Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie. Mike Rutherford

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Название Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie
Автор произведения Mike Rutherford
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454588



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rasen, um dorthin zu gelangen. Ich kann mich noch gut an die Spuren all der nassen Hausschuhe erinnern. Man hatte das Haus zu nahe an einen Hügel gebaut, wodurch es in dem Gemäuer immer dunkel und feucht war. Wenn ich an die Vorschule zurückdenke, verknüpfe ich damit ein Gefühl der Weite: Der ausladende Golfparcours und dahinter die See und Hilbre Island, wo wir einmal im Semester für einen Tag hinfuhren und Krabben aus den Löchern im Fels sammelten.

      Denke ich an Charterhouse zurück, verdunkeln sich meine Erinnerungen angesichts der Farben Grau und Schwarz, die ich damit assoziiere.

      Die ersten ein oder zwei Jahre verbrachte man in den Gemeinschaftsschlafsälen. Danach zog man in die „Würfel“. Im Grunde genommen ähnelten sie einem durch Trennwände abgeteilten Krankenhauszimmer, das nach oben hin offen war. Zumindest hatte man beim Masturbieren ein wenig Privatsphäre. Erst im allerletzten Jahr wurde uns ein Einzelzimmer mit Schreibtisch zugebilligt. Zu dem Zeitpunkt war man meist schon zu gebrochen, um sich daran zu erfreuen.

      Uralte Gesetze und Regelungen bestimmten das Leben, beginnend bei der Länge des Haares (es durfte natürlich nicht lang sein) bis zu der Anzahl der Knöpfe an den Jacketts. In Charterhouse sprachen alle Kids den Schul-Slang. Die Arbeit hieß „Hash“, und folglich bezeichnete man die Klassenzimmer als „Hashrooms“. Man teilte die Schuljahre in „Quarters“ ein (Oration, Long und Cricket – Long war „selbstverständlich“ der kürzeste Zeitabschnitt).

      Und dann gab es noch das sogenannte „Fagging“, die gute alte Tradition in Privatschulen, bei der die älteren Jungs den jüngeren das Leben zur Hölle machten, während die sich an ihre eigene Jugend erinnernden Lehrer, dabei nostalgisch werdend, zusahen.

      Ich musste als Fag, als gleichsam persönlicher Adlatus, der allerhand Aufgaben zu übernehmen hatte, von Tony Lorenz herhalten, den man wegen seines kleinen, runden Körperbaus Bubbles nannte. (Später wurde aus Bubbles dann ein erfolgreicher Londoner Immobilienmakler.) Er behandelte mich nicht schlecht: Ich war zwar sein Laufbursche, was sich meist darauf beschränkte, ihm gelegentlich einen Toast zu besorgen oder seine Kleidung in den Waschraum zu bringen. Die Fags unterstanden nicht nur einem älteren Jungen, sondern auch dem Präfekten. Wenn er rief, musste man so schnell wie möglich zur Stelle sein. Man rannte und durfte nicht trödeln. Ein Trick bestand darin, sich auf dem Weg zu „verlaufen“, und in einer solchen Situation erwiesen sich die Toiletten auf dem Hof als nützlich. Ich verbrachte dort schon einige Zeit!

      Es mag merkwürdig erscheinen, doch ich hinterfragte niemals diese Hackordnung. Es war nun mal so, wie es war, und wenn ich ehrlich bin, freute ich mich ein wenig auf die Zeit, in der ich meinen eigenen Fag kommandieren konnte. Im letzten Jahr angekommen, untersagte Charterhouse jedoch dieses System.

      Doch auch 350 Jahre alte Privatschulen blieben letztlich nicht von den Sixties und der Stimmung des Wandels in Großbritannien verschont. Einige Jahre nach meinem Abgang fuhr ich an Charterhouse vorbei und sah – man höre und staune – Jungen mit halblangen Haaren. In einem Punkt behandelte mich das Schicksal mit gütiger Hand. In Charterhouse gab es einen Lichtblick – die Musik.

      Charterhouse war für seine Musiktradition berühmt: Ralph Vaughan Williams, einer der klassischen Komponisten, die ich mag, hatte zum Beispiel die Privatschule besucht. Ein Gesangsbuch und ein Junge namens Tony Banks übten dann einen besonderen Einfluss auf mich aus. Das Buch kann man als modern, aber „melodisch“ beschreiben. Mich beeindruckten speziell die Dramatik einiger der pompös gesetzten, ausgeschmückten Akkorde und die fantastischen Akkordfolgen.

      Der Gang zur Kapelle war eine zweischneidige Angelegenheit. Ich empfand die Musik als großartig und das Gebäude als beeindruckend. Es war sehr groß und hatte Fenster aus Buntglas. Die Religion hingegen stellte die Kehrseite der Medaille dar: Täglich 40 Minuten und sonntags sogar zwei Mal so lange. Bei der Abendandacht wach zu bleiben glich einer Mordsanstrengung. Oft beobachtete man einige Jungen beim „Gebet“ mit geschlossenen Augen, während alle anderen aufgestanden waren.

      Beim Hören von Radio Luxemburg musste ich hingegen nicht gegen die Müdigkeit ankämpfen. In Charterhouse herrschte Radioverbot, doch es gelang mir, einen kleinen Transistorempfänger einzuschmuggeln, den ich nach Beginn der Nachtruhe unter meinem Kopfkissen hörte. Das blieb einige Zeit unbemerkt, doch eines Nachts muss ich wohl eingeschlafen sein. Ich schreckte vom Klang der Fußschritte des herannahenden Musiklehrers Geoffrey Ford auf.

      Geoffrey unternahm nichts, um seine Homosexualität zu verbergen, die allgemein akzeptiert wurde. Ihn umgab kein Geheimnis, und er machte keine offenherzigen Avancen. Mich sorgten eher die Lehrer, die die Universität besucht hatten und daraufhin direkt ins Internat zurückkehrten: Ich empfand das als eindeutiges Zeichen, dass Etwas nicht stimmte. Geoffrey gehörte eher zu den Außenseitern im Lehrkörper, doch ich wollte bei meiner verbotenen Aktivität trotzdem nicht erwischt werden. Als er immer näher kam, drehte ich den Lautstärkeregler im Halbschlaf unglücklicherweise nicht runter, sondern rauf. Der kreischende Sound katapultierte mich in die Höhe, wobei das Radio unter dem Kopfkissen wegrutschte und mit einem Knall auf den Boden fiel.

      Es wirkt zutiefst ironisch, dass der Musiklehrer mein Radio konfiszierte, doch das entsprach dem Geist von Charterhouse: Rein gar nichts ergab einen Sinn.

      Ein lang andauernder Hass auf Autoritäten und kleinkarierte Bürokratie ist eine der Nachwirkungen meiner Privatschulzeit. Wenn ich einen vernünftigen Grund hinter einer Anordnung erkenne, kann ich damit umgehen, doch dümmliche Regeln und Vorschriften kotzen mich an. Darum hätte ich es wahrscheinlich auch nicht lange in der Navy ausgehalten.

      Tony Banks, Peter Gabriel und Anthony Phillips waren Duckites, einem anderen Haus, zugeteilt worden und gehörten wie ich zu den unerwünschten Elementen. „Ant“ trug die Haare gefährlich lang, doch er glänzte beim Kricket, wodurch man ihm verzieh. Mich beeindruckte hingegen sein Können als Gitarrist.

      Ich begegnete Ant zum ersten Mal im „Rock Soc“, einem im Keller gelegenen Raum, in dem sich Musiker trafen. (Aus heutiger Sicht klingt der Name erstaunlich fortschrittlich: Erst in den Siebzigern in den USA bemerkte ich, dass alle über „Rock“ sprachen, obwohl es bei ihnen wie „Wrock“ klang.) Ant besaß eine rote Stratocaster und einen Vox AC 30-Verstärker, Equipment, das die Profis benutzten. Charterhouse konnte nicht mit etwas ähnlich Aufregendem aufwarten. Ant war schmächtig, hatte weiß-blonde Haare und eine Nase, die der von Pete Townshend ähnelte. Seine Finger und die Gitarre verschmolzen zu einer natürlichen Einheit. Manchmal kann man schon voraussehen, ob ein Musiker gut auf seinem Instrument ist, obwohl er noch keinen einzigen Ton gespielt hat.

      Ant war bei einer Session der Swinging Blue Jeans gewesen, die Hits hatten wie „Good Golly Miss Molly“ und „Hippy Hippy Shake“, und kannte mehr Akkorde als ich. Er spielte sogar schon ein bisschen Lead-Gitarre. Da er in einem anderen Haus wohnte (einen Jahrgang unter mir), hätten sich unsere Pfade eigentlich nicht gekreuzt, doch er nahm mich unter seine Fittiche und lehrte mich genau das, was mir ein Bert Weedon nicht hatte vermitteln können.

      Während meiner ersten Jahre in Charterhouse lebten meine Eltern 230 Meilen entfernt in Cheshire, was den Eingewöhnungsprozess nicht gerade begünstigte, doch während meiner letzten zwölf Monate dort ging Dad in Rente, und die beiden zogen nach Farnham. Hill Cottage, das neue weißverputzte Haus hatte drei Zimmer und stammte aus den Vierzigern. Es lag auf einem Hügel über der Kreuzung an der Frensham Road und war verglichen mit Far Hills kleiner. Während des Umzugs stellten meine Eltern einige der Möbel zur Aufbewahrung bei mir unter – ein dreiteiliges Sofa, einige Teppiche und ein paar ganz normale Lampen. Als Chare mein Studienzimmer betrat, hörte ich sein Keuchen: „Was ist das, Rutherford?“ Chare veranlasste meine Eltern, alles abzuholen, denn für ihn symbolisierten Teppiche den Höhepunkt der Dekadenz. Nach dem Ortswechsel besuchten wir mit der ganzen Familie den Officer’s Club in Aldershot und aßen ein Currygericht zum Lunch. (Ich vermute, dass Dad bei diesem speziellen Essen das Gefühl überwältigte, er könne sich in jeder nur erdenklichen Ecke des Empires aufhalten … Na ja, es war auch das einzige Gericht des Officer’s Club.) Mein Vater hatte gespürt, dass wir uns auseinanderlebten, und so nahm er mich mit zum Segeln auf dem Hawley Lake. Ich bin nicht sicher, ob er mich dadurch an sich binden oder mich wieder in Richtung Karriere bei der Marine steuern wollte.

      Ich erschien in ganz