Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов

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Название Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290201128



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Kirchen an sich gezogen, die Forderungen des katholischen Submilieus waren grossteils erfüllt worden (deshalb war das Milieu auch nicht mehr überlebensnotwendig), verschiedene konkurrenzierende Ideologien (Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus) waren auf den Plan getreten und hatten die religiösen Wahrheiten ihrer ehemaligen Monopolstellung enthoben, neue Berufe hatten den religiösen Spezialisten Aufgaben entrissen.

      Dieser Niedergang wurde allerdings nicht oder nur zum Teil als solcher bewusst. Die Schweizer Gesellschaft blieb bis zum Ende der 1950er Jahre der Auffassung, dass sie selbst eine christliche Gesellschaft sei. Das war einerseits schon dadurch zu begründen, dass über 97 % der Bevölkerung einer christlichen Konfession angehörten (1900: 99,4 %, 1950: 97,8 %) und dass diese Mitgliedschaft als nicht individuell wählbar erschien.142 Wie seit Jahrhunderten wurde das Individuum |51| in seine Religion «hineingeboren», als Kind getauft, innerhalb des eigenen konfessionellen Milieus sozialisiert, mit einem Übergangsritus (Konfirmation, Firmung) zum vollwertigen Gesellschafts- und Kirchenmitglied gemacht und nach dem Ritus der eigenen Konfession bestattet. Andererseits hatten die beiden Weltkriege eine wichtige Rolle gespielt. Die Schweiz war wie durch ein Wunder vom Kriegsgeschehen verschont worden. Eine Strategie während dieser Zeit war die «geistige Landesverteidigung» gewesen, d. h. eine Betonung der spezifischen Schweizer Eigenart zunächst gegenüber der deutschen Blut-und-Boden-Ideologie, dann gegenüber dem Kommunismus.143 In beiden Fällen wurde die Schweiz als ein Hort der Demokratie, der Vielsprachigkeit, der Freiheit und nicht zuletzt auch des christlichen Glaubens dargestellt – in Absetzung von den atheistischen Nazis und Kommunisten.144

      Die 1950er Jahre lassen uns dieses Paradox von hintergründiger Schwächung und vordergründiger Stärkung der Religion nochmals wie durch ein Vergrösserungsglas betrachten. In den 1950er Jahren traten Phänomene auf, die auf die baldige kulturelle Revolution hinführten und diese vorbereiteten. Hier ist insbesondere der Wirtschaftsboom und der damit zusammenhängende Massenkonsum zu nennen. Eine ständig wachsende Anzahl von neuen Produkten kam auf den Markt, der Staubsauger, die Waschmaschine, der Mixer, der Fernseher, die vollautomatische Heizung usw. Dank des steigenden Einkommens konnten sie von der grossen Masse der Bevölkerung auch gekauft werden.145 Es ist kein Zufall, dass man vom «Volkswagen» und, zumindest anfangs, auch vom «Volkskühlschrank» sprach.146 Eine extreme Wirkung zeitigte das Auto, das eine völlig neuartige Berufs- und Freizeitmobilität ermöglichte.147 Das Magazin «Touring» schrieb 1952 begeistert:

      Gibt es wohl ein genussvolleres Wandern kreuz und quer durch die Schweiz als mit dem Auto? – Kaum! Mit dem Auto sind die Sprünge noch kleiner geworden; dem Menschen wurden märchenhafte Siebenmeilenstiefel geschenkt. («Touring», 15/1952)148 |52|

      Diese neue Massen-Konsum-Kultur beeinflusste insbesondere auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie konnten nun selbst konsumieren und waren zu einer eigenen, von der Wirtschaft und Werbung fokussierbaren Gruppe geworden. Hierdurch entwickelten sich ansatzweise schon in den 50er Jahren neue Jugendkulturen (Halbstarke) und Freizeitbeschäftigungen (Tanzhallen, Lichtspieltheater).

      Die neuen Möglichkeiten der Menschen wurden allerdings nicht nur durch ihr individuelles steigendes Einkommen vervielfacht; auch der Staat hatte hier einen wichtigen Einfluss. Aufgrund des Wirtschaftswachstums stiegen die Staatseinkünfte und ermöglichten die Bereitstellung kollektiver Güter von nie gekannten Ausmassen. Hierzu gehörten, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Einführung der Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV, Einführung 1948) oder der Ausbau eines umfangreichen Strassen- und Schienennetzes.149 Auch hierdurch stiegen die säkularen Optionen der Individuen in signifikantem Masse.

      Gleichzeitig sind die zweite Hälfte der 1940er und die 1950er Jahre eine Zeit der (zumindest scheinbaren) Stabilität bezüglich geltender Werte, moralischer wie religiöser Haltungen.150 Nach den Kriegsjahren schienen die Menschen ein Bedürfnis nach Normalität, Sicherheit, Ruhe, Ordnung und konservativen Werten zu haben. Eine solche Normalität wollte man insbesondere in der Familie finden, die noch nach traditionellen Geschlechterrollen organisiert wurde. Es ist folgerichtig, dass 1946 ein Artikel zum Schutz der Familie in die Verfassung aufgenommen wurde. Zu diesem wertmässigen Konservatismus passten – bei aller konfessioneller Verschiedenheit – die damaligen Positionen der Kirchen. Und hierdurch erklärt sich zum Teil eine (wiederum: zumindest scheinbare) religiöse Renaissance. Die Kirchen nahmen am allgemeinen Wirtschaftsaufschwung teil, ihre Mitgliederbestände wuchsen (in absoluten Zahlen) aufgrund des starken Bevölkerungszuwachses, sie bauten neue Kirchen, und sie standen für die Legitimierung der Pflicht- und Akzeptanzwerte, die diesen Jahren so wichtig waren. Insbesondere die katholische Kirche zeigte sich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil als unnachgiebige Verteidigerin konservativer moralischer und religiöser Werte. Gleichzeitig konnten die Kirchen punkten, indem sie sich als Hüterinnen des Friedens zeigten.

      Ein Beispiel für die Konservativität der 50er Jahre ist die Affäre rund um den Maler Kurt Fahrner.151 Dieser stellte sein Gemälde «Bild einer gekreuzigten Frau unserer Zeit» (eine nackte Frau an einem Kreuz) am 29. April 1959 auf dem Barfüsserplatz |53| in Basel öffentlich aus. Er wurde von der Polizei verhaftet, das Bild wurde konfisziert und Fahrner zu drei Tagen Gefängnis auf Bewährung und 100 Franken Geldbusse verurteilt. Die Richter führten in der Urteilsbegründung an: eine «solche ans Unzüchtige grenzende Darstellung, mit dem Erlösungstod Christi in Parallele gesetzt […] verletzt in gemeinster Weise die religiöse Überzeugung anderer».152

      Es scheint gerade dieser Widerspruch der 1950er Jahre gewesen zu sein, der später zum Ausbruch der Revolution der 1960er Jahre geführt hat: einerseits die neuen Möglichkeiten des Handelns aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs und des Massenkonsums, andererseits die Wahrung des althergebrachten moralisch-wertmässig-religiösen Korsetts.

      Fassen wir zusammen: Innerhalb des alten Konkurrenzregimes kam es zu heftigen Konkurrenzkämpfen sowohl zwischen Konfessionen als auch zwischen religiösen und säkularen Parteien. Dennoch blieb trotz einer durch diese Kämpfe schrumpfenden Anzahl von Funktionen der Kirchen die Annahme einer grundsätzlich christlichen Legitimation des Gesamtsystems bestehen. Das sollte sich in den 1960er Jahren ändern.

      In den 1960er Jahren kam es in der Schweiz – wie in fast allen westlichen Ländern – zu einer kulturellen Revolution, die kein an sich religiös-säkularer Konflikt war, aber dennoch das gesamte gesellschaftliche Gefüge so auf den Kopf stellen sollte, dass die intra-religiösen und religiös-säkularen Konkurrenzkämpfe von nun an in anderer Weise ablaufen mussten.153

      Bei der kulturellen Revolution der 1960er Jahre handelte es sich zunächst um einen Generationenkonflikt: Eine junge Generation lehnte sich gegen die Älteren und deren – wie man dachte – veraltete, spiessige und langweilige Lebens- und Wertvorstellungen auf. Die 1968er Revolution kristallisierte sich an einer Reihe bevorzugter Themen. Die Akteure kritisierten insbesondere den Vietnamkrieg, den Kolonialismus, Imperialismus, Militarismus und Faschismus. Sie widersprachen jeglicher Autorität, sei diese nun staatlich, universitär, elterlich oder kirchlich. Ein zentrales, eng damit verbundenes Thema war die individuelle Freiheit: Das Individuum sollte frei von jeglichem Zwang selbst entscheiden dürfen und |54| seine ganz individuellen Wünsche, insbesondere auch seine Sexualität, völlig selbstbestimmt ausleben können.154 Die damalige Zeit wurde von vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen als eine äusserst emotionale Phase erlebt, in der die Welt aus den Fugen geriet und alles möglich schien. Die Beatles fassten das Lebensgefühl zusammen in ihrer Hymne «All You Need Is Love», und Cat Stevens sang 1971:

      If you want to sing out sing out / and if you want to be free be free / there’s a million ways to be / you know that there are155

      Die Jugendlichen konsumierten jetzt eine neue, sich als gegenkulturell verstehende Musik (Beatles, Rolling Stones, Doors, in der Schweiz: les Sauterelles um Toni Vescoli), unkonventionelle Kleidung und Haartracht (bunte, weite Kleidung, lange Haare für Männer, kurze für Frauen), alternative Freizeitbeschäftigungen (Sit-ins, Teach-ins, Happenings). Vor allem die junge Generation der Städte und in besonderem Masse die Studentinnen und Studenten wurden von der Revolution erfasst.156

      Die neuen individualistischen Wert- und Lebensweisen blieben jedoch keineswegs auf die städtischen