Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie. Mike Rutherford

Читать онлайн.
Название Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie
Автор произведения Mike Rutherford
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454588



Скачать книгу

Ich war wie am Boden zerstört.

      Mit der Milchflasche in der Hand brach ich in Tränen aus und heulte während der ganzen Pause. Die anderen Jungs hatten diese Erfahrung schon vor Wochen gemacht. Mit Sicherheit dachten sie: „Was ist denn mit Rutherford los?“ Doch ich war eben schon immer ein Mensch, der in emotionaler Hinsicht „nachhinkt“.

      Auch Dad hatte eine Vorschule besucht. Sie lag in Rochester und war charakteristisch für die damalige Zeit: Abgewetzte Tische, gesprungene Tintenfässchen, primitive Toiletten und der typische Geruch von Haferflockenbrei, Rouladen, Fleisch-Kartoffel-Auflauf, Gerichten aus Rindertalg und Reispudding. Das war 1914, doch als ich in The Leas ankam, hatte sich nicht viel geändert. Der einzige Unterschied bestand in der vorgeschriebenen Kleidung für den Tanzunterricht. Dad musste ein Eton-Jackett und weiße Glacé-Handschuhe tragen, während ich zumindest Turnschuhe anziehen durfte. Das war nicht gerade ideal, denn mein Partner Jones Minor trampelte mir immer auf die Füße. Außerdem lief ihm ständig die Nase.

      Ich rang meinen Eltern nur ein Versprechen ab, bevor ich ins Internat ging: Ich wollte auf keinen Fall Tanzunterricht nehmen. Wenige Wochen später drehte ich verkrampft und bemüht meine „Walzerrunden“ in der Turnhalle, wobei ich mich im Stich gelassen fühlte.

      Ich empfand keine Wut, weil sie mich ins Internat verfrachtet hatten, sondern eher Selbstmitleid. Nach dem ersten Semester in der Vorschule fasste ich einen festen Plan: Auf gar keinen Fall würde ich wieder dorthin zurückkehren! Meine Eltern gingen jedoch geschickt mit der Situation um. Sie versuchten nie, mir die Schule schmackhaft zu machen, denn sie wussten, dass ich den Braten riechen würde. Stattdessen beschwichtigte mich Mum mit den Worten: „Schau mal, Mikey. Wir haben schon Januar, also zählen wir den Januar nicht. Du kommst im März schon wieder nach Hause, und so bleibt nur der Februar übrig. Nur vier Wochen!“, und ich dachte mir: „Oh ja, über was mache ich mir hier eigentlich Sorgen?“

      Mich beeindrucken die Veränderungen, die sich im Verlauf der Zeit ergeben, und die Gewöhnung an schwierige Umstände. Zurückblickend war die Phase in The Leas gar nicht so schlecht. An dem großen vierstöckigen Gebäude rankten sich Kletterpflanzen hoch. Der Schulleiter betrat es durch eine ausladende, pompöse Tür, und von den Gängen zweigten zahlreiche Flure ab. Am Ende einer Allee befanden sich das Wissenschaftsgebäude, die Spielfelder und ein Hallenbad (ungeheizt – natürlich!). Es gab sogar einen Bereich für das Rollschuhfahren, zwar keine reguläre Bahn, aber immerhin. Am Abend wurde dieser Abschnitt vom Licht der Klassenzimmer erleuchtet, sodass man noch ungefähr eine Stunde nach dem Klingeln fahren konnte, was sich wie der Inbegriff der Freiheit anfühlte.

      Das Essen war ziemlich eklig – ein Missstand, der sich seit 1914 nicht geändert hatte. Allerdings gab es eine überdachte Fruchtbar, die wie eine Kreuzung zwischen einer Nissenhütte und einem Gewächshaus aussah. Beim morgendlichen zweiten Frühstück gingen wir dorthin, um uns Früchte zur Milch auszusuchen. Der Geruch war fantastisch.

      In The Leas förderte man den Obstverzehr, und die von Zuhause zurückkommenden Jungen brachten oft Körbe voller Orangen, Äpfel und Birnen mit.

      Mutter, eine wahre Exzentrikerin, was die Ernährung anbelangte, schickte mich mit Granatäpfeln und Litschis ins Internat. (Hinsichtlich Bananen hatte Mum ihre Marotten. Wenn ich in den Ferien eine Banane essen wollte, an der auch nur eine winzige braune Stelle zu sehen war, schnappte sie sich die Frucht, begutachtete sie und meinte: „Oh, mein Liebling. Die ist schon schlecht. Gib sie Dad.“)

      In der Schule war ich bei den Pfadfindern und sogar Anführer eines Zugs. Wir veranstalteten Schatzsuchen, bei denen man uns nach Hoylake schickte, wo wir auf Zeit eine Liste merkwürdiger Gegenstände einsammeln mussten. Eines Tages fand ich heraus, dass Busfahrten dabei untersagt waren. Meiner Meinung nach hatte ich meine Raffiniertheit unter Beweis gestellt, doch der Klassenlehrer teilte diese Ansicht nicht. Fazit: Eine Tracht Prügel mit einem sehr harten Hausschuh.

      Scout zu sein bedeutete auch, jedes Jahr am Sommercamp teilzunehmen, was ich liebte. Dad borgte mir seine Kapitänsmütze – eine Geste, die einem beinahe unglaublichen Vertrauensbeweis gleichkam –, und wir fuhren nach Wales, meilenweit entfernt von einer Ortschaft. Dort erklommen wir den Cader Idris, wanderten die mit Geröll bedeckten Serpentinen hinunter und verbrachten die Zeit mit allerlei Freiluft-Aktivitäten. Mr. Waring, der Pfadfinderführer, war ein großartiger Mann, doch zurückschauend stelle ich mir die Frage, ob sein Verhalten heute noch als angemessen durchgehen würde. Er besaß einen netten alten Rolls Royce mit ausladenden Kotflügeln. Damit kreuzte er mit Jungen, die an den Seiten aus dem Auto hingen, durch Wales.

      In der Schule gehörte ich nicht zu den Sportskanonen, doch ich konnte beim Schwimmen und Golfen glänzen. Ich versuchte ständig, im Wasser einen mir weit überlegenen Jungen aus Malaysia auszustechen, was mir allerdings nur ein einziges Mal gelang, da er sich an dem Tag nicht wohl fühlte. Manchmal überlegte ich mir einige schmutzige Tricks, zum Beispiel sein Essen mit einer besonderen Substanz zu „würzen“, aber als ich einige Runden Golf gewann (und man mich zum Golf Captain ernannte), entschied ich mich in dem Sport mit Höchstleistungen zu bestehen. (Leider muss ich eingestehen, dass nicht sonderlich viele Kandidaten um den Sieg wetteiferten. Trotzdem war ich stolz auf mich.)

      Mein Vater bewahrte irgendwo einige Schläger auf und erzählte ausführlich von Golfspielen mit verschiedenen Würdenträgern, denen er bei seinen Reisen durch das Empire begegnet war. Natürlich versuchte er jeden, der ihm Gehör schenkte, davon zu überzeugen, dass man sein sportliches Können nur auf einer globalen Skala messen könne. In Wahrheit hatte er jedoch nur ein einziges Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gespielt. 1952 wohnte er bei einem Kommandanten der Royal Air Force in Singapur, der ihn für sein Flying Boat Wing Team „rekrutierte“. Sich plötzlich bewusst, dass er möglicherweise ein wenig eingerostet war, versuchte sich Dad aus der misslichen Lage herauszuwinden. Doch zu spät:

      Als Gast durfte ich mich anstandshalber nicht entziehen. Die Vorstellung, während eines Probeschlags eine Rückenzerrung zu simulieren, war ausgeschlossen.

      Zu gegebener Zeit stand ich im Angesicht einer erwartungsvollen Menschenmenge an der ersten Abschlagstelle. Ich fühlte mich jedoch nicht nervös, was vermutlich den Drinks und dem Lunch geschuldet war. Eine unbekümmerte Stimmung überkam mich. Falls ich wie ein erbärmlicher Popanz aussah – was soll’s!

      Da es sich hier nur um ein kurzes Einlochen handelte, wählte ich einen eisernen Schläger mit einem Kopf, der einer Schaufel glich. Ich vermied einen Übungsschlag, da ich vermutlich nur ein Stück der Rasennarbe herausgepflügt hätte, nahm Ziel und holte aus.

      Meine Schutzengel, die Drinks und der Lunch hielten mich davon ab, zu früh aufzublicken. Der Ball schoss kerzengerade entlang des Fairways, was die Zuschauer mit einem beeindruckten Gemurmel honorierten.

      Wie oft bei solchen Anlässen übersteigt die tatsächliche Leistung die Erwartungshaltung.

      Mir war es egal, wer gewann, und ich hatte nicht die geringste Ahnung vom Punktestand, da mein liebeswürdiger Opponent die Karte ausfüllte. So nahm ich eine entspannte Grundhaltung ein, ohne Ängste oder Hemmungen. Meine Abschläge waren selbstsicher und meine Putts todsicher. Auch die Schutzengel verließen mich nicht. Als einer der angeschnittenen Schläge von der Tangente abprallte und in Richtung einiger Gebäude flog, traf der Ball einen Baum und flog wieder auf den Fairway.

      Nach einem weiteren Putt traf der Ball hart auf die Rückseite des Lochs, stieg in die Luft und fiel exakt hinein. Plötzlich meinte mein Gegner: „Potzblitz – Ihr Spiel!“ Bei der Rückkehr zum Tee fand ich heraus, dass ich den besten Spieler der gegnerischen Mannschaft geschlagen hatte. Die Leute sagten: „Wenn sie 14 Jahre nicht mehr gespielt haben, müssen sie damals ein Ass gewesen sein, das sogar mit verbundenen Augen noch siegte!“

      Den Rest meiner Zeit in Singapur drückte ich mich vor Turnieren mit wahren Golfspielern.

      Ich spielte zehn Jahre nicht mehr und nahm dann, als Pensionär, am Väterspiel der Vorschule meines Sohnes teil …

      Am Tag des Spiels von Dad war mir natürlich nicht klar, dass ich ihm eigentlich erst einige Drinks hätte verabreichen müssen, bevor er sich auf den Parcours begeben sollte. Wir standen beim ersten Abschlag. Dad holte einen rostig