Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

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Название Lou Reed - Transformer
Автор произведения Victor Bockris
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454649



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In dieser Hinsicht übte Bob Dylan einen großen Einfluss auf Lou aus, ebenso bei der anschließenden Entscheidung, nicht nach Harvard zu gehen. Anstatt sich dort in das Hauptstudium für Literatur einzuschreiben, gewann seine Liebe zum Rock ’n’ Roll endgültig die Oberhand, und er beschloss, diesen Weg einzuschlagen. Dylan hatte ihm nicht nur einen Weg gezeigt, wie man Songtexte schreiben konnte, sondern er hatte für die intellektuelle Anerkennung des Singer/Songwriters gesorgt. Das war ein wichtiger Punkt. Lou war es wichtig, dass er intellektuell für voll genommen wurde. Delmores Reaktion auf seine Entscheidung war für ihn von großer Bedeutung; er wollte nicht, dass dieser dachte, seine Worte seien für Lou unwichtig gewesen. Auf der anderen Seite gab ihm vielleicht gerade Delmores Kollaps die nötige Freiheit, um zu der Reise in eine Region aufzubrechen, die ihn schon immer angezogen hatte – die Kombination von Literatur und Rock.

      „Ich dachte, all diese Schriftsteller beschreiben doch nur einen kleinen Teil der menschlichen Erfahrungen“, erläutert Lou. „Und eine Platte könnte doch wie ein Roman sein, man könnte sie genauso schreiben. Es war so nahe liegend, es war sonderbar, dass nicht alle damit anfingen. Nehmen wir uns Schuld und Sühne und machen daraus einen Rocksong!

      Aber wenn wir schon von den Großen reden, keiner ist größer als Raymond Chandler. Ich meine, wenn man Raymond Chandler gerade gelesen hat und dann ein anderes Buch nimmt, das ist genauso wie ein Essen, das mit Kaviar beginnt, und dann kommt plötzlich ein absolut minderwertiger zweiter Gang. Nimm also die Sensibilität Raymond Chandlers oder Hubert Selbys oder Delmore Schwartz’ oder Poes und mach Rockmusik daraus.“

      Wie jede introspektive Tätigkeit bedeutete Schreiben für Lou einiges mehr als nur einen anregenden Zeitvertreib. Für ihn war es ein langer, schmerzhafter Prozess. „Ich schreibe wirklich sehr gern“, sagte Lou in einem Interview. „Aber es ist qualvoll. Es ist ein sonderbarer Vorgang. Ich hab’s nie so ganz verstanden. Aber ich bin dafür bereit, ich bin dafür geschaffen, ich versuche, mein Umfeld so gut wie möglich darauf einzurichten. Ich versuche, mir nicht im Weg zu stehen. Wenn ich einmal mit Tippen angefangen habe, höre ich nicht mehr auf. Ich halte nicht an und versuche etwas zu verbessern, weil es sonst verschwindet, und ich kann es dann nicht wieder finden. Raymond Chandler: ‚Die Blonde war so anziehend wie eine gespaltene Lippe.‘ So was ist schwer zu schlagen. Er spricht über den Daumennagel von einem Typ, er sagt, dass der Nagel wie der Rand eines Eiswürfels aussieht. Zack, das kann man sich vorstellen. Und das ist das, was ich auch versuche. Ich versuche, mit nur wenigen Worten ein sehr visuelles Sprachbild zu schaffen, das man sich schnell vorstellen kann. Die meiste Zeit verbringe ich damit, zu kürzen. Ich nehme tonnenweise Zeug raus. Ordentlich abspe­cken. Das ist das Ziel. Ich versuche, Gefühle zu vermitteln. Dabei gibt es einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber außerdem bearbeite ich die Wörter so lange, bis sie wirklich etwas aussagen, damit die Botschaft schnell verstanden wird und so bildhaft wie möglich ist.“

      Während dieser Tage verarbeitete Lou weiterhin seine Alltagserfahrungen zu Songmaterial. Er verbrachte viel Zeit damit, nach New York zu fahren, um dort Drogen zu beschaffen und neue Bands anzuhören. Er war besonders begeistert von Ornette Coleman und versuchte alle seine Konzerte zu besuchen, wenn er in New York auftrat. In seinem letzten Semes­ter führten das Schreiben, die Drogen, seine Einsamkeit und seine Faszina­tion vom Underground-Jazz zu einer kreativen Explosion. Er schrieb damals zumindest zwei seiner späteren berühmten Songs, „I’m Waiting For The Man“ und „Heroin“. Ihre sprachliche Genauigkeit und der wache Geist, der dahinter stand, kündigten bereits jenen Lou Reed an, der als der Baudelaire von New York bekannt werden würde. „Ich habe eine wichtige Entscheidung getroffen“, verkündet er in „Heroin“ und lässt darauf die schwärzeste Zeile der Rockmusik folgen: „Ich werde versuchen / mein Leben zu annullieren.“

      „Zu der Zeit, als ich ‚Heroin‘ schrieb, empfand ich mich als einen ziemlich negativen, überspannten, gewaltsamen, aggressiven Menschen. Ich wollte mit diesen Songs das Dunkle in mir exorzieren, oder vielleicht auch das selbstzerstörerische Element, und hoffte, dass andere Leute die Songs auch so verstehen würden. ‚Heroin‘ ist dem Gefühl sehr nahe, das man von Smack bekommt. Es beginnt auf einer gewissen Ebene, aber es ist eine Täuschung. Du denkst, du hast Spaß. Aber wenn es zuschlägt, ist es bereits zu spät für dich. Man hat keine Wahl. Es wird immer stärker und schneller, und es kommt immer näher. In dem Song passiert all das, was auch in Wirklichkeit mit dir geschieht.“ Lou brauchte ein Jahr dafür, um „Heroin“ aus dem Urtext und einigen Grundakkorden in einen der größten Rock­songs aller Zeiten zu verwandeln. Mishkin half Lou dabei, den unvergess­lichen Bass herauszuarbeiten. Erst als Lou im folgenden Frühjahr auf John Cale traf, entwickelte er die Plattenfassungen der beiden Songs.

      Sein letztes Jahr war von Konflikten und Frustrationen gekennzeichnet, die sich in verschiedenen dramatischen Zwischenfällen entluden. Im Oktober fuhren die Eldorados zum Sarah Lawrence College, um dort eine Reihe von Wochenendauftritten zu absolvieren. Seit Hyman sein Studium abgeschlossen hatte und durch einen anderen Schlagzeuger ersetzt worden war, hatte Lou noch weniger Geduld mit den schwer schuftenden Bandmitgliedern. Als sie an einem Abend an ihrem Auftrittsort ankamen, wollte Lou nicht spielen. „Er sagte: ‚Verdammt noch mal, ich spiele nicht für diese Vollidioten‘“, erinnert sich Mishkin. „Und plötzlich, direkt vor unseren Augen, zerschlug er mit seiner Hand ein Fenster“ (genau wie Lincoln, der das ein Jahr vorher auch getan hatte). „Natürlich konnte er danach nicht mehr spielen. Wir brachten ihn ins Krankenhaus, und er wurde richtig genäht.“

      Lou trug weiterhin zur Schau, wie schlecht er drauf war. Anstatt seinen zunehmenden Drogenkonsum zu verheimlichen, wurde er zu einer Art wandelndem Werbeplakat dafür. Um acht Uhr morgens, wenn die anderen Studenten zum Unterricht trotteten, stand er, mit dem unmissverständ­lichen Kopfnicken, das eine Folge des Heroinkonsums ist, vor der Orange Bar und wartete auf Delmore. „Eines Tages – es war Anfang Frühling – saß ich in der Orange Bar“, erinnert sich Sterling. „Lou und dieser Typ saßen in einem roten Cabriolet, das dem Typen gehörte; beide saßen auf den Vordersitzen und nickten mit den Köpfen, während das Radio in voller Lautstärke lief, bei offenem Verdeck. Ich ging raus, schloss das Verdeck und stellte das Radio aus. Ein anderes Mal saß ich in der Orange Bar, und Lou kam rein. Er dachte, er würde sich auf den Ellenbogen aufstützen, aber der befand sich etwa dreißig Zentimeter oberhalb des Tisches.“ Die örtliche Polizei, die entschlossen war, gegen den Drogenkonsum vorzugehen, wurde auf sein Benehmen aufmerksam und beobachtete ihn.

      In einem Essay schrieb Reed später: „Die Polizisten der Stadt, in der ich studierte, hatten mich ersucht, die Stadt noch vor meinem Examen zu verlassen, da ich im Verdacht stand, in einige undurchsichtige Vorgänge verwickelt zu sein. Damals hatten nur wenige Leute lange Haare, aber sie erkannten einander zumindest als gute Typen und Marihuanaraucher. Sie konnten mich nicht schnappen.“

      Lou stand jedoch unter intensiverer Polizeiüberwachung, als er selbst wusste. 1963, als sich der Drogenkonsum in den Colleges rasch ausbreitete, hatte das Syracuse Police Department eine kleine Truppe von Beamten unter der Leitung von Sgt. Robert Longo vom Sittendezernat eingestellt und eine neue Abteilung zum Kampf gegen Drogen aufgebaut. Um es mit dem ersten Satz aus Lous Lieblingsbuch Naked Lunch von William Burroughs zu sagen, das kurz zuvor veröffentlicht worden war: „Ich spürte, wie die Bullen mich umzingelten.“ Um etwas gegen die zunehmende Überwachung durch die Polizei zu tun, hatten sich Shelley und eine Freundin mit zwei Mitgliedern dieser Drogenabteilung angefreundet. „Das Auto der Drogen­überwachung hielt vor meiner Wohnung, und obwohl sie eigentlich hätten arbeiten sollen, hingen sie nur herum und tranken Bier“, erinnert sie sich. „Und schmusten ein bisschen mit uns herum, ohne dass sie uns zu nahe gekommen wären. Sie kamen herauf, wurden ein bisschen gedrückt und geküsst und dachten, Wunder was für Fortschritte sie bei den verdorbenen Collegemädchen machten. Lou traf die Bullen auch und hatte während seines ganzen letzten ­Jahres mit ihnen Kontakt. Sie kamen häufig an die Uni. Und sie waren hinter Lou her. Sie mochten Lou überhaupt nicht, weil sich einer der Typen in mich verknallt hatte; deswegen wollten sie Lou an den Kragen.“

      Shelley war sich der Tatsache, wie sehr die Bullen hinter Lou her waren, voll bewusst („Sie dachten, er sei eine verdorbene, miese Tunte“, sagt sie); auch dass sie ihn total zusammenschlagen würden, wenn er ihnen in die Hände fiel. So stellte sie die Bedingung, dass sie sich nur mit den Bullen treffen würde, wenn