Название | ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat |
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Автор произведения | Horst Dreier |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935702 |
Neben die normativitätsstiftende Funktion tritt die einheitsstiftende Funktion der Grundnorm, die als gleichsam höchster Abschlußpunkt (apex norm) des Stufenbaus der Rechtsordnung fungiert41. Die wesentlich auf Adolf Merkl zurückgehende Stufenbaulehre rückt das Phänomen der Selbsterzeugung (und Selbstvernichtung) des Rechts in einem interdependenten Normenkosmos als Abfolge stufenweise zunehmender Konkretisierung ins Bewußtsein42. Die Rechtsnormen stehen demgemäß in einem wechselseitigen Delegations- und Ableitungszusammenhang. Die Geltung einer Norm läßt sich nur aus der Geltung einer höheren Norm herleiten. Dabei reduziert die Reine Rechtslehre die Rechtsordnung nicht auf generelle Normen einschließlich des Gewohnheitsrechts, sondern begreift sie als Gesamtheit der auf den verschiedenen Rechtsebenen erzeugten Rechtsakte: von der Verfassung über Gesetze und Verordnungen bis hin zu richterlichen Urteilen, behördlichen Entscheidungen oder den zwischen Privatpersonen geschlossenen Verträgen (lex contractus)43. Ein einheitliches System formen die mannigfachen positivrechtlichen Normen allein dadurch, daß sie auf denselben letzten Geltungsgrund, die gedachte Grundnorm, verweisen.
Dieses theoretische Gesamtarrangement von disziplinärem Selbstand der Rechtswissenschaft, neukantianisch-wertrelativistischer Geltungsbegründung und Stufenbaulehre zeitigt durchaus konkrete Folgen für Kelsens Positionierung in Fragen der Interpretationslehre, der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Staatsverständnisses.
III. Interpretationslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit
Der Zusammenhang zwischen der Stufenbaulehre und der Interpretationstheorie Kelsens44 liegt auf der Hand. Denn wenn es jeweils höhere und niedrigere Stufen der Normerzeugung mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad gibt, dann ist unmittelbar evident, daß die höherrangigen Normen wie etwa die Bestimmungen der Verfassung über Inhalt, Form und Verfahren der Gesetzgebung die darunter liegende Normerzeugung, also die vom Parlament beschlossenen Gesetze selbst, nicht vollständig determinieren, sondern nur in gewisser formeller und materieller Weise vorstrukturieren, ihnen gleichsam einen Rahmen geben kann. Und was für das Verhältnis von Verfassung und Gesetz gilt, gilt Kelsen zufolge auch für die weiteren Stufen, etwa für die Verordnunggebung, die sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben halten muß, oder noch stärker für die Anwendung des Gesetzes auf einen Einzelfall. Abstrakter gesprochen:
„Das Verhältnis zwischen einer höheren und einer niederen Stufe der Rechtsordnung, wie zwischen Verfassung und Gesetz oder Gesetz und richterlichem Urteil, ist eine Relation der Bestimmung oder Bindung; die Norm höherer Stufe regelt […] den Akt, durch den die Norm tieferer Stufe erzeugt wird […] Diese Bestimmung ist aber niemals eine vollständige.
Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie vollzogen wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.“45
Daraus ergibt sich zwingend, daß es bei der interpretatorischen Anwendung einer Norm eine einzige richtige Entscheidung nicht geben kann, woraus wiederum folgt, daß die nicht selten anzutreffende Einordnung Kelsens als Vertreter der Begriffsjurisprudenz vollständig in die Irre geht46. Er selbst hat sich aufgrund seiner ausgeprägten Skepsis gegenüber der disziplinierenden Kraft der gängigen Interpretationsmethoden eher der Freirechtsschule zugeordnet47. Jedenfalls ist für ihn klar, daß jeder Rechtsanwendungsvorgang auch und zugleich ein Rechtserzeugungsvorgang ist, in dem – in unterschiedlicher Mischung der Bestandteile – volitive und kognitive Elemente zusammentreffen. Interpretation ist somit teils Erkenntnis, teils Willensakt, Kognition und Dezision zugleich, was Adolf Merkl in das plastische Bild vom „doppelten Rechtsantlitz“ gekleidet hat48. Vorstellungen von Rechtsanwendung als einem mechanischen, sich sozusagen automatenhaft vollziehenden Vorgang sind ihm ebenso fremd wie der Mythos von der einen, einzigen richtigen Entscheidung. Von einem simplen Subsumtionsschluß oder von Interpretation als einem Akt reiner Logik kann bei ihm keine Rede sein. Ganz im Gegenteil öffnet Kelsen das Tor weit für das subjektive, von Werturteilen geprägte Ermessen des jeweiligen Rechtsanwenders, der eben immer zugleich auch Rechtsschöpfer ist49. Mit der Unterscheidung zwischen authentischer und rechtswissenschaftlicher Interpretation wird einerseits die geringe Bedeutung, die Kelsen der Wissenschaft für die konkrete Rechtspraxis beimißt, evident, andererseits der politische Charakter des Handelns der Rechtsanwender, zuvörderst der Richter, offengelegt, die sich nicht länger hinter der Vorstellung wertfreier, unpolitischer Normanwendung verschanzen können50.
Auch zwischen Stufenbaulehre und Kelsens Konzeption einer Verfassungsgerichtsbarkeit als einer Normprüfungsinstanz besteht ein evidenter Zusammenhang, den er bei seinem Wiener Staatsrechtslehrervortrag deutlich expliziert hat51. Wenn die Frage der Konformität eines Rechtsaktes oder einer Norm mit den Vorgaben einer ranghöheren Norm juristischer Überprüfung zugänglich ist und wenn es insbesondere der Idee des Rechtsstaates entspricht, gemäß dem tradierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Handeln der Verwaltung gerichtlich auf Übereinstimmung mit den förmlichen Gesetzen hin überprüfen zu können – dann gibt es keinen prinzipiellen Grund, die Gesetze ihrerseits als Normen einer höheren, aber wiederum unter der Verfassung stehenden Stufe von einer solchen, strukturell gleichen Prüfung auszunehmen. Die in der politischen Diskussion der Weimarer Zeit außerordentlich umstrittene gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von (Reichs-)Gesetzen52 erscheint auf einsichtige und geradezu elegante Art und Weise funktionell als gedanklich zwingende Komplettierung der (allgemein akzeptierten) Überprüfung von Verwaltungsakten auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz. Neben die Verwaltungsgerichtsbarkeit tritt eine „Gesetzgebungsgerichtsbarkeit“53. Demgemäß hat Kelsen davon gesprochen, daß die österreichische Verfassung von 1920 von Anbeginn Garantien „nicht nur für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ enthalte54. Weil er aber um die Schwierigkeiten effektiver Hegung rechtsinterpretatorischer Gerichtsmacht wußte, drängte er sowohl auf die Konzentration entsprechender Gesetzesüberprüfungskompetenzen bei einem eigens dafür geschaffenen Gerichtshof (einschließlich eines eng umrissenen Kreises von Antragstellern) als auch auf unbedingte Vermeidung von generalklauselartigen Bestimmungen in der Verfassung selbst; präzise Kontrollmaßstäbe sollten eine Machtverschiebung vom demokratisch gewählten Parlament hin zur Judikative vermeiden55. Das in der Weimarer Republik von vielen propagierte (diffuse) allgemeine richterliche Prüfungsrecht56 erachtete er hingegen angesichts der bekannten sozialen Rekrutierung der meisten Richter und ihrer entsprechenden politischen Einstellung als „Selbstmord der Demokratie“57.
IV. Bundesstaat, Staatslehre, Völkerrecht
Die These vom Föderalismus als einer starken Wurzel der Staatsgerichtsbarkeit58 bestätigend, hatten die Beratungen zur österreichischen Bundesverfassung von 1920 ihren Ausgang bei der Frage nach den Kontrollmöglichkeiten für bundesstaatswidrige Landesgesetze genommen, um dann in einem zweiten bedeutsamen Schritt auch die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen einzubeziehen, also die föderale Hierarchie um die Normenhierarchie zu ergänzen59. Kelsen zufolge vollendet sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erst die politische Idee des Bundesstaates60. Diesen konzipiert er in Aufnahme älterer Traditionen in dreigliedriger Weise61. Neben den Gliedstaaten und dem Zentralstaat kennt er eine dritte Größe, den Gesamtstaat bzw. besser und genauer: die Gesamtverfassung. Sie übergreift Zentralstaat und Gliedstaaten und organisiert die Zuordnung der Kompetenzen auf Zentralstaat und Gliedstaaten sowie deren näheres Verhältnis zueinander. Dieser dritten (verfassungstheoretischen) Größe entspricht keine weitere staatliche Ebene; vielmehr fungiert der Bund das eine Mal als Zentralstaat, das andere Mal als Gesamtstaat bzw. als Gesamtverfassung. Obwohl in Deutschland noch immer die Zweigliedrigkeitslehre vorherrscht62, hat man Kelsens Lehre doch attestiert, die weder auf hierarchische Subordinationsverhältnisse noch auf reine Koordinationsbeziehungen reduzierbaren