Fantasy. Martin Hein

Читать онлайн.
Название Fantasy
Автор произведения Martin Hein
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия Musiker-Biografie
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783708105260



Скачать книгу

auf der Durchreise war. Scharen von Kindern klebten mit ihren Nasen an dem Auto. Als ich endlich ankam, traute ich mich erst gar nicht, ins Haus zu gehen. Stumm und ehrfürchtig saß ich bei meiner Oma auf dem Schoß und inhalierte jedes Wort, das der Mann über Deutschland erzählte. Er hatte mir Schokolade mitgebracht, die ich noch am selben Abend auf der Straße mit meinen Freunden teilte.

      Als der Mann weg war, saß in ich in Omas Küche auf dem Boden und spielte mit einem Auto. Während ich unter den Stuhl kroch, auf dem kurz zuvor der fremde Mann gesessen hatte, nahm ich plötzlich einen besonderen Geruch war. Er kam von dem Kissen, das auf dem Stuhl lag. Ich konnte das Waschpulver der Jeans riechen, die der Mann getragen hatte. Es roch nach Westen! Ich nahm das Kissen in die Hand und roch an diesem Abend immer wieder daran. Nie zuvor habe ich mich so intensiv nach Freiheit und meinem Vater gesehnt wie in diesem Moment …

      Ähnlich ging es uns, wenn wir Pakete aus dem Westen geschickt bekamen. Meine Mutter stellte sie immer auf den Küchentisch. Wenn ich nach Hause kam und unsere Schätze in Händen hielt, roch das alles so intensiv nach Deutschland. Die Seife. Der Kaffee. Die Schokolade. Das alles war purer Luxus für uns, den wir uns in Polen nicht leisten konnten. Außerdem schmeckten die Sachen aus dem Westen viel besser als die polnischen Produkte. Diese intensiven Geschmackserlebnisse haben sich bis heute tief in meine Erinnerungen eingegraben. Sie lassen mich noch ein bisschen mehr schätzen, wie gut es mir heute geht und was ich mir alles erarbeitet habe. Damals, in meinem kleinen Dorf im armen Polen hätte niemand damit gerechnet, dass ich einmal als Musiker Karriere machen sollte.

      Kapitel 2:

      Fredi besitzt kroatische Wurzeln und hat es in seinem jungen Leben nicht einfach

      In bin in Deutschland geboren. Am 11. März 1971 um 4 Uhr früh im Klinikum Essen. Mein Bruder Djordje (das spricht man Georgie) war schon fast drei, als ich die Familie Malinowski komplettmachte. Ich möchte meinen Weg mit meinem Vater Josef Malinowski beginnen, denn wegen ihm hat sich alles Weitere für die Familie ergeben. Er war ursprünglich Deutscher mit polnischer Abstammung. Er hatte, wie ich, in Essen das Licht der Welt erblickt. Am 5. März 1940. Mein Vater war vier Jahre alt, als sein eigener Vater bei einem Grubenunglück auf der Zeche Zollverein in Essen ums Leben kam. Bei einer Schlechtwetterexplosion ereignete sich die Katastrophe. Einige Zeit später hat meine Oma, also die Mutter meines Vaters, dann einen Kroaten kennengelernt und ist mit ihm und ihren drei Söhnen in dessen Heimat ausgewandert.

      Er hatte ihr ein sorgenfreies Leben versprochen, in einem riesigen Haus am Meer: Sie müsse nie mehr arbeiten und noch ganz viel Blabla mehr –

      denn natürlich stimmte kein einziges Wort. Viele von Omas Freunden konnten ihren Wegzug nicht verstehen. Immerhin wäre sie nach dem Tod ihres Mannes, der ja durch einen Arbeitsunfall gestorben war, durch den deutschen Staat abgesichert gewesen. Sie bekam Unfall- und Witwenrente und für die Kinder Waisenrente. Von dem vielen Geld konnte sie richtig gut leben. Doch sie wollte auf niemanden hören und zog bei Nacht und Nebel mit ihrem Lover nach Kroatien.

      Als sie dort angekommen waren, hat er die Ausweise von ihr und den Kindern weggeworfen, damit sie nicht wieder zurück nach Deutschland hätten gehen können. Also lebten sie fortan in einem uralten Haus, besser gesagt: in einem Stall. Ausrangierte Holztüren wurden auf den Boden gelegt, damit sie nicht auf dem kalten Boden schlafen mussten, es gab weder Strom noch heißes Wasser, meine Oma musste auf einem betagten Holzofen kochen und Gemüse auf dem Feld anbauen. Es muss die Hölle gewesen sein, doch meine Großmutter hat nie den Mut gefunden, diesen Mann zu verlassen. Tja, deshalb sind mein Vater und seine Brüder dann in ärmsten Verhältnissen groß geworden. Auch Papa blieb in Kroatien. Als er 27 war, hat er auf einer Hochzeit meine damals 17-jährige Mutter Radojka kennengelernt, auch Kroatin.

      Es war bei beiden Liebe auf den ersten Blick. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, hat den beiden geraten, sofort zu heiraten. Sie war streng katholisch und bestand darauf, diese Beziehung quasi schon nach dem ersten Kuss zu legitimieren. Sie riet meiner Mutter: „Behalte diesen Mann. Er ist im reichen Deutschland geboren, du gehst mit ihm, und dort wirst du es dann gut haben.“ Und so ereilte meine Mutter leider dasselbe Schicksal, welches auch meiner anderen Oma schon mit ihrem kroatischen Mann zugestoßen war. Meine Eltern heirateten, als meine Mutter bereits mit meinem Bruder schwanger war. Dann zogen sie nach Deutschland, weil mein Vater seiner jungen, unerfahrenen Frau erzählt hatte, wie gut es allen Menschen dort gehe; jeder habe Arbeit, wohne in einem eigenen Haus und fahre ein großes Auto. Dass die Wirklichkeit eine andere war, ahnte meine Mutter zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

      Sie sind dann in Metzingen bei Stuttgart hängengeblieben. Dort fand mein Vater einen Job als Maurer, und dort wurde im Juni 1968 auch mein Bruder geboren. Sie blieben ein Jahr, wohnten in einer Einzimmerwohnung zu dritt – und dann hat es meine Mutter nicht mehr ausgehalten. Sie ging mit meinem Bruder für ein halbes Jahr zurück nach Kroatien. Mein Vater fing an zu trinken. Er kam nicht damit klar, dass sie ihn verlassen hatte. Er reiste ihr hinterher, gelobte Besserung und schaffte es tatsächlich, dass meine Mutter ein zweites Mal mit ihm nach Deutschland ging.

      Sie zogen nach Essen. Dort fand mein Vater mithilfe seines Bruders eine winzige Wohnung und eine neue Arbeitsstelle als Maurer. Es war nur ein Zimmer, Bad und Toilette befanden sich auf dem Flur und wurden von allen Mietern genutzt. Als ich zur Welt kam, wohnten wir immer noch in diesem Loch. Und das sollte so bleiben, bis ich zwölf war. Wir waren sehr, sehr arm.

      Aber das Schlimmste, was passierte – ich hätte beinahe meine Mutter verloren. Als ich vier Jahre alt war, ist Mama schwer erkrankt. Sie hatte Krebs, musste ins Krankenhaus und kam nach der OP direkt zur Kur. In dieser Zeit kamen mein Opa und meine Oma zu uns nach Deutschland, um mich mit nach Kroatien zu holen. Zwei Jahre sollte ich letztlich bleiben, und ich kann rückblickend sagen, dass es mir dort fantastisch ging und diese Zeit wohl zu der schönsten und sorgenfreiesten meines Lebens gehört. Bei Oma und Opa hatte ich einfach ein sehr angenehmes Leben. Ich habe dort auch viel gelernt: nähen, kochen, backen, solche Dinge. Ich hatte ja zwei Jahre Zeit, meiner Oma bei ihrer Arbeit zuzugucken. Sonst gab es nicht viel zu tun für mich. In dem kleinen Ort gab’s ja sonst keine Kinder. Spannend –

      vor allem für meine Großeltern – war es trotzdem jeden Tag. Mit fünf Jahren bekam ich eine schwere Lungenentzündung und wäre fast gestorben. Meine Oma ist dann mit mir bei Wind und Wetter, ich war eingepackt in viele, viele Decken, zum Arzt gelaufen, der mir eine Spritze in den Hintern verpasste. Das werde ich nie vergessen, weil ich doch – auch heute noch – so ein Angsthase bin, wenn ich zum Arzt muss. Und einen Tag später war ich wieder total fit. Gott sei Dank. Meine Oma hat noch viele Jahre lang erzählt, dass ich fast gestorben wäre und bereits ganz blau angelaufen sei. Na ja.

      Meine behütete, wunderschöne Kindheit ging also weiter. Ich habe mich danach nie wieder so geliebt gefühlt wie von meiner Oma und meinem Opa. Ich fühlte mich wie Heidi, die mit ihrem geliebten Opa und Ziegen auf der kleinen Hütte in den Bergen groß wurde. Bis irgendwann der Tag kam, als mein Vater und meine Mutter vor der Tür standen und mich abholen wollten. Ich war mittlerweile sechs und sollte nach den Sommerferien eingeschult werden. Es war ein Schock für mich. Ich weiß noch, dass ich mich, so sehr ich konnte, gewehrt habe: Wir waren in Rijeka am Bahnhof. Ich habe meinen Vater und meine Mutter geschlagen, weil ich nicht weg wollte. Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, in diesen Zug einzusteigen. Trotzdem haben sie mich ins Abteil geschleppt, und ich habe lauthals geweint, bis wir nach 14 Stunden in den Essener Hauptbahnhof eingefahren sind. An diesen Schmerz in meiner kleinen Kinderseele erinnere ich mich immer noch so intensiv, als wäre es gestern gewesen. Das Trauma, das mir meine Eltern bei der Trennung von meinen Großeltern zugefügt haben, ohne darüber nachzudenken, ist nachhaltiger und lebensbestimmender, als sie hätten ahnen können. Solche Erfahrungen prägen. Gerade auch, wenn man sie in frühen Jahren macht.

      Als ich wieder in Essen wohnte, konnte ich kein Deutsch mehr. Ich verstand, was die (für mich fremden) Menschen in meinem Umfeld sagten, aber ich hatte vergessen, dass ich ihnen auch auf Deutsch antworten musste, damit sie mich verstehen konnten. Ich ging nach draußen auf die Straße, wo alle Kinder spielten, und habe auf Kroatisch geantwortet, wenn sie mich etwas fragten. Ich kannte die Kinder ja noch von früher, wir waren Freunde gewesen, bis ich zu meinen Großeltern gezogen war. Doch plötzlich haben sie mich ausgelacht, weil