Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов

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Название Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290201128



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vor allem um Macht, Einfluss und Deutungshoheit. Nach dem Wechsel des Konkurrenzregimes wurde die Gesellschaft als im Wesentlichen pluralistisch gesehen, Religion und Religiosität wurden immer mehr als Privatsache empfunden, was zu neuen Formen der Konkurrenz – und zwar vor allem um individuelle Nachfrage – führte. Es versteht sich von selbst, dass wir im Folgenden keine umfassende Geschichte dieser Konkurrenzkämpfe in der Schweiz vorlegen können. Unser Ziel ist, die wichtigsten dieser Konkurrenzgeschehen zu skizzieren, um die allgemeine Theorie und die These des Wechsels des Konkurrenzregimes plausibel zu machen und anschliessend Hypothesen ableiten zu können. |47|

      Die Schweiz ist seit dem 16. Jahrhundert ein lockerer Bund von Kantonen und Gebieten, wobei die Kantone sich (meist) vollumfänglich der einen oder anderen Konfession zuordneten. Die Herrschaftsverhältnisse waren in Stadtkantonen (Patrizierherrschaft), Landkantonen (z. T. direkte Demokratie) und Untertanengebieten (das ganze Gebiet ist einem anderen Kanton unterstellt) sehr unterschiedlich. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts (Einmarsch von Napoleon 1789, Helvetik, Mediation, Restauration) begann die Schweiz sich mehr und mehr zu demokratisieren und zu industrialisieren. Im Zeitraum zwischen 1800 und 1950, den wir als das «Konkurrenzregime der Industriegesellschaft» bezeichnen wollen, treffen wir in einer sich insgesamt als christlich empfindenden Schweizer Gesellschaft auf diverse intra-religiöse und religiös-säkulare Konkurrenzverhältnisse.

      Eine erste zentrale Konkurrenzbeziehung bestand zwischen liberalen, protestantischen und konservativen katholischen Kräften. Schon oft hatte es in der Eidgenossenschaft Konflikte zwischen den konfessionell unterschiedlich ausgerichteten Kantonen gegeben. Im 19. Jahrhundert jedoch erhielten sie eine neue Färbung. Der Konflikt zwischen Anhängern der neuen, demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung und den Verfechtern der alten, vormodernen Gesellschaftsordnung ging in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich aus. Während sich in den protestantischen Stadtkantonen die Liberalen durchsetzten, siegten in den katholischen Landkantonen die Konservativen. So wurde der Gegensatz liberal/konservativ konfessionalisiert. Zunehmende Spannungen und Provokationen auf beiden Seiten (Aufhebung von Klöstern durch protestantische Kantone, Berufung des Jesuitenordens im katholischen Luzern) führten schliesslich zum Sonderbundskrieg von 1847. Dieser Krieg endete mit einem Erfolg der liberal-protestantischen Seite und der Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848. Mit der Bundesverfassung entstand das noch heute gültige System der zweistufigen Struktur des Kirche-Staat-Verhältnisses. Die Bundesverfassung garantierte Religionsfreiheit, das Verhältnis von Kirche und Staat wurde den Kantonen überlassen, die ihr jeweiliges Kirche-Staat-Verhältnis ganz unterschiedlich gestalteten: von strikter Trennung bis zu starker Verschränkung. Die antimodernistische Haltung Roms, offenkundig im Syllabus vom 8.12.1864 und dem Unfehlbarkeitsdogma von 1870, führten in der Schweiz zu einem neuen Aufleben der Spannungen und einem «Kulturkampf», der wieder von der liberalen Seite für sich entschieden wurde. In die revidierte Bundesverfassung von 1874 wurden denn auch antikatholische Artikel aufgenommen (z. B. das Verbot, neue Klöster zu gründen oder das Verbot des Jesuitenordens). In der Folge lebte die katholisch-konservative Schweiz in einer Art «Sondergesellschaft», die mit der liberal-protestantischen Schweiz in einem ständigen Spannungsverhältnis stand und sich nur langsam |48| integrieren liess.129 Das katholische Milieu mit seinen eigenen Kantonen, Zeitungen, politischen Parteien, Vereinen, Universitäten usw. war in gesellschaftlicher Hinsicht von grosser Wichtigkeit. Eine letzte Blüte erlebte es in den 1950er Jahren, bevor es dann in den 1960er Jahren zusammenbrach. Das katholische Milieu war eine Negativfolie für die Konfession der Reformierten. Reformierte waren sich aufgrund ihres liberalen Credos über so gut wie nichts einig, ausser eben: nicht katholisch zu sein. Der Gegensatz katholisch-reformiert war also für beide Seiten bis in die 1950er Jahre in höchstem Masse Identität stiftend.130

      Ein zweites wichtiges Konkurrenzverhältnis bestand aus der Konfrontation von liberalen und konservativen Richtungen innerhalb der Konfessionen.131 Auf katholischer Seite bekämpften sich liberale und ultramontane, romtreue Katholiken, was auf dem Höhepunkt des Konflikts 1872 zur Entstehung der liberalen Christkatholiken führte. Innerhalb des Protestantismus bekämpften sich während des ganzen 19. Jahrhunderts eine dominante liberale Richtung und eine positive (konservative, bibeltreue) Richtung.132 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mischte sich auch noch eine religiös-soziale Richtung ein. Zentrale Streitpunkte zwischen Liberalen und Positiven war die Frage, ob bzw. wie sehr man die Bibel historisch-kritisch lesen müsse bzw. inwiefern die Bibel supranaturalistisch interpretiert werden könne. Während Liberale wie etwa Alois Biedermann oder David Friedrich Strauss allen Supranaturalismus ablehnten (z. B. die von Jesus gewirkten Wunder), die verbindlichen Bekenntnisse abschafften und die christliche Botschaft im Wesentlichen ethisch interpretierten, hielten die Positiven an ihrem Glauben an die übernatürliche Wirksamkeit Gottes fest. Da die Positiven im Konkurrenzkampf meist das Nachsehen hatten und inzwischen Religionsfreiheit herrschte, verliessen sie oft die Kirchen, um eigene evangelische Freikirchen zu gründen. In der Romandie entstand so der «Réveil».133 Viele der damals entstandenen Gemeinschaften machen noch heute einen wichtigen Teil des «freikirchlichen Milieus» aus.

      Eine dritte Konkurrenzbeziehung bestand zwischen der Sozialdemokratie und dem (christlichen) Establishment. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zur Verarmung der Arbeiterklasse, was Ende des Jahrhunderts als die «soziale |49| Frage» beschrieben wurde.134 Die Arbeiter begannen sich ihrerseits zu organisieren; 1880 entstand der Schweizerische Gewerkschaftsbund, 1888 wurde die sozialdemokratische Partei gegründet. Innerhalb von Gewerkschaften und Partei war marxistisches, klassenkämpferisches und atheistisches Gedankengut zwar umstritten, setzte sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch. Zu einem Höhepunkt gelangte die Auseinandersetzung während des Generalstreiks 1918, der mit Hilfe der Armee zerschlagen wurde. In der Folge wurden allerdings viele Forderungen der Arbeiter schrittweise erfüllt, so dass die Spannungen abgebaut werden konnten.135 Für die Frage des religiösen Feldes der Schweiz war dieses Konkurrenzgeschehen insofern äusserst wichtig, als hier zum ersten Mal eine grosse Volksbewegung explizit marxistisch-atheistisches Gedankengut vertrat und den Kirchen z. T. feindselig gegenübertrat.136 Die religiös-sozialen Bewegungen sowohl im protestantischen wie auch katholischen Lager versuchten, dieses Problem aufzufangen, indem sie die Interessen der Arbeiterklasse aus dezidiert christlicher Sicht vertraten.

      Eine vierte Konkurrenzbeziehung entstand zwischen verschiedenen Berufsgruppen, v. a. im 19. und 20. Jahrhundert. Hier ging es um die Frage der legitimen Zuständigkeit bezüglich verschiedener Tätigkeiten. Insbesondere Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen und Krankenpfleger/innen versuchten, sich von der Aufsicht durch die Kleriker zu befreien.137 Schulen waren beispielsweise ursprünglich ausschliesslich kirchlich organisierte, später dann oft noch kirchlich beaufsichtigte Anstalten. Eines der wichtigsten Erziehungsziele des Schulwesens noch im 19. Jahrhundert war es, die Kinder zu rechten Christen zu machen – und das hiess gleichzeitig: zu rechten Bürgerinnen und Bürgern.138 Immer stärker entwickelte das Schul- und Erziehungswesen jedoch von Religion unabhängige Ziele sowie mit den Erziehungswissenschaften ein eigenes Reflexionssystem: die Pädagogik. Um 1900 war dann die allgemeine, unentgeltliche und unter staatlicher Aufsicht stehende (Primar-)Schule durchgesetzt.139 |50|

      Eine fünfte und letzte Konkurrenzbeziehung schliesslich entstand zwischen religiösem Handeln und der Erwerbstätigkeit.140 Im 19. Jahrhundert versuchten Unternehmer, die Sonntagsarbeit durchzusetzen, um höhere Gewinne erwirtschaften zu können. Barth141 zitiert einen Bericht der zürcherischen Synodalkommission für Innere Mission, in dem es heisst:

      Nicht selten können Lehrknaben oder Dienstboten den Gottesdienst nicht besuchen, weil sie arbeiten oder dann den Platz verlieren müssen. In andern Gegenden sind es die Seidenweberinnen und Weber, welche fleissig dran sind, weil sie «pressierte Wübber» haben und Abzug droht.

      Die Kirchen – gemeinsam mit den sozialistischen Kräften – stellten sich diesen Bestrebungen erfolgreich entgegen. Diese Konkurrenz sollte sich untergründig während des ganzen 20. Jahrhunderts weiterziehen.

      Nimmt man all diese Konkurrenzkämpfe von 1800 bis in die 1950er Jahre (im «Konkurrenzregime der Industriegesellschaft») gemeinsam in den Blick, so wird deutlich, dass die Religion und die Kirchen in diesem Zeitraum innerlich stark geschwächt