Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

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Название Lou Reed - Transformer
Автор произведения Victor Bockris
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454649



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„Lonely Woman“. Die erste Ausgabe, im Savoy unter den wohlwollenden Augen von Gus Josephs erstellt, enthielt eine Geschichte ohne Titel, im vorhergehenden Kapitel bereits erwähnt, die mit Luis Reed unterschrieben war. Darin wurde Sidney Reed als ein Typ dargestellt, der seine Frau verprügelt, und Toby als Kinderschänderin beschrieben. Shelley, die auch an der Publikation beteiligt war, war überzeugt davon, dass Lou mit dieser Geschichte ganz bewusst versuchte, sein Image als ebenso düstere wie geheimnisvolle Person auszubauen, genau wie seine homosexuellen Affären ein Versuch waren, mit der Off-Beat-Schwulenszene in Kontakt zu kommen. Sie nahm an, dass er intelligent genug war, um zu erkennen, wie unwohl man sich als Leser dieser Geschichte fühlen musste. „Und das wollte Lou immer erreichen“, sagt sie. „Er wollte, dass sich die Leute unbehaglich fühlen.“

      Die erste Ausgabe von LWQ brachte „Luis“ seine erste Pressemeldung ein. Daily Orange, die Collegezeitung, hatte die Zeitschrift besprochen und Lincoln interviewt, der sich damit brüstete, dass die gesamte Hunderter-Auflage des Magazins in drei Tagen vergriffen gewesen sei. Die erste Ausgabe war auch wirklich wohlwollend aufgenommen worden, doch dann wurden alle Redaktionsmitglieder ziemlich träge, mit Ausnahme von Lou, der die zweite Ausgabe herausbrachte. Sie enthielt auf der ersten Seite sein Aufsehen erregendes zweites Stück. Unter dem Titel Profile: Michael Kogan – Syracuse’s Miss Blanding hatte er einen besonders aufmerksamkeits­heischenden und spektakulären Angriff auf den studentischen Führer der Jungen Demokratischen Partei zu Papier gebracht. Hyman erinnert sich: „Er schrieb so ungefähr, Kogan solle sich die amerikanische Flagge in den Hintern stecken und damit einmal quer übers Collegegelände marschieren. Das war damals ein echt haarsträubender Vorschlag.“

      Unglücklicherweise entpuppte sich Kogans Vater als Rechtsanwalt. „Er befand, dass es sich hier um üble Nachrede handelte“, erinnert sich Sterling. Und er wollte Lou hochgehen lassen. Lou wurde also vor den Dekan zitiert. Aber Kogan und sein Vater waren so gereizt und beleidigend, dass der Dekan nach und nach für Lou Partei ergriff. Nach der Unterredung sagte er dann zu Lou nur, er solle weiterarbeiten und aus dem Zimmer verschwinden, er wolle nicht weiter gegen ihn vorgehen. Damit hatte Reeds literarische Karriere im Mai 1962 sozusagen mit einem Blitzstart begonnen.

      Trotz all dieser Ereignisse war es aber nicht der Unterricht, der Lous zweites Jahr in Syracuse dominierte, sondern seine Beziehung zu Shelley. Sie verbrachten so viel Zeit wie nur möglich miteinander; am Wochenende stiegen sie oft in den Wohnungen von Freunden ab, und sie liebten sich in Verbindungszimmern, in Autos und hinter irgendwelchen Büschen, wenn es sein musste. Lou erhielt in „Einführung in die Mathematik“ ein D und ein F in „Englische Geschichte“ [die Noten D und F entsprechen den deutschen Notenstufen „Ausreichend“ und „Mangelhaft“; Anm. d. Ü.]. Er geriet wieder in Konflikt mit den Behörden, als Nelson Slater, der gelegentlich bei den L. A. And The Eldorados mitspielte, wegen Drogenbesitzes festgenommen wurde und einige Leute verpfiff, darunter auch Lewis und Mishkin.

      „Wir haben die ganze Zeit Dope geraucht“, gibt Mishkin zu. „Aber niemals während der Arbeit. Mag schon sein, dass wir ab und zu spielten, dann was rauchten und danach noch so ein bisschen vor uns hin improvisierten. In jedem Fall mussten Lou und ich und einige andere ins Büro des Dekans. Der sagte dann: ‚Wir wissen, dass ihr Marihuana raucht, packt also am besten gleich aus.‘ Wir hatten wirklich Angst, ich jedenfalls ganz bestimmt. Lou war sauer. Auf die Collegeleitung und auf Nelson. Alles in allem ging die Sache aber noch glimpflich aus. Wir hatten Glück, andererseits hatten sie auch keine Beweise in der Hand. Immerhin muss­ten wir ins Büro, und sie versuchten uns mit der bekannten ‚Wir wissen über alles Bescheid, der und der hat gesagt‘-Nummer zu bluffen.“

      Aufgrund der vielen Überschreitungen und seines offensichtlich geringen „akademischen Eifers“ wurde Lou am Ende des zweiten Jahres auf akademische Bewährung gesetzt.

      Der Sommer 1962 war nicht ganz einfach für Lou. Er hatte Probleme damit, das erste Mal länger als einen Tag von Shelley getrennt zu sein. Er versuchte trotz der tausend Meilen, die zwischen ihnen lagen, die Kontrolle über sie aufrechtzuerhalten, indem er einen intensiven Briefwechsel mit ihr begann: Jeden Tag schrieb er ihr einen langen Brief, der einer Geschichte glich. Die Briefe begannen mit einem Bericht über seinen Tagesablauf – bestehend aus einem nächtlichen Besuch des Hayloft, einer Schwulenbar. Dabei versuchte er, sie mit vieldeutigen Kommentaren in Unruhe zu versetzen. Dann schlug sein Brief plötzlich ins Romanhafte um, und er fing an, eine Kurzgeschichte zu erzählen, die seine Leidenschaft und Sehnsucht nach Shelley widerspiegelte. Eine solche Geschichte war zum Beispiel „The Gift“, die auf dem zweiten Album der Velvet Underground, White Light/White Heat, erschien. Lou beschreibt sich darin als einen einsamen Langweiler aus Long Island, der sich nach seiner Freundin sehnt. Höhepunkt der Geschichte war, dass der liebeskranke Autor sich selbst per Post in einem gebärmutterartigen Pappkarton abschickte. Im Schlussbild, einem guten Beispiel für den jüdischen Humor, der Reeds Arbeit prägte, bringt das Mädchen ihren Freund um, als sie den Pappkarton mit einem Cuttermesser öffnet.

      Shelley, ein klassischer passiv-aggressiver Typ, schrieb ihm zwar kaum zurück, aber sie telefonierte ab und zu mit ihm, und Lou war von dem, was er hörte, gar nicht angetan. Lou hatte sich vorgestellt, dass sich Shelley den Sommer über, während sie getrennt waren, in ihrem Zimmer einschließen und ihre Zeit ausschließlich damit verbringen würde, an ihn zu denken. Aber das sah Shelley ganz und gar nicht ähnlich. Zu Beginn der Ferien war sie zwar im Krankenhaus gewesen, um sich ihre Mandeln entfernen zu lassen, aber schon im Juli hatte sie mehrere Verehrer, und einer von ihnen war sogar wahnsinnig in sie verliebt. Die Gefühle, die Lou in „The Gift“ beschrieb, waren seine eigenen. Frustriert tigerte er in seinem Zimmer auf und ab. Er ertrug es nicht, keine Kontrolle über Shelley zu haben. Es machte ihn wahnsinnig.

      Er brütete einen Plan aus. Wieso nicht hingehen und sie besuchen? Schließlich war er ihr Freund, schrieb ihr jeden Tag und sprach mit ihr am Telefon. Seine Eltern, ausgehöhlt durch die Launenhaftigkeit ihres Sohnes in diesem Sommer, unterstützten das Unternehmen nur zu gern; seine Besuche im Hayloft und das tägliche Gitarrespielen stimmten sie miss­trauisch. Ein Besuch bei Shelley war ihrer Meinung nach ein Schritt in die richtige Richtung. Anfang August flog er nach Chicago.

      Shelley hatte vehement gegen seinen Besuch protestiert; am Telefon warnte sie Lou davor, dass ihre Eltern ihn nicht mögen würden, dass er einen Fehler begehe und dass es einfach nicht gut gehen könne. Aber Lou, der „ihr direkt gegenüberstehen wollte“, wie sie sich erinnert, bestand darauf.

      Lou hatte bereits seit einiger Zeit ein Verhaltensmuster entwickelt, das er immer dann anwandte, wenn er in eine neue Umgebung kam. Er sprengte die bestehenden Gruppen und machte sich selbst zum Mittelpunkt. Besuchte er eine Familie, ging er, kaum dass er die Türschwelle überschritten hatte, bereits davon aus, dass der Vater ein tyrannisches Ungeheuer sei, vor dem man die Mutter beschützen müsse. In seiner ersten Nacht im Haus der Albins verwickelte Lou Mr. Albin sehr geschickt in eine politische Diskussion. Er schätzte ihn, nicht unzutreffend, als liberalen Demokraten ein und schlug ihn mit einer detaillierten Verteidigungsrede für den berühmt-berüchtigten konservativen Kolumnisten William Buckley technisch k. o. Während Shelley, voller Grausen und Faszination, zuhörte, näherte sich ihr Vater einem Schlaganfall. Lou war offensichtlich nicht der richtige Mann für seine Tochter. Er wollte ihn nicht einmal im Haus haben.

      Die Albins hatten im nahe gelegenen Evanston, in der Northwestern University, ein Zimmer für Lou gemietet. Lou griff noch einmal tief in seine Trickkiste und holte zu einem doppelten Schwinger für Mr. Albin aus. In derselben Nacht, als er Shelley um ein Uhr von einer Kinovorstellung im Wagen von Mr. Albin nachhause brachte, fuhr er den Wagen in den Straßengraben und zwang Mr. Albin auf diese Art, aufzustehen, sich anzukleiden und das verbeulte Auto herauszuziehen.

      Von da an ging’s bergab. Lou machte noch einen tapferen Versuch, Mrs. Albin auf seine Seite zu ziehen. Eines Abends, als der Herr des Hauses abwesend war, saß er mit Shelley und ihrer Mutter beim Abend­essen. Er begann auf seine klassische Tour und sagte: „Also Sie sind wirklich sehr nett. Wenn nicht dieses Monster hier im Haus wäre …“ Aber Mrs. Albin war völlig immun gegen seinen jungenhaften Charme. Sie hatte mehrfach die Briefe gelesen, die er während des Sommers an Shelley geschrieben hatte, und hatte sich ihre eigene Meinung über Lou gebildet. Sie hasste ihn leidenschaftlich – und tut es auch heute noch, mehr als