Название | ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat |
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Автор произведения | Horst Dreier |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935702 |
II. Das Lebenswerk: Die Reine Rechtslehre
Zeit seines Lebens hat Kelsen an einer Theorie des Rechts gearbeitet, der er im Laufe der Jahre den Namen „Reine Rechtslehre“ gegeben hat. Grundgelegt wurde sie in seiner Habilitation von 1911, sodann in zahlreichen Aufsätzen und Monographien fortentwickelt19, monographisch in der ersten Auflage von 1934 und der im Umfang mehr als vervierfachten Auflage von 1960 in eine konsolidierte Gestalt gebracht20, ohne daß Kelsen danach seine Bemühungen um weitere Verbesserung, Korrektur oder Vertiefung seines Konzepts eingestellt hätte. Nur folgerichtig befaßt sich Kelsens letzte zu Lebzeiten publizierte Veröffentlichung in sehr detaillierter Weise mit kritischen Einwänden gegenüber seiner Lehre21. Auch nach 1960 hat er an seinem Theoriegebäude kleinere und größere Umbauten vorgenommen. Davon legt insbesondere die postum erschiene Studie über eine allgemeine Normentheorie22 Zeugnis ab, die zu einigen, zum Teil als gravierend einzuschätzenden Revisionen bestimmter Theorieelemente geführt hat23. Im folgenden kann es nur holzschnittartig um zentrale Aspekte und wesentliche Grundzüge gehen.
1. Das Wissenschaftsprogramm
Mit der Reinen Rechtslehre intendiert Kelsen, wie es im Vorwort zur ersten Auflage programmatisch heißt, die „Jurisprudenz auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben“ und die Rechtswissenschaft dem „Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern“24. Gefährdungspotential für dieses Wissenschaftsprogramm25 erblickt Kelsen zum einen in der Vermengung von Aussagen über das Recht mit (rechts-)politischen Auffassungen und persönlichen Wertungen bis hin zu der tief eingewurzelten „Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht […] politische Forderungen zu vertreten“. Die Nähe zu Max Webers Konzept der Werturteilsfreiheit ist unverkennbar26. Genauso wie jener erhebt er insofern nicht die Forderung, auf Werturteile zu verzichten, sondern lediglich, wissenschaftliche Aussagen und politische Meinung voneinander zu trennen27. Und ebensowenig wie jener leugnet Kelsen keineswegs die politischen, ökonomischen, sozialen und sonstigen Kausalfaktoren bei der Entstehung und Durchsetzung des Rechts28. Kelsen propagiert nicht die Reinheit des Rechts im Sinne seiner illusionären Enthobenheit von realen gesellschaftlichen Prozessen. Gefordert wird vor dem Hintergrund eines in neukantianischer Tradition29 scharf herausgearbeiteten Dualismus von Sein und Sollen vielmehr die Reinheit der rechtswissenschaftlichen Behandlung des Rechts. Die Reine Rechtslehre will nicht Lehre des reinen (guten, richtigen, gerechten) Rechts, sie will vielmehr reine (unverfälschte, objektive) Lehre des Rechts sein30. Die Entpolitisierungsforderung bezieht sich allein auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf das Recht selbst, um dessen wertungsabstinente Rekonstruktion und Darstellung es geht.
Bei der Bewältigung dieser Aufgabe befindet sich Kelsen in einer doppelten Frontstellung31 einerseits gegenüber den Kausalwissenschaften, insbesondere der Rechtssoziologie, andererseits gegenüber allen Strömungen, die das positive Recht einer höheren, nichtjuristischen Normsphäre unterwerfen wollen, wie das vor allem für das Naturrecht gilt. Kelsen hält auf der einen Seite die Sollensdimension des Rechts gegen alle Versuche fest, rechtswissenschaftliche Normbeschreibung durch Explikation kausaler Zusammenhänge zu ersetzen oder zu verdrängen. „Die Faktizität sagt juristisch eben gar nichts.“32 Das Recht ist ein normatives Deutungsschema realer Vorgänge, das diesen einen bestimmten Sinn verleiht. Deswegen lehnt Kelsen auch „realistische“ Konzeptionen ab, die – wie beispielsweise der skandinavische Rechtsrealismus33 – die Sollenskomponente letztlich leugnen bzw. in psychische Zwangsvorstellungen auflösen wollen. Speziell der Rechtssoziologie wird freilich die Existenzberechtigung nicht abgesprochen, doch besteht Kelsen auf klarer Abgrenzung der verschiedenen Disziplinen mit entsprechendem Bewußtsein für deren je spezifische Methoden sowie ihre unterschiedliche Erklärungsweite und -richtung. „Rechts- und Staatssoziologie sind durch Kelsens Theorie nicht ausgeschlossen, sie sind nur als Soziologie zu betreiben.“34
Komplettiert wird das Bemühen um die Reinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis durch die Ablehnung des Naturrechts. Ungeachtet der Vielfalt von Aussagen und Argumenten, die Kelsen im Laufe seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Naturrecht vorgebracht hat, steht auch hier der Gedanke im Vordergrund, das Erkenntnisobjekt so klar wie möglich zu erfassen. Resultierte die Gefährdung durch die Kausalwissenschaften aus einem drohenden Verlust der Sollenssphäre, so resultiert sie nun aus der Überlagerung der Rechtssphäre durch eine andere, als höherrangig angesehene Sollenssphäre eines wie auch immer näher begründeten und ausgeformten Naturrechts. Einer solchen Vermengung normativer Welten und Systeme hält Kelsen die Position entgegen, daß die Rechtswissenschaft das positive, vom Menschen gesetzte Recht ohne relativierende oder korrigierende Beimischung anderer Normensysteme zu erkennen und zu erfassen habe, worin zugleich ein Antidot gegen ideologische Aufladungen des Rechts gesehen wird35. Es geht, dem Objektivitätsideal der Wissenschaft entsprechend, um das Recht, wie es ist, nicht, wie es sein sollte. Rechtswissenschaft soll das Recht weder billigen noch mißbilligen, sondern erkennen und beschreiben36. Auch das fehlerhafte, unsittliche Recht gehört dem Normensystem Recht an und kann – und muß unter Umständen – vom Standpunkt der Ethik und der Moral kritisiert werden. Die Qualifizierung einer effektiven Zwangsordnung menschlichen Verhaltens als Rechtsordnung sagt Kelsen zufolge über deren Dignität und Anerkennungswürdigkeit nichts aus, schon gar nicht ziehen die Rechtsnormen eine Gehorsamspflicht nach sich37. Die Frage, ob das Recht zu befolgen ist oder ob man dagegen revoltieren sollte, kann nicht vom positiven Recht selbst beantwortet werden. Diese Antwort überläßt die Reine Rechtslehre der autonomen Entscheidung eines jeden Einzelnen und seiner religiösen, weltanschaulichen, politischen oder sonstwie geprägten Werthaltung.
2. Die Grundnorm
Kelsens doppelte Frontstellung gegen die Okkupation der Rechtswissenschaft durch die Kausalwissenschaften einerseits, die Subordination unter ein Naturrecht andererseits wirft die schwierige Frage nach dem verbleibenden Geltungsgrund für das Recht auf, wenn dieser weder in der puren Faktizität einer effektiven Zwangsordnung noch in der Legitimation durch überpositive Normen gefunden werden kann. Hier kommt die in mancherlei Bedeutungsvarianten schillernde Figur der Grundnorm38 ins Spiel, die als – von Kelsen teils als hypothetisch, teils als fiktiv gedeutete – Annahme gewissermaßen die Last der Normativitätsstiftung zu tragen hat. Nur durch ihre Zugrundelegung wird es möglich, eine effektive, faktisch wirksame staatliche Zwangsordnung als Rechtsordnung zu betrachten und das Recht als Deutungsschema für reale Vorgänge anzuwenden39. Da aber für den Wertrelativisten Kelsen40 die Verbindlichkeit von Rechtsnormen in einer weltanschaulich pluralen Welt nicht mehr objektiv und allgemeingültig begründet werden kann, bietet die Grundnorm zwar einen letzten, aber keinen festen Halt: denn ihre Annahme beruht auf einer keinesfalls zwingenden Entscheidung des Rechtsbetrachters. Man kann die jeweilige staatliche Rechtsordnung auch schlicht als bloß faktisch überlegenes Macht- und Gewaltaggregat,