Название | ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat |
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Автор произведения | Horst Dreier |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935702 |
Der dritte und letzte Beitrag widmet sich vertieft dem Wertrelativismus als einem zentralen Element in Kelsens Demokratiebegründung. Hier dient als Kontrastfolie vornehmlich die Position des überaus prominenten Wertrelativismus-Kritikers Josef Kardinal Ratzinger, des späteren Papst Benedikt XVI. Diese Gegenüberstellung liegt nicht allein deswegen nahe, weil der katholische Theologe Ratzinger sich wiederholt dezidiert kritisch zu Kelsen geäußert hat, sondern auch, weil Kelsen sich in seinen einschlägigen Schriften mehrfach auf die im 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums geschilderte biblische Szene bezieht, in der Jesus vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus erscheint und dieser die berühmte Frage „Was ist Wahrheit?“ an ihn richtet. Die Pointe liegt darin, daß Kelsen aus dieser Geschichte und ihrem Fortgang ein Argument für den Wertrelativismus zu schmieden versteht.
III.
Einführungen in die Werke bedeutender Autoren wollen erste Einblicke gewähren, aber vor allem auch zu vertieftem weiteren Studium anregen. Diesem Zweck dienen zum einen die Anmerkungen zu den drei Beiträgen, zum anderen die Auswahlbibliographie Kelsens sowie die Hinweise zur Sekundärliteratur. Dieses Material findet sich am Ende des vorliegenden Büchleins und soll eine gezielte Vertiefung ermöglichen. Besondere Hervorhebung verdient hierbei die jüngste dort verzeichnete Publikation, nämlich die 2020 erschienene, rund tausend Seiten starke Biographie Kelsens von Thomas Olechowski („Hans Kelsen – Biographie eines Rechtswissenschaftlers“)2. Für Leben und Werk Hans Kelsens stellt dieses maßstabsetzende Buch mit seiner geschickten Verschränkung von Lebens- und Werkgeschichte eine unerschöpfliche Fundgrube dar. Kelsen war ein langes, ein bewegtes – und auch bewegendes – Leben beschieden. Es war ein weiter Weg vom Wien des fin de siecle bis nach Kalifornien in Zeiten von flower power. Allein die Spanne seiner Publikationen erstreckt sich über mehr als sechs Jahrzehnte: die erste Veröffentlichung erschien 1905, die letzte 1968. Diese sechs Jahrzehnte sind durch gewaltige politische Zäsuren und tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse gekennzeichnet. Im Rückblick erstaunt nicht zuletzt angesichts des phasenweise unsteten Schicksals und der Unsicherheit von Kelsens akademischer Position der hohe Grad an thematischer Kontinuität seines wissenschaftlichen Werkes und die ausdauernde Beharrlichkeit seiner Arbeit daran. Auch wenn man ihn nicht als den Juristen des 20. Jahrhunderts ansehen mag – ein Jahrhundertjurist war er ohne jeden Zweifel.
1 Die genauen bibliographischen Angaben zu den im folgenden genannten Werken finden sich in der Auswahlbibliographie Kelsens am Ende dieses Bandes.
2 Vgl. dazu meine Rezension: Das Recht, so wie es ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 194 vom 21. August 2020, S. 10.
Hans Kelsen (1881–1973)
I. Lebensstationen: Von Prag über Wien und Köln nach Berkeley
Mehr als zehn Ehrendoktorate, darunter die der Universitäten Utrecht (1936), Harvard (1936), Chicago (1941), Berkeley (1952), Berlin (1961), Wien (1961), Paris (1963), Salzburg (1967) und Straßburg (1972); hohe und höchste Auszeichnungen, darunter das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1961) sowie der Ehrenring der Stadt Wien (1966); Übersetzungen der eigenen Werke in weit über 20 Sprachen, darunter englisch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, schwedisch, ungarisch, tschechisch, hebräisch, japanisch, koreanisch, chinesisch; drei ihm gewidmete Festschriften; geläufige und häufige Charakterisierung als der „Jurist des 20. Jahrhunderts“ – als Hans Kelsen am 19. April 1973 nahe der amerikanischen Pazifikküste starb, war er ohne Zweifel ein berühmter, vielgeehrter und in aller Welt hoch geachteter Mann der Wissenschaft1. Vorgezeichnet war ihm dieser Weg zweifelsohne nicht, als er am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn eines jüdischen Lampenhändlers geboren wurde, und auch nicht, als die Familie nach Wien übersiedelte, wo er nach der Matura 1900 und nach dem Studium der Rechtsund Staatswissenschaften an der Wiener Universität 1906 promoviert wurde2. Der eigenem Bekunden zufolge religiös indifferente Kelsen trat 1905, um sich eine akademische Karriere nicht zu verbauen, zum römisch-katholischen Glauben, 1912 kurz vor seiner Heirat mit Margarete Bondi wie diese wiederum zum evangelischen Glauben (Augsburger Bekenntnis) über3. Den Grundstein für seinen wissenschaftlichen Ruhm legte er dann 1911 mit seiner Habilitationsschrift4. Das grundlegend Neue dieser Arbeit blieb den Zeitgenossen nicht verborgen5, und in den nächsten Jahrzehnten erarbeitete Kelsen mit einer Vielzahl von Einzelpublikationen eine vollständige Neukonzeption der Rechtswissenschaft, die in dem 1934 erschienenen und „Reine Rechtslehre“ betitelten Werk ihre erste gültige Zusammenfassung finden sollte6. Doch liegen zwischen diesen beiden Jahreszahlen (1911, 1934) nicht nur wesentliche weltgeschichtliche Ereignisse, sondern auch wichtige Etappen im Leben und im Wirken Kelsens. Während des Ersten Weltkrieges war er krankheitsbedingt im Kanzleidienst tätig, vor allem im Kriegsministerium, wo er zuletzt als Referent des Kriegsministers Stöger-Steiner als Verfassungsexperte wirkte7. Staatskanzler Dr. Karl Renner zog ihn 1918 zur Mitarbeit am Entwurf einer neuen Verfassung heran. Kelsens verbreitete Charakterisierung als (gar alleiniger) „Schöpfer“ der österreichischen Bundesverfassung von 1920 geht sicher zu weit; man wird seiner Bedeutung eher gerecht, wenn man ihn als einen der wesentlichen Mitgestalter oder vielleicht als Architekten dieses Staatsgrundgesetzes apostrophiert8. Eine wesentliche Rolle hat er zweifelsohne bei der Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt, und zwar in Gestalt eines besonderen, institutionell verselbständigten Gerichtshofes mit der Kompetenz zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle von Landes- und Bundesgesetzen9. Diesem Verfassungsgerichtshof gehörte er dann auf einen überparteilichen Vorschlag hin seit 1920 als „auf Lebenszeit“ gewählter Richter (und einer der wenigen ständigen Referenten) an10. Freilich führten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eskalierende politische Konflikte dazu, daß es bei der Bestellung auf Lebenszeit nicht blieb. Stein des Anstoßes vor allem für die konservativen Kräfte war die maßgeblich von Kelsen geprägte und verantwortete liberale Haltung des Gerichtshofs in der Frage der sog. Dispensehen11. In der Folge kam es zu einer unter der Flagge der Entpolitisierung segelnden Ablösung aller Verfassungsrichter; für eine Neuwahl (allein) auf Vorschlag der SPD stand Kelsen nicht zur Verfügung.
Auch in seinem akademischen Hauptamt kam es zu maßgeblichen Veränderungen. Er war seit 1919 als Nachfolger seines akademischen Lehrers, Edmund Bernatzik, ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien; mit einigen seiner Kollegen hatte er sich in jenen Jahren zum Teil heftige wissenschaftliche Dispute geliefert12. Zudem dürften ihn die Anwürfe speziell aus katholischen Kreisen sowie die allgemein wachsende antisemitische Stimmung bedrückt haben. So nimmt er denn am 15. Oktober 1930 den Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie der Universität Köln (damals nach Berlin die zweitgrößte Preußens) an – ganze acht Monate nach seiner Entsetzung als Richter des Verfassungsgerichtshofs. Ungeachtet der auch bei dieser Berufung nicht ausgebliebenen Querelen13 folgt eine wissenschaftlich fruchtbare und befriedigende Phase14. Sie endet jäh. Während seiner Amtszeit als Dekan wird er am 12. April 1933 als einer der ersten Betroffenen auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen, wovon er aus der Zeitung erfährt15. Es beginnen schwierige Jahre. Zunächst lehrt er in Genf am „Institut universitaire des