Название | Fantasy |
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Автор произведения | Martin Hein |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | Musiker-Biografie |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783708105260 |
Wir kamen uns vor wie in einem Ghetto. Gefühlt wohnten dort 1.000 Kinder, davon viele aus sozial schwachen Familien. Es gab richtige Gangs. Einige von ihnen haben die Scheiben der Kellerfenster mit Steinen eingeschlagen und sind bei Nachbarn eingebrochen. Überall stand der Müll auf den Straßen, weil er nicht abgeholt wurde. Es stank fürchterlich, und deshalb fühlten sich die Ratten auch so wohl. Irgendwann kam schließlich die Müllabfuhr und packte den ganzen Dreck mit einem Greifarm hoch – um ihn dann auf dem nächstgelegenen Feld einfach wieder fallenzulassen. Man sah dann tagelang große schwarze Raben und Ratten, die sich wie im Schlaraffenland fühlten. Das war so eklig! Noch heute schüttelt es mich, wenn ich diese hässlichen grauen Nager sehe, und wenn es nur im Fernsehen ist.
Irgendwann fuhr ein sehr guter Freund meiner Eltern nach Deutschland. Angeblich zu Besuch. Doch er ist dann für immer dort geblieben. Mein Vater war ab da ganz euphorisch. Er wollte auch endlich im Westen leben, um uns Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Er und sein Freund dachten sich also für die Behörden in Polen und Deutschland frei erfundene Verwandtschaftsbeziehungen aus: Angeblich sei mein Vater dessen Cousin und von ihm nach Deutschland eingeladen worden.
Ich war damals sieben Jahre alt und bekam die Pläne meiner Eltern natürlich nur am Rande mit. Eben nur das, was sie uns verrieten. Mein Vater fuhr schließlich eines Tages mit dem Zug nach Deutschland, um seinen (erfundenen) Cousin zu besuchen. Meine Eltern hatten abgesprochen, dass auch mein Vater in Deutschland bleiben und sich einen Job suchen sollte. Wir, meine Mutter, ich und mein kleiner Bruder, wollten nachkommen, sobald wir die Genehmigung der polnischen Regierung bekommen würden.
Tja, es sollte fünf Jahre und sieben Monate dauern, bis wir Jungen unseren Vater und unsere Mutter ihren Ehemann wiedersehen sollten! In dieser langen Zeit haben wir alle drei Monate einen Ausreiseantrag bei der Polizei im 25 Kilometer entfernten Gleiwitz gestellt. Eine Woche später gab es dann in einem Glaskasten vor dem Revier einen Aushang, auf dem die Namen der Glücklichen standen, die einen positiven Bescheid bekommen hatten. Wir sind bei jedem Versuch mit Bus und Bahn dorthin gefahren, weil damals kaum jemand ein eigenes Auto besaß. Das war jedes Mal ein so nerviges wie zeitaufreibendes Gezockel hin und wieder zurück. Und zudem wurde unser Gesuch immer wieder abgelehnt.
Mein Vater lebte damals in Burscheid bei Köln. Es war für uns alle nicht einfach. Vor allem in der Schule, da viele meiner Lehrer eher linksgerichtet waren und überhaupt kein Verständnis dafür hatten, dass mein Vater sein Glück im Westen suchte. Dies bekamen mein Bruder und ich natürlich immer wieder heftig zu spüren. Meine Mitschüler gaben mir sogar deshalb eigens einen Spitznamen: Angelehnt an einen Film über einen Nazi-Soldaten, der Hannes hieß. In Polen wurden alle Deutschen „Hannes“ genannt. Da mein Nachname Hein ist und ja alle wussten, dass wir irgendwann nach Deutschland ziehen wollten, nannten mich plötzlich alle nur noch „Hannes“. Deutschland war für viele immer noch ein Feindbild, obwohl der Zweite Weltkrieg ja damals schon mehr als dreißig Jahre zurücklag.
Die siebziger Jahre waren geprägt vom Kommunismus und standen im Zeichen von Preiserhöhungen, Versorgungsengpässen und Repressionen. In den achtziger Jahren, beginnend im Sommer 1980, hielt die Arbeiterklasse in Polen allerdings die ganze Welt in Atem. Eine riesige Streikbewegung entfaltete sich: Mehrere hunderttausend Arbeiter streikten gleichzeitig in verschiedenen Städten und brachten die herrschende Klasse in Polen, aber auch in anderen Ländern zum Zittern. Die Regierung antwortete mit der Zulassung freier und unabhängiger Gewerkschaften; am 17. September 1980 gründete sich Solidarnosc mit ihrem auch in Deutschland sehr bekannten Anführer Lech Walesa.
In unserem kleinen Dorf ging es ähnlich politisch zu wie in der damaligen DDR. Mein Vater und natürlich meine ganze Familie waren für viele Lehrer der „Feind aus dem Westen“. Sie demütigten mich, so oft es ging, vor der versammelten Klasse. Nach dem Motto: Es lohne sich ja für mich gar nicht mehr, dass man mich ordentlich unterrichte, wo wir doch eh so schnell wie möglich auswandern wollten. Beliebt waren auch die Sätze, dass es ja schon oft vorgekommen sei, dass Familienväter in den Westen gezogen seien und von ihrer Frau und den Kindern in Polen dann nichts mehr hätten wissen wollen. „Stellt euch mal vor, ihr kommt nach Deutschland, und euer Vater will euch nicht sehen, weil er längst eine neue Familie hat!“ Wir sollten beeinflusst und schikaniert werden. Vielleicht war ich damals einfach noch zu klein. Denn die gewünschte Wirkung blieb bei mir aus. Die Sätze machten mich zwar nachdenklich, aber sie berührten mich nicht. Heute bin ich stolz auf mich, dass ich nicht eine Träne vergoss wegen meiner bescheuerten Lehrer.
Es gab ja Telefon. Einmal im Halbjahr konnten wir mit Vater telefonieren. Dazu mussten wir allerdings meine Großmutter besuchen. Eine Nachbarin in Zerniki besaß ein Telefon – das einzige im ganzen Ort. Vor ihrem Haus gab es eine Veranda. Dort stand eine Reihe Stühlen, und alle, die mit ihren Familien in Deutschland telefonieren wollten, warteten, bis die Verbindung zustande kam. Das war ja nicht so einfach wie heute: wählen und telefonieren. Man musste manchmal drei, vier Stunden lang warten, bis eine Verbindung stand, da die Leitungen meist überlastet waren und man ständig nur das Besetztzeichen hörte. Entweder versuchten wir, meinen Vater anzurufen, oder wir mussten abwarten, bis er bei uns durchkam und es klingelte. Der einfachere Weg war, Briefe zu schreiben. Aber da hörte man nicht die Stimme des anderen …
Warum haben sich Familien damals diese schmerzhaften Trennungen überhaupt angetan? Klar, kann man das rückblickend fragen. Aber die 100 Mark, heute 50 Euro, die uns mein Vater jeden Monat nach Polen schickte, bedeuteten für uns das Fünffache eines polnischen Monatsgehalts. Von diesem zusätzlichen Geld konnte meine Mutter – sofern es überhaupt etwas zu kaufen gab – uns gelegentliche Extras gönnen. Manchmal hatte man jedoch Geld zur Verfügung, aber es gab gar keine Ware im Geschäft.
Natürlich musste meine Mutter zudem eigenes Geld dazuverdienen. Sie arbeitete erst als Verkäuferin beim Bäcker, später als Helferin in der Notaufnahme im Krankenhaus. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nach der Schule immer mit dem Bus zu meiner Oma gefahren bin. Dort gab es Mittagessen. Abends bin ich zurück in unseren Ort gereist. Ich war eigentlich ständig nur am Pendeln. Am Wochenende wohnten meine Mutter und wir Kinder dann im Haus bei den Großeltern.
Meine Großmutter war für mich der Mensch, der mir am meisten Wärme gab. Mehr als meine Eltern. Sie war eine Oma wie aus dem Bilderbuch. Egal, welchen Mist ich auch angestellt habe, ob meine Mutter oder mein Opa mit mir schimpften – meine Oma Christa hat mich auf ihren Schoß gesetzt, mich fest umarmt und gesagt: „Ich halte zu dir, mein Schatz. Die anderen sind doch alle doof.“ Sie war für mich als Kind der Sonnenschein meines Lebens. Leider starb meine geliebte Oma am 19. Februar 2010. Ihr warmes Lächeln und ihren besonderen Duft nach Pfirsichen bewahre ich tief in meinem Herzen.
Meine Oma hatte eine Nachbarin. Mit deren Enkel Heinrich spielte ich immer auf der Straße Fußball. Von morgens bis abends. Wir waren richtige Straßenkinder. Uns bekam man kaum ins Haus, solange wir einen Ball zur Verfügung hatten. Eines Tages bekam die Familie Besuch von Verwandten aus Deutschland, die als Geschenk für Heinrich ein Paar nagelneue Fußballschuhe von Adidas mitgebracht hatten. Ich werde das nie vergessen! Fußballschuhe waren für uns damals das Allergrößte, und dann auch noch in einer so kleinen Größe. Das war unglaublich! Als hätte man vor 20 Jahren ein iPhone geschenkt bekommen!
Vor dem Haus hatten die Großeltern von Heinrich eine Einfahrt aus Asche. Bestimmt zehn Jungen haben sich dort stets versammelt. Heinrich kam natürlich in seinen Fußballschuhen. Jeder von uns durfte sie mal anziehen und damit zur Garage rennen und wieder zurück – ausziehen und zack, war der Nächste dran. Ein unvergessliches Erlebnis.
Kurze Zeit später spielten wir einmal in den Hügeln rund um den Ort, als wir plötzlich von weitem ein grünleuchtendes Auto ins Dorf fahren sahen. Ein Ford Capri in Metallic-Grün. Die Sonne schien, und es wirkte, als würde das Auto leuchten. Wir konnten unser Glück kaum fassen, als würde ein Lamborghini in Rio de Janeiro in die Favelas einfahren. Was war das denn?! Wir rannten sofort runter ins Dorf, um zu sehen, wo das Auto hin wollte. Es fuhr in unsere Straße und hielt tatsächlich vor dem Haus meiner Großeltern. Mein Herz ist fast stehengeblieben vor Aufregung.
In der ersten Sekunde dachte ich, es könne vielleicht mein Vater sein.
Nein.