Fantasy. Martin Hein

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Название Fantasy
Автор произведения Martin Hein
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия Musiker-Biografie
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783708105260



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      Ich hatte über Jahre Angst vorm Jugendamt. Ich bildete mir ein, die Mitarbeiter würden mich ganz böse ansehen, so nach dem Motto: Junge, bald bist du fällig! Es war ja schon schlimm genug, dass wir unseren Papa verloren hatten. Ich wollte nicht auch noch wegmüssen von meiner Mama. Wenn ich heute darüber nachdenke, hatte ich als Kind eigentlich ständig Panikattacken und Verlustängste. Und tatsächlich, als Djordje 14 und ich 11 Jahre alt war, passierte der familiäre Super-GAU. Zwei Mitarbeiter vom Jugendamt klingelten an unserer Wohnungstür, und die Dame sagte: „Frau Malinowski, wir holen Ihren Sohn jetzt ab und bringen ihn in ein Kinderheim. Mit Ihrem Einverständnis oder gegen Ihren Willen. Das geht so nicht weiter. Die Zustände bei Ihnen sind einfach untragbar geworden.“

      Meine Mutter unterschrieb die Einwilligungserklärung. Obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte, aber sie hatte Angst. Sie hatte ja selbst längst gemerkt, dass ihr ältester Sohn immer tiefer abgerutscht war. Sie dachte sich, bevor sie wirklich keine Gewalt mehr über ihn hätte, würde sie sich lieber Hilfe holen und schauen, dass er ins Heim käme. Das aber letztendlich kein Heim für schwererziehbare Kinder war, sondern eigentlich mehr ein Ort für Kinder, die ein bisschen Unterstützung im Leben brauchten und einfach mal einen Menschen, der kontinuierlich Zeit hatte und mit dem man offen über seine Gefühle reden konnte. Was sich anfangs für meinen Bruder (und uns) wie eine Katastrophe anfühlte, war in Wahrheit also die beste Zeit seines Lebens. Denn endlich fand er den Zuspruch, den ihm meine Mutter nie geben konnte.

      Für mich war’s eine ganz grässliche Zeit, weil ich in meinem jungen Leben dadurch schon wieder einen Menschen verloren hatte, wenn auch nur für eine befristete Zeit. Meine Güte, jetzt war schon wieder einer weg. Was sollte bloß aus mir werden? Ich war ja noch klein, gerade mal elf, als mein Bruder von uns wegging. Von da an hatte ich das Gefühl, dass ich für meine Mutter nun Ehemann- und Bruder-Ersatz zugleich sein müsse. Ich fühlte mich für sie verantwortlich, wollte sie beschützen und für sie stark sein. Dieser Druck lastete auf meinen schmalen Schultern wie ein Zementklotz. Ich tapezierte unsere Wohnung, holte Kohle aus dem Keller und sorgte dafür, dass der Kohleofen immer brannte. Ich machte alles, was ein Mann macht. Meine Mutter hatte damals ja bereits ihren Freund Ivan, und wenn er böse zu ihr war, habe ich sie getröstet. „Mama, weine doch nicht, es wird schon alles gut. Ich bin doch da. Ich bin jetzt dein Mann, und ich passe auf dich auf.“ Ich litt wie ein angeschossenes Reh. Aber ich wollte mir keine Schwäche zugestehen.

      Kapitel 6:

      Fredis Mama wird schwer krank

      Als wäre das alles nicht schon schlimm genug gewesen, wurde meine Mutter kurz darauf auch noch schwer krank. Sie bekam eine Psychose und bildete sich ein, dass sie verfolgt würde von fremden Menschen, die ihr schaden und sie einsperren wollten. Man muss nicht Psychologie studiert haben, um sagen zu können, dass es sicher eine Folge dessen war, was meine Mutter in ihren jungen Jahren schon alles an Negativem erlebt hatte. Mit 17 Jahren musste sie ihre Heimat verlassen, bekam in Deutschland einen Schock, weil mein Vater weder Geld, Wohnung noch einen Job hatte. Dann kam auch schon mein Bruder auf die Welt. Sie bekam Windpocken, meine Eltern hatten aber kein Geld, um zum Arzt zu gehen und die Windpocken behandeln zu lassen. Es folgte die unglückliche Ehe mit meinem Vater, der sie schlug, wenn er mal wieder zu viel getrunken hatte. Die Beziehung mit Ivan, der sie und uns Kinder schlecht behandelte. Die ewigen Sorgen, wovon wir leben sollten. Und dann kam auch noch mein Bruder ins Heim.

      Meine Mutter hatte mit 30 schon so viel erlebt wie andere Menschen in einem ganzen Leben nicht. Hätte man das Leben meiner Mutter in einem Kinofilm gesehen, wäre man sicher schockiert gewesen von all dem Elend, aber man hätte eben gedacht, es sei ja nur ein Film. Es war aber bittere Realität.

      Meine Mama lag dann sechs Wochen lang im Krankenhaus. In der neurologischen Abteilung. Die Ärzte waren großartig, nahmen sich ihrer an, und sie konnte sich ihr ganzes missglücktes Leben von der Seele reden. Sie konnten ihr helfen, was mich sehr für sie freute. Für mich waren diese sechs Wochen ein Albtraum, weil mir meine Mutter natürlich sehr gefehlt hat. Ich hatte immer Angst, dass auch sie mich verlassen könnte und ich dann irgendwann ganz alleine wäre auf der Welt. Ich musste in dieser Zeit bei Ivan wohnen, was die ganze Sache nicht besser machte. Im Gegenteil. Ich fühlte mich einsam, hilflos, machtlos und völlig im Stich gelassen. Ich vermisste meine Mama und meinen Papa. Ich haderte mit dem Schicksal: Warum passiert so etwas immer nur mir? Der Ivan ist manchmal ein totaler Arsch, ich brauche doch einen richtigen Vater. Warum ist Papa so früh gestorben? Weshalb lassen mich alle im Stich? Liegt es an mir? Bin ich ein so schlimmes Kind, dass alle von mir wegwollen?

      Ich war so unglaublich verletzlich, dass ich sofort losheulen könnte, wenn ich an damals denke. Ich wollte stark sein, aber ich war es nicht. Ich war zu klein und zu schwach und spielte allen nur vor, dass es mir gutginge. In Wahrheit war das jedoch die schlimmste Zeit meines Lebens.

      Als meine Mutter endlich wieder zu Hause war, freute ich mich riesig. Aber nur kurz, denn ich musste viel ertragen. Die Wahnvorstellungen sind sofort wieder schlimmer geworden, nachdem Mama die Klinik verlassen hatte. Ständig fühlte sie sich beobachtet und sagte: „Fredi, hier ist jemand. Ich glaube, hier kommt jemand.“ – „Mama, was ist denn los mit dir? Hier kommt doch niemand.“ – „Ich weiß nicht. Ich habe Angst.“

      Diese Angstzustände hielten ein ganzes Jahr an. Ich war verzweifelt und traute mich kaum noch, sie alleinzulassen: „Mama, bitte weine doch nicht. Ich bin doch da. Ich passe auf dich auf.“ Wenn es ganz schlimm wurde, ließ sich meine Mutter freiwillig in die Klinik einweisen, damit ihre Medikamente neu eingestellt werden konnten. Erst als sie dann regelmäßig mit einem Psychologen arbeitete, wurde ihr Zustand besser. Er hatte ihr gesagt: „Frau Malinowski, Sie können nur gesund werden, wenn Sie sich selbst heilen und nur noch das tun, was für Sie gut ist. Alles Schlechte müssen sie ablegen.“

      Meine Mutter befolgte diesen Ratschlag und nahm eine Zeitlang von der ganzen Familie eine Auszeit. Sie wollte einfach nur mal für sich sein. Das ist ihr auch gut gelungen. Und seitdem geht es meiner Mama blendend. Es glückte ihr tatsächlich, alles Negative zu verarbeiten und aus Seele und Herz zu verbannen. Ich bin echt froh, dass sie das geschafft hat und dass es ihr heute gutgeht. Unser Verhältnis ist sehr stark und emotional. Als mein Bruder im Heim war, sind Mama und ich natürlich noch mal enger zusammengewachsen. Wir waren die meiste Zeit zu zweit, Djordje kam uns nur am Wochenende besuchen. Ich habe mich immer so sehr gefreut, wenn Freitag war und mein Bruder abends nach Hause kam. Endlich konnte ich ihn wieder in die Arme schließen. Wenn Djordje bei mir war, hatte ich das Gefühl: Da ist jetzt jemand, der ist stark und der hilft dir! Jetzt hast du ein Wochenende frei, jetzt ist dein Bruder da, er kümmert sich um alles.

      Mein Bruder blieb bis zu seinem 18. Geburtstag in diesem Heim, weil er da auch seine Lehre gemacht hat und sich recht wohlfühlte. Anschließend zog er wieder bei Mama und mir ein. Ich war froh, dass mein Bruder wieder da war. Er hat auch gleich eine Arbeitsstelle gefunden und verdiente richtig viel Geld als Schlosser, weil er auf Montage ging. Ich war 15 und wahnsinnig stolz auf meinen Bruder, weil er ein festes Einkommen hatte. Wir verstanden uns auf den ersten Blick so gut wie immer. Aber tief in mir drin spürte ich, dass wir uns auseinandergelebt hatten. Ob es an den drei Jahren Altersunterschied lag oder vielleicht doch daran, dass er so lange fort gewesen ist, mag ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Wir hatten plötzlich überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr. Ich hatte mich so gefreut, dass er wieder da war. Aber im Grunde genommen war ich trotzdem alleine, weil mein Bruder immer abwesend war. Unter der Woche auf Montage, am Wochenende dann traf er seine Freunde und hatte natürlich andere Interessen als ich „Teenager-Zwerg“.

      Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Das blieb auch so bis vor rund sechs Jahren. Obwohl wir beide ein komplett unterschiedliches Leben führen, haben wir uns wiedergefunden und seitdem einen wirklich intensiven Kontakt. Wir gehen ganz entspannt miteinander um, treffen uns regelmäßig zum Essen und können uns gut unterhalten. Ohne dass einer dem anderen Vorhaltungen macht oder neidisch ist auf das, was er erreicht hat. Nach dem Motto: Was hast du, was habe ich? Oder: Papa liebte mich mehr als dich. Solche Dinge also, die komplett unnötig sind und die mich eigentlich nur verletzt hätten.

      Leider hatten wir solche Zeiten, in denen sich mein Bruder damit gebrüstet hat, dass mein Vater ihn