Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов

Читать онлайн.
Название Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290201128



Скачать книгу

in einer Gemeinde» befriedigt werden – aber es gibt viele säkulare Konkurrenten: Sportclubs, Vereine aller Art, Nachbarschaftsnetzwerke usw. Je nach betrachtetem Bedürfnis treten andere Konkurrenten von religiösen Anbietern in den Blick (Tabelle 2.1).101

      Tabelle 2.1

Von Religion behandelte BedürfnisseReligiöse KonkurrentenMögliche säkulare Konkurrenten
Hilfe in ProblemsituationenGebet, Beichte, Seelsorge, DiakoniePsychotherapie, Beratungen, Wohlfahrtsstaat
Sicherheit, Gesundheit, ErfolgHeilsgüterVersicherungen, Wohlfahrtsstaat, Karriere
Innerer Friede und GeborgenheitGemeinschaftSport, Familie
Interpretation der Welt, SinnPredigt, Auslegung religiöser Texte, DogmenWissenschaft
LebensstrukturierungKasualien, religiöse FestePrivate Feste, Arbeitszeit-Ferien-Zyklus
Soziale Identität, soziales KapitalGemeinde als NetzwerkBerufliche Netzwerke, neue soziale Medien, Vereine

      Die Anbieter und kollektiven Akteure verfügen über verschiedene Ressourcen, die sie im Konkurrenzkampf verwenden können. Wichtige Ressourcen sind etwa ökonomisches Kapital, Reputation, Legitimation, technisches Know-how, Wählerstärke usw.102 Je nach Ressourcenunterschieden sind unterschiedliche Machtverteilungen |39| im Konkurrenzspiel gegeben. Das Regime selbst ist eine äusserst wichtige Ressource. Während der iranischen Revolution 1979 etwa verfügte der Schah Mohammad Reza Pahlavi über grosse Ressourcen in Form von finanziellen Reserven und staatlicher Macht (Polizeiapparat, Militär). Sein Gegenspieler, der Revolutionsführer Ajatollah Chomeini, besass Ressourcen in Form von grosser Legitimität und riesiger Unterstützung im Volk (Demonstrationen) und konnte diese letztlich zum Sturz des Schahs einsetzen.

      Die Strategien der Anbieter, um in diesen verschiedenen Konkurrenzkämpfen zu bestehen, sind sehr vielfältig und können hier nicht alle abschliessend aufgeführt werden. Kollektive Akteure können ihre Mitgliederbasis beispielsweise mobilisieren, um politischen Druck auf Personen mit Entscheidungsgewalt auszuüben oder den politischen bzw. religiösen Gegner einzuschüchtern (z. B. Demonstrationen, Prozessionen, Pressekampagnen). Eine andere Strategie besteht in Abschliessung, d. h., sie können Grenzen ziehen, um sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden (z. B. durch spezielle Haartracht, Abzeichen, Speiseverbote). Eine weitere wichtige Strategie besteht in Wachstum, um so den eigenen Einfluss zu steigern (Rekrutierung, biologische Reproduktion) oder auch die eigene Schlagkraft durch höhere Identifikation der Mitglieder zu stärken (Sozialisierung der eigenen Mitglieder, soziale Kontrolle). Wenn es um Nachfrage nach «Produkten» der Gruppe geht, liegt zudem eine wichtige Strategie in der Preisanpassung, Attraktivitäts- und Qualitätssteigerung. Religiöse Gruppen können versuchen, mehr Personen zur Teilnahme zu bewegen, indem sie z. B. auf Zielgruppen abgestimmte Gottesdienste anbieten, hervorragende Musiker anstellen usw. Oft führt – hier wie anderswo – Innovation zum Erfolg.

      Auf die jeweiligen Konkurrenzsituationen reagieren die Individuen ihrerseits, indem sie sich anpassen. Sie fragen eher religiöse oder eher säkulare Güter nach; sie wählen eher religiöse oder eher säkulare politische Parteien; sie werden Mitglied in religiösen oder säkularen Vereinen usw. Hierbei gehen wir von einer «begrenzten Rationalität» im Sinne Herbert Simons aus. Die Individuen haben beschränkte Informationen und beschränkte Aufmerksamkeits- und Kalkulationsressourcen. Sehr häufig verläuft ihr Verhalten nach Massgabe kulturell vorgegebener Gewohnheiten. Dennoch versuchen sie im Falle von sich verändernden Situationsbedingungen meist, diejenige Kombination von (religiösen und/oder |40| säkularen) Gütern auszuwählen, mit deren Hilfe sie einen möglichst hohen Nutzen erreichen können.103

      Der konkrete Verlauf des Konkurrenzgeschehens wird von verschiedensten externen Faktoren beeinflusst. Es ist, wie wenn Spieler eines Monopoly-Spiels ständig von aussen gestört würden, indem plötzlich neue Regeln eingeführt, manchen Spielern zusätzliche Ressourcen gegeben, anderen Ressourcen entzogen, Pausen erzwungen würden usw. Externe Einflussfaktoren können sehr verschiedene Gestalt annehmen – wir nennen hier nur fünf der wichtigsten Formen.

      Der erste zu nennende Einflussfaktor ist das Regime religiös-säkularer Konkurrenz (wir sprechen im Folgenden abgekürzt auch vom Konkurrenzregime). Dieses legt sowohl über die gesetzlichen Wege als auch über die in der Gesellschaft geltenden Normen fest, ob und inwieweit es zu einer intra-religiösen oder religiös-säkularen Konkurrenz kommen kann und nach welchen Regeln solche Konkurrenzen abzulaufen haben. Das Regime religiös-säkularer Konkurrenz kann sowohl das Angebot als auch die Nachfrage regulieren. Beispiele für Regulierung des Angebots sind etwa die Behinderung religiöser Anbieter in der DDR oder die öffentlich-rechtliche Anerkennung mancher religiöser Gemeinschaften in der Schweiz. Beispiele für die Regulierung der Nachfrage sind Normen, die eine religiöse Praxis sozial erwarten (wie dies z. B. für manche französischen Dörfer noch in den 1950er Jahren galt) oder gesetzliche Normen, die eine kirchliche Heirat vorschreiben. Das Regime religiös-säkularer Konkurrenz ist also gewissermassen die für eine bestimmte Zeit in einer Gesellschaft geltende Summe der «Spielregeln». Eine für unsere Theorie wichtige Einsicht ist dabei, dass solche Spielregeln nie unangefochten sind. Sie beruhen auf Machtverteilungen, Grössenverhältnissen von Gruppen usw., sie werden ständig neu ausgehandelt. In manchen Situationen kann es dann zu «Wechseln des Konkurrenzregimes» kommen, d. h., die Veränderungen der Spielregeln sind so gross, dass ein qualitativ neues Spiel entsteht (siehe unten). |41|

      In Einklang mit neueren ökonomischen und historischen Theorien legt unsere Theorie einen besonders starken Akzent auf Innovationen.104 Zunächst kann man hier an wissenschaftliche/technische Innovationen denken. Diese verändern durch neue Kontroll- und Verstehensmöglichkeiten die Ressourcen und Opportunitäten der verschiedenen Konkurrenten.105 Die Evolutionstheorie von Charles Darwin etwa veränderte das gesamte religiös-säkulare Konkurrenzfeld, da sie zum ersten Mal eine Möglichkeit eröffnete, die Entstehung des Menschen rein säkular zu erklären.106 Die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelwissenschaften, angestossen etwa von Julius Wellhausen zum Alten Testament oder David Friedrich Strauss zur Gestalt Jesu, haben die religiös-säkulare Konkurrenzlage innerhalb des Protestantismus und langfristig in den westlichen Gesellschaften insgesamt tiefgreifend verändert.107 Während die genannten wissenschaftlichen Innovationen religiöses Wissen direkt betreffen, wirken viele wissenschaftliche Innovationen indirekt, indem sie in zunächst kaum merklicher Weise das Bewusstsein der Menschen modifizieren. Sie beeinflussen, um mit Peter Berger zu sprechen, die allgemeine «Plausibilitätsstruktur» der Menschen.108

      Neben wissenschaftlich-technischen sind drittens soziale Innovationen äusserst wichtig. Die Idee der universellen Menschenrechte etwa, die sich (nach wichtigen Entwicklungsstationen im Naturrecht der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolutionen) ab 1948 durchsetzte, zeigt die Möglichkeit der Begründung des Wertes des Menschen unabhängig von Gott.109 Der Wohlfahrtsstaat, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden und ab den 1950er Jahren in vielen westlichen Ländern extrem ausgebaut wurde, führte zu einem vorher nie gekannten Mass an individueller Sicherheit – eine Sicherheit, die von religiösen Gemeinschaften und Ideologien unabhängig war.110 Die Erfindung der modernen Professionen im 19. Jahrhundert – die die Zünfte ablösten – führte zum Siegeszug des wissenschaftlich legitimierten Expertentums. Die damit neu entstehenden Berufe, insbesondere der Journalisten, Ärzte, Sozialarbeiter und Psychotherapeuten, wurden zu zentralen Konkurrenten der religiösen Führungskräfte, der Kleriker, die sich als umfassende Experten verstanden und sich ihre |42| rseits von Trägern eines schon im Ancien Régime gegebenen Amtes zu Mitgliedern einer Profession verwandeln mussten.111

      Eine vierte Form von externen Einflussfaktoren besteht in Grossereignissen. Beispiele sind Seuchen, Kriege, Hungersnöte, meteorologische Ausnahmezustände, Völkerwanderungen u. ä. So ist die massive Welle der Islamophobie in der westlichen