Название | Lernen S' Geschichte, Herr Reporter! |
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Автор произведения | Ulrich Brunner |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783711052889 |
Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen:
Dass Arbeit uns und Brot gerüstet stehen;
Dass unsere Kinder in der Schule lernen
Und unsere Alten nicht mehr betteln gehen.
Nimmt man diesen Vierzeiler wörtlich, hat die Sozialdemokratie in der Tat ihre wichtigsten Ziele erreicht. Man könnte sagen: Mission accomplished! Es bleiben natürlich Ungerechtigkeiten. Diese kommen allerdings nicht an das himmelschreiende Elend der Arbeiter heran, das Victor Adler und später den jungen Bruno Kreisky zu ihrem Engagement in der Sozialdemokratie bewegt hat. Es wäre für die Sozialdemokratie trotzdem noch einige Jahre gut gegangen, wenn nicht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein weltweiter Turbokapitalismus Platz gegriffen hätte. Die Einkommensschere zwischen oben und unten vergrößerte sich dadurch dramatisch. Dieser globalen Entwicklung war mit nationaler Politik kaum beizukommen.
Eine kraftvolle Führungspersönlichkeit könnte die Schwäche der SPÖ vielleicht mildern, aber nicht verhindern. Die Situation ist schließlich eine ganz andere als 1970. Damit sind wir beim eigentlichen Gegenstand dieses Buches: bei Bruno Kreisky. Er hat die SPÖ von 1967 bis 1983 geführt. Mit Autorität, mit Kompromissen, wohl auch trickreich, hat er die Gegensätze in seiner Partei ausgeglichen. So eine Figur ist heute aktuell aber nicht in Sicht. Hin und wieder gibt es ein Signal aus dieser Zeit: Hannes Androsch, Finanzminister unter Kreisky, schreibt unermüdlich Bücher und Kommentare, in denen er für mehr Bildung eintritt, weil Österreich nur so gegen internationale Konkurrenz im Wirtschaftsleben bestehen könne. So weit ist Androsch da nicht von Kreisky entfernt. Dieser gewann seine erste Wahl mit dem Slogan »Leistung, Aufstieg, Sicherheit!« Das Wort Leistung hat die SPÖ mittlerweile gestrichen und wirbt mit Slogans wie: »Hol dir, was dir zusteht!« Damit kann eine karitative NGO werben, aber nicht eine Partei, von der die Wähler erwarten, dass sie außer für Sozialzuwendungen auch noch für anderes zuständig ist.
Warum bringt die Sozialdemokratie heute keine herausragenden Politiker vom Schlage eines Kreisky, Brandt, Palme, Mitterrand oder González hervor? Das liegt wohl am ehesten daran, dass nur eine katastrophale Zeit heroische Figuren hervorbringt. Das war schon in der Anfangszeit der Sozialdemokratie so: Die Namen August Bebel, Victor Adler oder Jean Jaurès stehen dafür. Das gilt natürlich auch für bürgerliche Politiker, etwa für Winston Churchill, der durch die große Herausforderung der hitlerschen Barbarei zum unumschränkten Führer Großbritanniens wurde. Kreisky und Brandt mussten durch ein Stahlbad von politischer Verfolgung, Gefängnis und Emigration gehen, bevor sie an die Spitze ihrer Parteien treten konnten. Wohlstandsgesellschaften bringen in der Regel keine herausragenden Führer hervor. Die SPD hat nach Willy Brandt zwölf Parteivorsitzende verbraucht, die SPÖ nach Kreisky auch schon sieben.
In einigen europäischen Ländern sind die Sozialdemokraten von einst mächtigen Regierungsparteien zu Kleinparteien geworden. In Abwandlung eines Wortes von T. S. Elliot kann man sagen, die sozialdemokratischen Parteien sind in diesen Ländern nicht mit einem Knall zugrunde gegangen, sondern mit einem leisen Wimmern. Sie sind mit jeder Wahl schwächer geworden, in einigen Ländern ganz verschwunden. Der Zerfall der Klassen in Lebensmilieus wird dazu führen, dass mehrere Klein- und Mittelparteien die Volksparteien ablösen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Volkspartei SPÖ diesem allgemeinen Trend entziehen kann. Selbst wenn sich die Sozialdemokratie in einigen Jahren wieder erholen sollte, wird sie im 21. Jahrhundert keine derart bestimmende, faszinierende Kraft wie im vorigen Jahrhundert werden. Umso eher lohnt ein Blick zurück zu Bruno Kreisky und dem sozialdemokratischen Reformwerk dieser Jahre.
Kreiskys Leben war durch viele Brüche und Kränkungen gekennzeichnet. Das soll in diesem Buch nachgezeichnet werden. Es gibt meine ganz persönlichen Erfahrungen wieder, die ich als Journalist mit Bruno Kreisky gemacht habe. Neben den persönlichen Begegnungen mit Kreisky stützen sich meine Aufzeichnungen auch auf Aussagen von Gefährten aus Kreiskys Kampfzeit der österreichischen Sozialdemokratie. Ein Seitenblick auf Willy Brandt darf nicht fehlen, wenn man sich mit Kreisky beschäftigt. Es schmälert nicht die Verdienste des bedeutendsten Regierungschefs der Zweiten Republik, wenn man auch an den jähzornigen, ungerechten Kreisky erinnert. Als zeitweiliges Objekt seiner Aggression habe ich mir, so hoffe ich jedenfalls, trotzdem den nüchternen Blick auf die Lebensleistung Kreiskys bewahrt.
Ausgespart in diesem Buch ist der Außenpolitiker Kreisky. Auf diesem Feld hat er geradezu seherische Fähigkeiten bewiesen. Er war der erste westliche Politiker, der erkannte und thematisierte, dass das ungelöste Palästinenserproblem ein ewiger Unruheherd bleiben würde. Die wachsende Kluft zwischen der Ersten und Dritten Welt hat Kreisky gemeinsam mit Willy Brandt und Olof Palme mit dem sogenannten Nord-Süd-Dialog zu überwinden versucht.
Wie bei allen politischen Führern gibt es auch bei Kreisky Licht und Schatten. Für ihn gilt daher Friedrich Schillers Satz aus dem Prolog zu Wallenstein: »Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte!« Wenn heute, nach Jahrzehnten seines Wirkens, Kreisky noch immer Gegenstand des öffentlichen Interesses ist, kann man das vielleicht mit einem Satz von Stefan Zweig erklären: »Unsere Zeit will und liebt heute heroische Biografien, denn aus der eigenen Armut an politisch schöpferischen Führungsgestalten sucht sie sich höhere Beispiele aus den Vergangenheiten!« Das schrieb Zweig 1929, gilt aber heute mehr denn je.
EIN BRIEF VON BRUNO KREISKY
Es war am 23. Juni 1985. Ich war zu dieser Zeit Chefredakteur beim ORF-Hörfunk und sortierte meine Post. Unter den Briefen fand sich auch einer mit dem Absender Bruno Kreisky. Das war etwas ungewöhnlich, hatte ich doch mit Kreisky seit seinem Rücktritt als Kanzler im Jahr 1983 keinen Kontakt mehr. Der Inhalt des Briefes war so, dass ich zunächst an eine Fälschung dachte. »Sehr geehrter Herr Redakteur!« stand da. »Sehr geehrter« war allerdings mit Kugelschreiber durchgestrichen. Dann hieß es weiter: »Ich lese soeben den vollen Wortlaut Ihres Gespräches mit Finanzminister Vranitzky und bin über die Niederträchtigkeit Ihrer Fragen entsetzt. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich mit Ihnen in Zukunft nichts mehr zu tun haben will. Das wird Ihnen sicher beim Generalintendanten sehr nützen, bei allen anständigen Menschen schaden. Eine Fotokopie meines Briefes geht mit gleicher Post an die sozialistischen Mitglieder der Bundesregierung.«
Die Vorgeschichte: Ich hatte am vorhergehenden Samstag Finanzminister Franz Vranitzky für die Sendereihe »Im Journal zu Gast« interviewt. Anlass war die kurz nach seiner Bestellung zum Finanzminister erfolgte Ankündigung Vranitzkys, dass man beim Schuldenmachen im Budget nicht mehr so weitermachen könne wie bisher. Das wurde allgemein als Abkehr von der bis dahin von Kreisky forcierten Politik des deficit spending bewertet. (Dass Vranitzky als Finanzminister und später auch als Bundeskanzler diese Ankündigung nicht einhalten konnte oder wollte, steht auf einem anderen Blatt). Ich stellte in meinem Interview mit Vranitzky die naheliegende Frage, ob man nicht schon früher beim Budget hätte sparen müssen. Vranitzky hütete sich allerdings, Kreisky in den Rücken zu fallen, meinte nur, das gelte für die Zukunft.
Ich fragte einige Male nach und das Interview ging auf Sendung. Es wäre wahrscheinlich der Vergessenheit anheimgefallen, hätte nicht Kurier-Kolumnist Sebastian Leitner eine giftige Glosse Richtung Kreisky geschrieben: »Unser neuer Finanzminister Vranitzky hat im ›Journal zu Gast‹ bewiesen: Er weiß, dass zwei mal zwei vier ist. Kreisky hat das bekanntlich nie gewusst.« Kreisky las die Glosse, bekam einen Wutanfall, verlangte vom Büro Vranitzky eine Abschrift des Interviews und diktierte dann den zitierten Brief. Bevor ich diese Hintergrundgeschehnisse in Erfahrung gebracht hatte, war ich ziemlich unsicher, ob sich da nicht jemand einen Scherz erlaubt hatte, ob der Brief also echt war. Die Diktion schien mir doch etwas ausgefallen.
An einem der nächsten Tage traf ich im Parlament den mir gut bekannten Verkehrsminister Ferdinand Lacina, der einige Jahre Bürochef von Kreisky gewesen war. Lacina warf einen Blick auf den Brief und bestätigte: »Der Brief ist echt. Der ist auf der Schreibmaschine von Kahane geschrieben. [Der Unternehmer Karl Kahane war ein Freund Kreiskys, dessen Büro dieser nach seinem Ausscheiden aus der Politik benützen konnte.] Solche Briefe hat er früher öfter diktiert. Aber da hat