisch begann ihr Handy zu vibrieren. Sie hatte es am Morgen stumm geschaltet, und so gab es noch immer keinen Ton von sich. Der Blick auf das Display ließ sie lächeln: Michael.
»Hallo Schatz!«, nahm sie das Gespräch entgegen. »Ja, alles soweit gut gelaufen«, antwortete sie auf die Frage ihres Gatten. »Alex ist schon wieder weg. Du weißt doch, er hat nie viel Zeit. Aber wir wollen uns demnächst mal wieder schön zu viert treffen«, bereitete sie ihren Mann auf die Pläne vor, die sie vorhin geschmiedet hatten. »Na klar, das besprechen wir in Ruhe am Sonnabend«, bestätigte sie die Worte, die Michael darauf erwiderte. Nun hörte sie sich geduldig an, wo heute wieder beim Entladen die Säge geklemmt hatte, wo die Autobahn wegen Unfällen gesperrt war und welche Touren er noch fahren musste bis zum Wochenende. Und wie so oft schimpfte er über das Verhalten mancher Berufskollegen.
»Dann bis morgen«, verabschiedete sich Franziska nach einigen Minuten von ihrem Mann. »Und fahr vorsichtig!«
Franziska legte das Handy zurück auf den Tisch und ging ins Arbeitszimmer, um das Bettzeug von Alexander wieder zu verstauen. Sie musste sich ablenken. Die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Michael war mit Leib und Seele Kraftfahrer. Doch während es früher noch ein angesehener Berufsstand gewesen war, fühlten sich die Fahrer heute eher wie die Deppen der Nation. Michael waren vor allem die vielen ausländischen Laster ein Dorn im Auge, deren Fahrer sich weder an Verkehrsregeln noch an die EU-Gesetze hielten, die ja eigentlich auch für sie galten. Kontrolliert wurden aber überwiegend die inländischen Kraftfahrer, denn kaum ein Polizist war einer der osteuropäischen Sprachen mächtig. Selbst das in der DDR gelehrte Russisch schien in Vergessenheit geraten zu sein.
Ja, sie hatten kurz überlegt, ihr Elternhaus zu übernehmen. Doch schließlich sah sich Michael außerstande, sich neben seinem anstrengenden Beruf noch um ein Haus zu kümmern. Es blieb ihm ja nur das Wochenende. Nun war die Entscheidung endgültig. Der Neubaublock aus den 80er Jahren war immerhin nach der Wende saniert worden und die kleine Wohnung erfüllte voll und ganz ihren Zweck. Von dem Geld würden sie eine schöne Reise unternehmen oder sich in ein paar Jahren ein neues Auto kaufen.
Nachdem sich Franziska noch mit Aufräumen und Putzen beschäftigt hatte, landete sie vor dem Fernseher. Kurz darauf zeigte ihr das Handy den Eingang einer SMS an. Beruhigt las sie den Text von ihrem Bruder. Alexander war gut wieder zuhause angekommen. Von Michael wusste sie, dass er mit dem LKW auf dem Rastplatz stand. Sie ließ sich Wasser in die Badewanne laufen und langsam entspannte sie sich.
Die nächsten beiden Tage verliefen im alltäglichen Einerlei. Die Getreideernte war soweit abgeschlossen, was auch im Büro der Agrargesellschaft Ruhe einkehren ließ. Einst hatte Franziska direkt nach dem Studium in der LPG angefangen. Manchmal erinnerte sie sich mit leichter Wehmut an die Anfangszeit, als sie noch ein junges Küken gewesen war. Von ihren älteren Kollegen hatte sie bestimmt mehr gelernt, als ihr das ganze Studium vermitteln konnte. Nun gehörte sie selbst zu den älteren Kollegen. Der damalige LPG-Vorsitzende war noch immer ihr Chef. Er hatte den Landwirtschaftsbetrieb in die neue Zeit geführt. Was kommen würde, wenn er in ein paar Jahren in den Ruhestand eintrat, konnte noch niemand sagen. Aber irgendwie ging es eben immer weiter. Ihr Optimismus hatte Franzi bisher noch nie verlassen. Und überhaupt, die Arbeit war auch nicht alles. Sie freute sich am Aufwachsen ihres kleinen Enkels und war froh, dass es Anja nicht in die Ferne gezogen hatte. Gemeinsam mit ihrem Freund Timo wohnte sie in Eisleben, gerade einmal fünfzehn Kilometer entfernt. Es war genau
richtig so, dachte Franziska. Weit genug, um ein eigenes Leben führen zu können; und nah genug, um im Notfall für Fränzchen da zu sein. Morgen wollten sie mit ihm in den Zoo fahren.
Franziska schaute zur Uhr. Bald musste Michael kommen. Sie ging in die Küche und begann, das Abendbrot anzurichten.
Endlich, es war bereits dunkel geworden, hörte sie Michaels Schritte auf der Treppe und riss die Wohnungstür auf. »Da bist du ja!« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss und nahm ihm den Beutel ab, in dem er die leeren Getränkeflaschen die Woche über sammelte.
Während sich Michael im Bad kurz Hände und Gesicht wusch, brachte Franziska das vorbereitete Abendessen ins Wohnzimmer. Wenig