Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов

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Название Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290201128



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einer befriedigenden Erklärung des Verhaltens führt.85 Indem viele (begrenzt) rationale Individuen aufgrund sich verändernder sozialer Umwelten in ähnliche Richtungen wählen, ergeben sich soziale Trends, z. B. Säkularisierungs- oder Resakralisierungsphänomene. Erst die Summe der vielen Einzelentscheidungen führt zu dem, was unser Modell letztlich erklären will.

      Gute Erklärungen sind schliesslich aus der Sicht der analytischen Soziologie nur möglich, wenn sie in den historischen Kontext gestellt werden, d. h., wenn gezeigt wird, aufgrund welcher typischen Anfangsbedingungen (Ressourcen, Präferenzen, Glaubensüberzeugungen, Optionen) typische Akteure gehandelt haben.86 Hierfür eignen sich neben quantitativen insbesondere auch qualitative und historische Methoden.

      Insgesamt hilft uns dieser Rahmen der analytischen Soziologie, die oben genannten Probleme der Modernisierungs- und Individualisierungstheorie zu vermeiden. Es wird so nötig, akteursorientiert zu denken und die genauen kausalen Mechanismen zu benennen, die die zu erklärenden Phänomene hervorbringen sollen.

      Definitionen

      Es ist offensichtlich, dass eine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz nur Sinn macht, wenn religiöse und säkulare Phänomene sich trennen lassen. Für unsere Zwecke unterscheiden wir Religion, religiöse Gruppen und Religiosität in folgender Weise:87 |34|

       Religion ist die Gesamtheit der kulturellen Symbolsysteme, die auf Sinn- und Kontingenzprobleme mit dem Hinweis auf eine transzendente Realität reagieren. Die transzendente Realität beeinflusst gemäss dieser Symbolsysteme das tägliche Leben, lässt sich aber nicht vollständig kontrollieren. Religiöse Symbolsysteme beinhalten mythische, ethische und rituelle Elemente wie auch Vorstellungen von Heilsgütern.88 Die Verwendung einer transzendenten Ebene (mit Göttern, Geistern u. ä.) erlaubt es, Nichtverstehbares in einer symbolischen Weise dennoch zu verstehen und Nichtkontrollierbares in symbolischer Weise dennoch zu bearbeiten.89 Beispiele für Religionen sind etwa das Judentum, der Islam, das Christentum, der Hinduismus oder der Raelianismus.

       Religiöse Gruppen und Organisationen sind kollektive Akteure, die einen zentralen Bezug zu einer Religion aufweisen, also etwa eine religiöse Ideologie vertreten, religiöse Güter anbieten oder religiöse kollektive Aktivitäten durchführen. Beispiele sind etwa Kirchen, religiöse Zentren, Tempelgemeinschaften, Gebetskreise u. ä.

       Religiosität ist ein individuelles Erleben oder Handeln, insofern es sich auf ein oder mehrere Religionen bezieht. Religiosität weist verschiedene Dimensionen auf (Handeln, Erleben, Wissen, Glauben usw.).90 Der Besuch eines Gottesdienstes oder eines Meditationskurses, ein Gebet, eine Wallfahrt oder der Glaube an Engel sind Beispiele einer so definierten individuellen Religiosität.

      Mit Hilfe dieser Definitionen können wir Religiöses von Nicht-Religiösem unterscheiden: Alle kulturellen, sozialen und individuellen Phänomene, die nicht religiös sind, gelten uns als säkular. Natürlich kommen in der Realität manchmal hybride Phänomene und Graustufen vor. Dennoch zeigt sich in konkreter soziologischer Arbeit, dass diese Definitionen in den meisten Fällen eine eindeutige Zuordnung in religiös bzw. säkular erlauben. |35|

      Aus der genannten Definition folgt aber auch eine weitere Annahme unserer Theorie: der Wandel der Vorteilhaftigkeit von Religion und religiösen Strukturen im Zeitverlauf. Während langer Phasen der Gesellschaftsentwicklung brachten religiöse Strukturen viele Vorteile, da «unlösbare» Probleme dennoch einer Bearbeitung zugeführt werden könnten: Viele Krankheiten, Naturkatastrophen, persönliche Armut, die Entstehung der Welt oder die Entstehung des Menschen in früheren Gesellschaften liessen sich nur schwer kontrollieren oder erklären und waren daher für eine religiöse Behandlung geradezu prädestiniert.91

      Seit der Neuzeit zeigt sich nun aber, dass säkulare Innovationen oft eine höhere Kontrolle und ein besseres Verständnis ermöglichen, wodurch Phänomene dem religiösen Bereich tendenziell entzogen werden. Beispiele sind etwa die Entdeckung von Bakterien und Viren, die Kontrolle von Risiken durch Versicherungen, |36| die Entdeckung der ökonomischen Ursachen von Armut, die Entdeckung der fortwährenden Expansion des Universums oder die Entdeckung der Gesetzmässigkeiten der Evolution. Diese Innovationen führen nun aber nicht direkt und notwendig zu einem Entzug von Themen und Zuständigkeiten aus dem religiösen Bereich. Vielmehr verändern sie die Rahmenbedingungen der Konkurrenzverhältnisse, in denen sich die verschiedenen Akteure befinden. Es ist erst der Ablauf des Konkurrenzgeschehens, der zu den je ganz verschiedenen möglichen sozialen Ergebnissen führt.

      Diese Konzeption erklärt, warum wir in sich modernisierenden Gesellschaften einerseits einen einheitlichen Gesamttrend der Säkularisierung beobachten, andererseits die Arten, wie die Entwicklungen ablaufen, sich zwischen verschiedenen Ländern und Regionen extrem unterscheiden.92

      Grafik 2.1: Die Theorie religiös-säkularer Konkurrenz

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      Religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure

      Das Herzstück unserer Theorie bezieht sich auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenzbeziehungen. Hier operieren religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure. Es handelt sich um ganz konkrete Gruppen, Organisationen, Milieus, die sich für die Ziele ihrer Gruppe einsetzen. Die Art der Gruppen, Organisationen und Milieus ist extrem vielgestaltig. Es kann sich um religiöse bzw. säkulare Berufsgruppen (z. B. Kleriker, Ärzte), Organisationen, politische Parteien, Eliten und selbst den Staat handeln. Diese kollektiven und individuellen Akteure kämpfen gemäss unserer Theorie um drei erstrebenswerte Konkurrenzobjekte.

      Eine erste Konkurrenzebene betrifft Konkurrenzen um die Macht auf der Ebene der Gesamtgesellschaft.93 Hier kämpfen religiöse und säkulare Akteure um die Frage der herrschenden Ordnung, um die Deutungshoheit, um die Regeln des Zusammenlebens und die Zuständigkeit für die Lösung von Problemen.94 Einerseits geht es um die Ausgestaltung des Konkurrenzregimes, d. h. um die Frage nach den Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren, mit denen legitime Macht, Einfluss und |37| Deutungshoheit in der Gesellschaft geregelt werden.95 Auf der anderen Seite kämpfen die kollektiven Akteure um Macht, Einfluss und Deutungshoheit innerhalb eines jeden gegebenen Konkurrenzregimes. Beispiele lassen sich leicht finden. So kämpften während der iranischen Revolution 1979 säkulare und religiöse Parteien um die Macht im Land.96 In den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts stritten in Deutschland Nazi- und katholische Jugendgruppen um den Einfluss auf die deutsche Jugend.97 Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wetteiferten Kleriker und Neurologen darum, wer für «persönliche Probleme» zuständig war.98

      Aber nicht nur auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, sondern auch auf der zweiten Ebene von Gruppen, Organisationen und Milieus kommt es zu Konkurrenzierungen um Macht, Einfluss und Deutungshoheit99. Hier stehen etwa Fragen nach der generellen Marschrichtung der Gruppe, nach der Legitimation der Zuständigkeit für wichtige Aufgaben im Vordergrund. So kämpften verschiedene muslimische Strömungen nach dem Tod von Mohammed um die legitime Nachfolge, was zur bekannten Trennung von Sunniten und Schiiten führte. Während des II. Vatikanums stritten konservative und reformwillige Katholiken um die Reichweite der anzustrebenden Reformen. Und im späten 19. Jahrhundert kam es in vielen protestantischen Gemeinden der Schweiz zu erbitterten Kämpfen zwischen Gemeindemitgliedern um eine «positive» (supranaturalistische) oder eine «liberale» (v. a. ethische) Bibelauslegung.

      Eine dritte Ebene der Konkurrenz bezieht sich nicht so sehr auf Macht als vielmehr auf die individuelle Nachfrage nach Gütern. Gemeint ist die Tatsache, dass religiöse und säkulare «Anbieter» miteinander in Konkurrenz um Güternachfrage, Partizipation und Spenden der Individuen stehen.100 Die Konkurrenz entsteht, weil die Güter religiöser und säkularer Anbieter oft die gleichen Bedürfnisse befriedigen. Wer aufgrund einer Depression ein Bedürfnis nach Hilfe hat, kann das religiöse Gut «Seelsorge» nachfragen