Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов

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Название Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290201128



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      Wir werden später eine eigene Theorie vorstellen, die versucht, diese Probleme besser zu lösen. Zuvor ist jedoch noch die von Thomas Luckmann formulierte Kritik gegenüber der Säkularisierungstheorie zu erörtern.

      Bereits Ende der 1960er Jahre publizierte Thomas Luckmann sein Buch «Die unsichtbare Religion»50, worin er die Säkularisierungstheorie scharf kritisierte. Der eigentliche Fehler der gesamten Klassiker, vor allem aber der zu seiner Zeit starken Kirchensoziologie, liege, so Luckmann, in einer zu engen Definition des zu erklärenden Sachverhalts.

      «Was für gewöhnlich bloss für ein Symptom für den Rückgang des traditionellen Christentums gehalten wird, könnte Anzeichen für einen sehr viel revolutionäreren Wandel sein: die Ersetzung der institutionell spezialisierten Religion durch eine neue Sozialform der Religion. Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die zu einem ‹offiziellen› oder einst ‹offiziellen› Modell der Religion erstarrten Normen der traditionellen religiösen Institutionen können nicht mehr als Gradmesser zur Einschätzung der Religion in der modernen Gesellschaft dienen.»51

      Der Fehler der Säkularisierungstheorie bestehe also gemäss Luckmann darin, Religion zu eng zu definieren. Hierdurch, so Luckmann, bekämen die Modernisierungstheoretiker nur einen Niedergang in den Blick und würden blind für andere religiöse Formen, die die alten Formen ersetzen. Würden etwa Historiker «politische Organisation» zu eng als «Königtum» definieren, so wäre im Verlauf der letzten Jahrhunderte ein ständiger Niedergang der «politischen Organisation» zu beobachten gewesen – ohne dass der Aufschwung der totalitären Regimes und der Demokratien als neue Formen von politischer Organisation in den Blick gekommen wäre.52 In Wirklichkeit hätten wir es also, so Luckmann, nicht mit einem Niedergang, sondern mit einer Veränderung der Religion und Religiosität in modernen Gesellschaften zu tun. Zwar schrumpfe das «offizielle Modell» mit seinen |26| «erstarrten Normen» – d. h. also traditionelle Kirchlichkeit. Aber diese Form würde durch individualisierte, frei wählbare neue Spiritualitätsformen ersetzt. Worin diese neue Spiritualität genau besteht, wird bei Luckmann allerdings nicht völlig ersichtlich. An einer Stelle spricht er davon, dass Ratgeberseiten, positives Denken im «Playboy» oder Popmusik-Lyrik Elemente letzter Bedeutung enthielten.53 An anderer Stelle meint er, Themen rund um das Individuum und seine Autonomie (wie Selbstverwirklichung, Familialismus, eigene Sexualität) seien religiös aufgeladen.54

      Luckmanns Argumentation – zusammen mit dem eingängigen Buchtitel von der unsichtbaren Religion – inspirierte ganze Generationen von Religionssoziologen und Religionswissenschaftlerinnen dazu, an diversen, z. T. kontra-intuitiven Orten nach «unsichtbarer» (und durch die Forschung sichtbar zu machender) Religion zu suchen.55 Hierbei können wir drei grössere Varianten unterscheiden. Eine erste Gruppe von Forschern sieht die unsichtbare Religion in diversen Phänomenen, die der Common Sense nicht unbedingt mit Religion in Verbindung bringen würde, die aber aus der Sicht der Wissenschaftler/innen ebenso ein «Bedürfnis nach letztem Sinn» oder nach «Ritual» abdecken. Gemäss der These der religiösen Dispersion von Hans-Joachim Höhn hat sich Religion in verschiedene kulturelle Versatzstücke der modernen Gesellschaft wie Fussball, Werbung, Fernsehen hinein verlagert.56 Der stark von Luckmann beeinflusste Hubert Knoblauch spricht in diesem Zusammenhang von populärer Religion.57 Eine zweite Variante besteht darin, die unsichtbare Religion in bisher weniger beachteten Elementen der traditionellen Religiosität zu sehen. Zwar, so diese Autoren, sinke die beobachtbare religiöse Praxis und die Verbindung zu den Kirchen. Aber die Leute hielten doch an ihrem Glauben fest. Dies ist die berühmte These des «Believing without belonging» von Grace Davie.58 Eine andere Form dieses «Believing without belonging» kann in der These von Roland Campiche einer «Dualisierung der Religion» gesehen werden.59 Zwar sinke die institutionelle Religiosität – aber eine universale Religiosität (die v. a. allgemeine Werte beinhaltet) bleibe bestehen. Eine |27| dritte Variante sieht die «unsichtbare Religion» in Phänomenen, die heute oft «New Age» oder «alternative Spiritualität genannt werden. Paul Heelas und Linda Woodhead haben gar von einer «spirituellen Revolution» gesprochen.60 Die kirchliche Religiosität würde langfristig durch Phänomene wie Astrologie, Yoga, Channelling, Engelsglauben, Kristall-Heilungen usw. ersetzt oder verwandle sich unmerklich in eine solche.61

      Auch die Individualisierungstheorie ist scharf kritisiert worden. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass in den letzten Jahrzehnten in den westeuropäischen Ländern so etwas wie eine «Individualisierung» stattgefunden hat.62 Die Frage ist aber, wie sie Religion genau beeinflusst. Hier hat die Kritik sowohl empirische als auch theoretische Einwände geltend gemacht. Empirisch haben verschiedene Arbeiten gezeigt, dass es keine scharfe Trennung der Entwicklung von Believing und Belonging gibt63 und dass der Aufschwung der sogenannten alternativen Spiritualität den Niedergang der institutionellen Kirchlichkeit bei Weitem nicht aufwiegt. Von einer «spirituellen Revolution» kann also keine Rede sein.64 Theoretisch haben Kritiker bemängelt, dass Luckmann und seine Nachfolger Religion zu weit definieren. In der Folge kann so gut wie alles zu Religion werden, wodurch das Konzept jegliche Trennschärfe verliert. Rein aufgrund der Definition ist es dann nicht mehr möglich, eine «Abnahme» oder «Zunahme» von Religion zu beobachten.

      Für unseren Zusammenhang ist ferner wichtig, dass sich die Individualisierungstheorie in genau gleicher Weise kritisieren lässt wie die Säkularisierungstheorie. Auch hier fehlt eine Akteurperspektive: Zwar wird behauptet, die Individuen würden immer individueller, aber in vielen Versionen der Individualisierungstheorie wird dies als abstrakter, die Individuen als Objekte erfassender Prozess dargestellt. So bleibt auch hier unklar, wie die Situationsveränderungen und daraus folgenden individuellen und kollektiven Handlungen zur Individualisierung geführt haben sollen und wie die Theorie mit den konkreten historischen Geschehnissen verbunden werden kann. Genau betrachtet haben die Individualisierungstheoretiker letztlich keine neue Erklärung für ein bestehendes Phänomen vorgeschlagen. Ihr wesentlicher Beitrag besteht vor allem in zweierlei: Zum einen weisen sie darauf hin, dass durch Modernisierung eine individuelle Wahlfreiheit in religiösen und spirituellen Belangen entsteht, die sehr entscheidende Auswirkungen |28| auf Religion und Religiosität hat. Zum anderen rufen sie dazu auf, das zu erklärende Phänomen neu zu definieren, m. a. W. Religiosität weiter zu fassen, als mit einer Konzentration auf christlich-kirchliche Religiosität erreicht wird. Diese beiden Punkte müssen u. E. von jeder zukünftigen Theorie religiösen Wandels aufgenommen werden.

      Vor allem seit den 1980er Jahren haben die Vertreter der sogenannten Markttheorie die Säkularisierungstheorie stark infrage gestellt. Eine Gruppe von vor allem US-amerikanischen Forschern – Rodney Stark, Roger Finke, William Bainbridge und Laurence Iannaccone – behauptete in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, was Modernisierungstheoretiker seit vielen Jahrzehnten als gesichertes Wissen angenommen hatten.65 Die Markttheoretiker bestreiten energisch, dass die Modernisierung westlicher Gesellschaften zu einer Abnahme von Religion und Religiosität geführt habe. Dies sei eine Selbsttäuschung, die es ein für alle Mal zu begraben gelte.66 Der religiöse Niedergang in Europa sei ein Mythos, religiöse Glaubensüberzeugungen in Europa seien nach wie vor sehr hoch, in früheren Zeiten seien die Personen viel weniger religiös gewesen als oft vermutet, und ganz generell sprächen die Entwicklungen in den USA, den arabischen Ländern und Osteuropa gegen die These fortschreitender Säkularisierung.67 Wenn nicht durch die Modernisierungstheorie, wodurch lassen sich dann die grossen Religiositätsunterschiede zwischen verschiedenen Ländern erklären?

      Die Lösung sei – so die Markttheoretiker – bestechend einfach: Es genüge, Religion als einen Markt mit Anbietern (Kirchen und religiöse Gruppen) und Nachfragern (Gläubige) zu verstehen und die allgemeinen ökonomischen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage anzuwenden.68 Eine entscheidende, dem Ansatz zugrundeliegende Annahme ist eine konstant gleichbleibende religiöse Nachfrage – d. h., dass Menschen überall auf der Welt im Prinzip die gleichen religiösen Bedürfnisse, den gleichen Durst nach «überweltlichen Gütern» aufweisen. Das aber bedeutet, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern ausschliesslich durch unterschiedliches religiöses Angebot zu erklären sind, und dieses wiederum hängt zentral von der staatlichen