Lernen S' Geschichte, Herr Reporter!. Ulrich Brunner

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Название Lernen S' Geschichte, Herr Reporter!
Автор произведения Ulrich Brunner
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783711052889



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Ermordung von Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1935, zu der die Belegschaft genötigt wurde.

      Als ich 1956 im »Vorwärts« meine Arbeit begann, erzählten die älteren Setzer hin und wieder von den historischen Ereignissen. Die jüngere Generation war gar nicht so politikbewusst, wie man es in diesem ehrwürdigen Haus erwarten konnte. Natürlich waren alle Mitglieder der SPÖ. Aber große politische Diskussionen fanden nicht statt – außer, wenn es um den Februar 1934 ging. Da hatten auch die Jüngeren von ihren Eltern einiges mitbekommen.

      Mein Wechsel von der kleinen Druckerei im nördlichen Weinviertel in den Vorwärts-Verlag in Wien war wie der Umstieg von einem kleinen Ruderboot in einen Ozeandampfer. Die Belegschaft in meinem Lehrbetrieb bestand aus dem Druckereibesitzer, einem Gehilfen und mir. Der »Vorwärts« hatte damals mehr als 700 Beschäftigte und war neben Waldheim-Eberle, wo die Tageszeitungen Kurier und Neues Österreich gedruckt wurden, die größte Druckerei Österreichs. Neben der täglichen Arbeiter-Zeitung wurden noch zahlreiche Wochenzeitungen hergestellt: Die niederösterreichischen Bezirks-Wochenblätter, Welt am Montag, die im Tiefdruck hergestellten Illustrierten Bilderwoche sowie Funk und Film und Das Kleine Blatt mit einer Auflage von mehreren Hunderttausend Exemplaren. Dazu kamen zahlreiche Publikationen der verschiedenen Teilorganisationen der SPÖ.

      Die damals übliche Herstellung erfolgte im Bleisatz. Die in Blei gegossenen Zeilen und Buchstaben wurden in der Setzerei zu Seiten zusammengefügt, von einem sogenannten Metteur, wie diese Setzer genannt wurden. Das machte die Anwesenheit eines Redakteurs beim Umbruch, wie das Zusammenstellen der Seiten genannt wurde, notwendig. Die Bleilettern waren natürlich in Spiegelschrift, sodass der Redakteur erst nach einem Probeabzug Korrektur lesen konnte. Das geschah meist an Ort und Stelle, also in der Setzerei. So lernte man als Setzer die Redakteure näher kennen. Ich wurde als Metteur der Wochenzeitung Heute zugeteilt, deren Chefredakteur war Heinz Brantl, der danach Wahlkampfmanager der SPÖ wurde. Mitarbeiter bei Heute waren unter anderem Günther Nenning, künftiger langjähriger Vorsitzender der Journalistengewerkschaft, der spätere Geschäftsführer des Institutes für Empirische Sozialforschung (IFES) Ernst Gehmacher, Siegfried Kogelfranz, später Ressortleiter Außenpolitik beim Spiegel, und Kurt Kahl, einige Jahre später Kulturchef bei der Tageszeitung Kurier. Der junge Erich Sokol steuerte seine ersten Karikaturen bei.

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      Auch nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden besuchte Kreisky oft den »Vorwärts« wie hier 1968, als er sich von Metteuren die Herstellung der Arbeiter-Zeitung im damals üblichen Bleisatz erklären ließ.

      Gleich neben meinem Arbeitsplatz redigierte der aufstrebende Jungstar der SPÖ Peter Strasser die Abzüge, Peter Schieder werkte beim Umbruch von Trotzdem, der Zeitung der Sozialistischen Jugend. Auf der anderen Seite kümmerten sich Marianne Pollak und Anneliese Albrecht, später Staatssekretärin, um die Wochenzeitung Die Frau, die damals eine hohe Auflage hatte. Schräg gegenüber war das Reich des »Alten«, wie der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak von den Metteuren ehrfurchtsvoll genannt wurde. Er las die Zeitung vor dem Druck von der ersten bis zur letzten Seite.

      Oscar Pollak war in seinem ganzen Auftreten ein Herr. Kein Setzer erlaubte sich ihm gegenüber das übliche Genossen-Du. Er war der »Herr Doktor«, wenn überhaupt jemand ihn als Genosse ansprach, dann per Sie. Pollak leistete sich einmal in der Setzerei einen Eingriff, der in die Annalen der österreichischen Zeitungsgeschichte einging. Er entdeckte beim Umbruch auf der Seite ein Inserat des gewerkschaftseigenen Nahversorgers Konsum, in dem für ein alkoholisches Getränk geworben wurde. Pollak zum Metteur: »Das stellen Sie hinaus!«. Der Metteur ungläubig: »Wirklich, Herr Doktor?« Pollak bestimmt: »Das stellen Sie hinaus!« Am nächsten Tag revoltierte die Anzeigenabteilung. Die Arbeiter-Zeitung war schließlich nicht mit Inseraten gesegnet. Schließlich gab Pollak nach, das Inserat erschien am nächsten Tag, aber Pollak schrieb dazu einen Kommentar und riet mit dem Hinweis auf das Inserat von Alkoholkonsum ab, indem er an ein Wort von Victor Adler erinnerte: »Der denkende Arbeiter trinkt nicht, der trinkende Arbeiter denkt nicht!«

      Von dieser Aktion Pollaks wurde noch lange im »Vorwärts« erzählt, jedenfalls mehr als über seine Leitartikel. Die Arbeiter-Zeitung kam mit ihrem intellektuellen Zuschnitt immer weniger an die Arbeiter heran. Pollak war ein konservativer Zeitungsmacher, für den Bilder in einer Zeitung überflüssig waren. Die von ihm verächtlich genannte »Bilderlpresse« in Form der Kronen-Zeitung fand bei SPÖ-Mitgliedern allerdings immer mehr Zuspruch. Es hatte schon in den 1950er-Jahren die Idee gegeben, die gut gehende SPÖ-Wochenzeitung Das Kleine Blatt täglich herauszugeben. Das Kleine Blatt war schon in der Zwischenkriegszeit als Tageszeitung erschienen, verbreitete sozialdemokratische Politik volksnäher als die Arbeiter-Zeitung und hatte eine Auflage von 160 000 Exemplaren. Oscar Pollak war gegen ein Wiederaufleben des kleinformatigen Blattes als Tageszeitung, weil er fürchtete, dass die Arbeiter-Zeitung damit Leser verlieren würde. Pollaks Einfluss in der Partei war sehr viel größer, als man bei einem Chefredakteur des Parteiorgans vermuten würde. Er war schon vor 1933 Chefredakteur gewesen und hatte dann in der Emigration eine herausragende Rolle gespielt, als er gemeinsam mit Karl Czernetz in London eine Gruppe von österreichischen Exil-Sozialisten leitete.

      Ich glaube nicht, dass Das Kleine Blatt als kleinformatige Tageszeitung gegen die anderen Boulevard-Zeitungen am Markt hätte lange bestehen können. Meine persönlichen Erfahrungen sprechen dagegen. Als sich die Kronen-Zeitung immer häufiger auf die Wiener Stadtregierung einschoss und vor allem Vizebürgermeister Felix Slavik als Zielscheibe auswählte, gründete die Wiener SPÖ 1967 die kleinformatige Neue Zeitung, was mir den Wechsel vom Korrektorenjob im »Vorwärts« in die Redaktion dieser Zeitung ermöglichte. Felix Slavik formulierte als einziges Ziel der Neugründung: »Ihr sollt der Kronen-Zeitung schaden!« Die junge Redaktion versuchte, die Kronen-Zeitung mit reißerischen Kriminalgeschichten zu überbieten. Daraufhin beschwerten sich einige Funktionäre der Wiener SPÖ, weil ihnen das zu weit ging. Da uns auch der Kampagnen-Journalismus, wie er von Krone-Chef Hans Dichand forciert wurde, nicht zu Gebote stand, blieb der Schaden für die Kronen-Zeitung begrenzt. Die Auflage der Neuen Zeitung erreichte nie nennenswerte Höhen und wurde 1971 eingestellt. Die Lehre aus dieser Geschichte: Eine Partei, die anständig bleiben will, kann keine Boulevard-Zeitung herstellen, die mit Appellen an die niedrigen Instinkte der Menschen ihre Mitbewerber am Boulevard übertrumpfen will.

      Als Oscar Pollak 1963 einem Herzinfarkt erlag, verübte seine Frau zwei Tage später Selbstmord, weil sie ohne ihren Mann nicht mehr leben wollte. Das Ehepaar Pollak bekam ein sozialdemokratisches »Staatsbegräbnis«. Die Särge der beiden Toten wurden im Hof des »Vorwärts« aufgebahrt. Die gesamte Belegschaft versammelte sich im Hof, außer der Parteiprominenz war auch Bundespräsident Adolf Schärf gekommen. Die Trauerrede hielt SPÖ-Zentralsekretär Otto Probst. Später sagte mir ein Kollege: »Das war ein Gemeinschaftsgefühl, wie ich es zuletzt vor 1933 erlebt habe!« Der alte Parteigenosse spielte damit auf jene Zeit an, als die Sozialdemokratie in Österreich für alle Lebensbereiche eigene Vereine geschaffen hatte – in bewusstem Gegensatz zu bürgerlichen Organisationen, auch weil letztere oft durch hohe Mitgliedsbeiträge Arbeiter fernhielten. Konsum, ASKÖ, ARBÖ, Arbeiter-Sängerbund, ja selbst für Briefmarkensammler und Fischer gab es eigene Vereine. Als Gegenstück zum Alpenverein, der deutschnational ausgerichtet war und außerdem einen Arierparagrafen in seinen Statuten hatte, gab es die Naturfreunde. All das wurde der Arbeiterschaft durch das Dollfuß-Regime geraubt, die Arbeiter verloren damit ein Stück Heimatgefühl.

      Der »Vorwärts« war ein sehr sozialer Betrieb. Die Arbeitszeit war kürzer als in anderen Betrieben. Die Arbeiter-Zeitung ging schließlich nicht nur am Leserschwund zugrunde, sondern auch an der viel zu teuren Herstellung. Ein Maschinensetzer musste in der Stunde 90 Zeilen setzen, also in acht Stunden 720 Zeilen. Ein guter Setzer schaffte aber 200 Zeilen in der Stunde. Nach vier Stunden war damit die Arbeit getan und er konnte nach Hause gehen. Auch an den Rotationsmaschinen stand lange viel zu viel Personal. Die damaligen Druckmaschinen schafften in einer Nacht nicht mehr als 100 000 Zeitungen. Da die Arbeiter-Zeitung aber in ihrer Blütezeit nach 1945 bis zu 200 000 Zeitungen verkaufte,