Jungsteinzeit. Silviane Scharl

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Название Jungsteinzeit
Автор произведения Silviane Scharl
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170367425



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Habererkirche von 15 900 km2 und für die Fundstelle Krautinsel von 25 300 km2. Diese relativ großen Schweifgebiete könnten Richter zufolge bedingt sein durch die großräumige Verteilung der Ressource Fleisch im klimatisch gemäßigten und stark bewaldeten Habitat. Interessant ist nun die Beobachtung, dass die Größe spätmesolithischer Schweifgebiete in Altbayern deutlich kleiner ist (Winterzach 13 700 km2, Germering Nebel 10 700 km2). Gleichzeitig verändern sich die Besiedlungsmuster. Wie die Steingerätespektren zeigen, ist das frühmesolithische Siedlungssystem geprägt durch Basislager, in denen diverse Aufgaben erledigt werden, und Außenlager, die für spezifische Aufgaben errichtet wurden (z. B. Jagd). Diese Struktur lässt sich für das Spätmesolithikum in Altbayern nicht mehr nachvollziehen. In dieser Zeit geht die Zahl der Lager zurück und solche, die kurzfristig, für spezifische Aufgaben errichtet wurden, lassen sich nicht mehr nachweisen. Dies wurde lange Zeit als Beleg dafür interpretiert, dass Mitteleuropa am Ende des Mesolithikums fast menschenleer gewesen sein musste, weshalb die Anfänge der Nahrungsmittelproduktion nur durch die Einwanderung neolithischer Bauern aus dem südöstlichen Mitteleuropa erklärt werden konnten. Richter kann nun aber zeigen, dass sich vor allem die Siedlungsstruktur vom Früh- zum Spätmesolithikum deutlich veränderte. Den Rückgang der Lagerplätze führt er nicht darauf zurück, dass die Größe der mesolithischen Bevölkerung sank, sondern dass sich die Struktur des Siedlungsverhaltens änderte. So belegen die Steingerätespektren in spätmesolithischen Lagerplätzen nun die Ausführung diverser Aufgaben. Dies lässt sich für alle von ihm untersuchten Fundplätze zeigen. Zudem deutet sich an, dass diese Lager länger belegt waren. Für die frühmesolithischen Basislager rekonstruiert Richter eine Nutzungsdauer von max. zwei, in Ausnahmefällen bis zu drei Monaten, für das Spätmesolithikum dagegen bis zu sechs Monate38.

      Die von ihm gemachten Beobachtungen könnten Richter zufolge damit erklärt werden, dass die Bedeutung pflanzlicher Nahrung wuchs, sodass weniger Lagerplatzwechsel stattfinden mussten, wodurch die Größe des

      Abb. 4.5: Oben – Schweifgebiete der frühmesolithischen Fundstellen Krautinsel, Habererkirche und Essing. Unten – Schweifgebiete der spämesolithischen Fundstellen Winterzach und Germering-Nebel. Berechnung auf der Basis der genutzten Feuersteinrohmaterialien.

      Schweifgebiets abnahm. Allerdings schränkt er ein, dass hierfür in einem gewissen Rahmen Vorratshaltung vonnöten war39 – eine Idee, die auf ethnographische Daten zurückgeht40.

      Auf der Grundlage seiner Untersuchungen zu den genutzten Rohmaterialien errechnet Richter die Bevölkerungsdichte für die beiden untersuchten Zeitabschnitte. Für das Frühmesolithikum errechnet er einen Mittelwert von 0,0014 EW/km2, für das Spätmesolithikum einen Anstieg auf 0,0023 EW/km2, was fast einer Verdopplung gleichkommt. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Diskussion, inwieweit in Mitteleuropa am Übergang vom Mesolithikum zum Neolithikum ein massiver Bevölkerungsrückgang anzunehmen ist. Richter kann zumindest in seinem Untersuchungsgebiet einen Bevölkerungsanstieg plausibel machen, der hier mit der Beobachtung einer abnehmenden Mobilität korreliert41.

      Low-level-food-production im mitteleuropäischen Mesolithikum – ein Fazit

      Fassen wir all diese Beobachtungen zusammen, erkennen wir durchaus Entwicklungen, die zu einer Lebens- und Wirtschaftsweise hinführten, wie wir sie im nachfolgenden Neolithikum fassen. Für diese Zwischenform zwischen einem reinen Wildbeuter-Dasein, das durch eine ausschließlich aneignenden Wirtschaftsweise geprägt war, und einer vollwertigen produzierenden Wirtschaftsweise kann durchaus diskutiert werden, ob es sich bereits um eine Form von low-level-food-production handelte. Dieses Konzept geht auf Bruce Smith zurück, der es unter gleichnamigem Titel 2001 veröffentlicht hat. Darin kritisiert er, dass unsere Vorstellungen zu Wildbeutern und Bauern lange Zeit von der Idee geprägt gewesen seien, dass diese beiden Lebensweisen sehr verschieden seien, sich quasi gegenseitig ausschließen würden und auch keine Übergangsformen existierten. Damit verknüpft war die Idee eines schnellen Übergangs von einer aneignenden hin zu einer produzierenden Wirtschaftsweise, vom Wildbeuterdasein hin zur Landwirtschaft, der auch kein Zurück ermöglichte. Wie Smith selbst, aber auch schon Forscher vor ihm beobachten konnten, gibt es in vielen Regionen jedoch durchaus Übergangsformen, die zeigen, dass es einen »middle ground« zwischen den beiden Extremen eines reinen Wildbeuterdaseins und der vollwertigen Landwirtschaft gab. Schließlich – so Smith – sehen wir im Neolithikum lediglich das Endprodukt, während wichtige Entwicklungen bereits in den Jahrhunderten davor stattfanden.

      Dieser »middle ground« beschreibt verschiedene Formen von Mensch-Pflanzen- und Mensch-Tier-Interaktion42. Sie bilden ein Kontinuum von wachsenden menschlichen Eingriffen in den Lebenszyklus von spezifischen Arten, wobei diese Intervention ganz gezielt und räumlich fokussiert eingesetzt werde. Konkret handelt es sich dabei um gezielte und fokussierte Manipulationen von Pflanzen und Tieren wie z. B. die gezielte Veränderung der Alters- und Geschlechtsstruktur von Wildtierpopulationen (Schutz und Förderung; Jagd von Fressfeinden, Förderung von Weideflächen, Aufzucht zahmer Tiere), die Förderung der Wachstumsbedingungen spezifischer Pflanzenarten (Pflanzen, Säen, Unkrautjäten, Ernten, Vorratshaltung, Bewässerung), die Kontrolle der Reproduktion von Arten oder eine sich entwickelnde Abhängigkeit von menschlichem Eingreifen. Aber auch die teilweise Nutzung domestizierter Arten sieht er hier verortet, wobei diese hier noch eine untergeordnete Rolle spielen. Smith zufolge führt erst ein Beitrag von mehr als 30–50 % der jährlichen Kalorienaufnahme aus domestizierten Arten hin zu einer vollwertigen Landwirtschaft. Für das Mesolithikum Mitteleuropas wäre durchaus zu diskutieren, ob es sich zumindest in manchen Regionen um Formen einer low-level-food-production ohne Domestikate gehandelt haben könnte.

      Was Smiths Modell nicht berücksichtigt, sind Aspekte, die nicht direkt mit der Wirtschaftsweise, insbesondere mit der Nutzung und Domestikation von Pflanzen und Tieren verknüpft sind. Aussagen zu Entwicklungen im kulturellen und sozialen Bereich werden in sein Modell nicht miteinbezogen. Die Frage, die daher gestellt werden muss, ist: Gab es Veränderungen im kulturellen und sozialen Bereich, die das mitteleuropäische Mesolithikum ebenfalls als Wegbereiter für das nachfolgende Neolithikum erscheinen lassen? Die Hinweise auf Vorratshaltung, Verkleinerung der Schweifgebiete, eine wachsende Bevölkerungsdichte und eine Siedlungsstrategie, bei der die Menschen länger an einem Ort verweilten und zudem alle Aufgaben dort verrichteten, deuten sehr wohl in Richtung neolithischer Lebensweise.

      Generell müssen wir annehmen, dass diese Entwicklungen im kulturellen und sozialen Bereich eng verknüpft sind mit der Ressourcenverteilung, d. h. der ökologischen und ökonomischen Ausgangssituation. So ermöglichen dichte und vorhersagbare Ressourcen ein längeres Verweilen an einem Ort, eine höhere Bevölkerungsdichte und möglicherweise auch die Entwicklung von stabilen Territorien mit allen sozialen und kulturellen Implikationen wie die Entstehung von Ungleichheit. Eine geringe Ressourcendichte und eine schlechte Ressourcenvorhersagbarkeit führte hingegen zu erhöhter Mobilität und einer räumlich dispersen Verteilung der sozialen Gruppen und damit verknüpft dem Fehlen von Territorien und dem Vorhandensein einer eher egalitären Sozialstruktur43. Ausgehend von dieser Theorie Robert Kellys würde man für das mitteleuropäische Mesolithikum aufgrund der Wiederbewaldung und des nacheiszeitlichen Verschwindens großer Tierherden eher vom letztgenannten Modell ausgehen. Eine aktive Gestaltung der Umwelt z. B. durch Pflanzenmanagement und gezielte Bevorratung dürfte einer geringen Ressourcendichte und einer schlechten Ressourcenvorhersagbarkeit Ressourcenvorhersagbarkeit jedoch entgegengewirkt haben, denn dadurch war es möglich, diese zumindest teilweise (für bestimmte Jahreszeiten) auszugleichen. Die vorangehend vorgestellten Entwicklungen, die die mesolithische Lebens- und Wirtschaftsweise in Mitteleuropa charakterisieren, könnten als Hinweis darauf interpretiert werden, dass hier erste Schritte hin zur Entwicklung komplexer Wildbeutergruppen fassbar werden. Dennoch, und dies zeigen die archäologischen Quellen unbestritten, führten diese Entwicklungen im Mesolithikum Mitteleuropas nicht zu einer rein nahrungsmittelproduzierenden Wirtschaftsweise. Zwei Erklärungen könnten hier angeführt werden:

      1) Zum einen mag die Einwanderung bereits agrarisch wirtschaftender