Schattendasein. Michael Albus

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Название Schattendasein
Автор произведения Michael Albus
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766643100



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Die Stimmen wurden hektischer: „Schnell, schnell, schnell! Geh’! Es kommt hier gleich zu einer bewaffneten Konfrontation. In der Nachbarschaft ist schon fast niemand mehr da. Geh’ raus, verschwinde, fliehe von hier!“

      Doch wohin sollte ich denn fliehen? Wer verlässt schon schnell und gern sein Haus und sein Eigentum? Wohin sollte ich denn fliehen?

      Überstürzt, ohne viel nachzudenken, packte ich meine fünf Kinder und ging raus. Wir liefen schnell auf die freien Felder. Drei Tage lang waren wir in den Feldern. Aber wir waren von bewaffneten Männern umzingelt. Wir konnten nicht zurück in unsere Häuser. Wir ernährten uns von den Früchten der Felder.

      Manchmal aßen wir Gräser oder Pflanzen, von denen wir wussten, dass sie essbar waren.

      Nach diesen drei Tagen wurde uns vom Militär mitgeteilt, dass wir zwei Stunden hätten, um die Felder zu verlassen. Wer dennoch da bleiben würde, würde von den Regierungstruppen festgenommen und als Teil der Opposition angesehen.

      Das Militär warnte uns und sagte: „Passt auf, dass ihr nicht von einer verirrten Kugel getroffen werdet! Es gibt Heckenschützen!“

      Wir entschieden uns, dicht von Mauer zu Mauer zu laufen.

      Alle Bewohner, die sich geweigert haben zu fliehen, wurden festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.

      EF

      Das heißt, die Opposition hat sich bei der Zivilbevölkerung versteckt und Schutz gesucht, sie praktisch als lebenden Schutzschild missbraucht.

      US

      Genau. Das hat uns und anderen am meisten geschadet. Viel Leid ist unschuldigen Menschen damals zugefügt worden. Deswegen sind viele Menschen in der Folge auch einfach geflohen.

      EF

      Was ist dann mit euch passiert?

      US

      Nachdem wir von Mauer zu Mauer vorsichtig entlanggeschlichen waren, um uns vor Heckenschützen zu verbergen, fand ich endlich ein Taxi. Gott hat uns dieses Auto geschickt. Der Chauffeur hat drei Familien ins Taxi gestopft. Meine Jungs quetschten sich in den Kofferraum des Autos.

      EF

      Was geschah mit euren Sachen, die ihr zurücklassen musstet? Konntet ihr etwas mitnehmen?

      US

      Wir konnten nichts mitnehmen, gar nichts. Wir hatten nur die Kleidung am Leib, die wir vor der Flucht anhatten. Das war es. Besonders schlecht war es für die, die ihren Pass vergessen hatten und das Geld, vor lauter Angst und Panik wegen des Lebens ihrer Kinder. Klar, was dann passiert ist: Die Häuser wurden geplündert. Alles wurde geraubt. Alles, was wir einst hatten.

      Es war eine schreckliche Zeit. Viele Menschen wurden getötet. Wir sahen LKWs, die vollgeladen waren mit Leichen. Niemand wusste, wer sie sind. Sie wurden in Massengräber gebracht und dort anonym verscharrt.

      Die Straßen und die Märkte verwandelten sich in Geisterstätten. Alles war leer und öde geworden.

      Du weißt doch, wie es ist, wenn es wirklich so richtig regnet? So sind die Kugeln auf uns heruntergeprasselt, um uns herum geflogen.

      Ich hatte das Ziel, nach Idlib zu meinen Eltern zu flüchten.

      EF

      Ist dir das gelungen?

      US

      Nein. In Idlib war es noch viel schlimmer. Wir kamen bis an die Brücke, die nach Idlib führte. Doch die Brücke war schon zerstört worden. Ich konnte von dort aus die Stadt sehen: Totale Zerstörung! Alles war schwarz und trostlos.

      EF

      Und diese Zerstörung geschah innerhalb weniger Tage?

      US

      Ja. Innerhalb einer Woche war nahezu alles dem Erdboden gleich gemacht.

      Ich fragte mich voller Angst und Sorge: Wo sind meine Eltern? Die Brücke war zerstört. Wie konnte ich zu meinen Eltern kommen? Wo hielten die sich auf? Es hat sich dann herausgestellt, dass meine Eltern auch geflüchtet waren. Wohin, wusste ich natürlich nicht. Ich habe sie also nicht finden können.

      EF

      Hattest du nicht die Möglichkeit, sie per Handy zu kontaktieren?

      US

      Nein. Alle Telefonnetzwerke waren lahmgelegt. Es gab auch keine Elektrizität.

      Ganz verzweifelt fragte ich mich: Was soll ich jetzt machen? Wo soll ich hin?

      Nach langem Ringen entschied ich mich, mit den Kindern in die Türkei zu fliehen. Wir kamen dort in ein Flüchtlingslager. Und zum großen Glück fand ich da auch meine Eltern.

      Ich blieb dort zwanzig Tage lang. Dann entschied ich mich, gemeinsam mit meinen Kindern zurück nach Syrien zu reisen.

      Ich konnte es einfach nicht schlucken, nicht verwinden, dass man mich einen „Flüchtling“ nannte. Oft habe ich geweint und mir gesagt: Wie kann es sein, dass wir vorher in Würde gelebt haben und jetzt „Flüchtlinge“ genannt werden? Ich konnte es einfach nicht ertragen, wollte zurück. Mir war es lieber, in meinem eigenen Land, in meinem Heimatland zu sterben als hier im Flüchtlingslager das Leben zu fristen.

      EF

      Bist du wieder in dein Dorf zurückgegangen? Wie war es dort? War dein Haus noch da?

      US

      Alles war noch da. Gott sei Dank! Zu diesem Zeitpunkt hatte das Militär die Kontrolle über das Dorf übernommen. Danach normalisierte sich die Lage halbwegs. Lästig war nur, dass so viele Militärkontrollpunkte errichtet wurden. Das hieß: Jedes Mal, wenn ich Gemüse einkaufen wollte, wurde ich mindestens fünfmal aufgehalten und durchsucht.

      EF

      Waren andere auch wieder zurückgekehrt? Nachbarn?

      US

      Nur die wenigsten. Es war wie in einer unheimlichen und verlorenen Geisterstadt.

      EF

      Wie lange bist du mit deinen Kindern dort geblieben?

      US

      Ich blieb dort ein Jahr unter diesen Umständen.

      EF

      War da nicht eine ständige Spannung und Angst?

      US

      Ja. Und wie! Die Angst hat uns Tag und Nacht begleitet. Immer wieder gab es auch bewaffnete Auseinandersetzungen.

      EF

      Was ist dann passiert?

      US

      Dann sind schreckliche Ereignisse vorgefallen. Zuerst wurde Faris an einer dieser Checkpoints festgenommen. Nach drei Monaten konnte ich ihn aus dem Gefängnis herausholen, nach langem Ringen, nach vielen Tränen. Fast mein ganzes Hab und Gut musste ich dafür verkaufen. Faris, noch fast ein Kind, war nach den drei Monaten sehr krank und konnte kaum mehr laufen, weil er in einer Isolationszelle festgehalten worden war, ohne Licht, unter ganz schwierigen Umständen. Sein Fieber wollte nicht unter 40 º Celsius heruntergehen. In den Nächten hat er schreckliche Albträume gehabt. Er ist schweißgebadet aufgewacht und hat geschrien. Zuerst wusste ich nicht, dass er gefoltert worden ist. Nachdem ich ihn ins Bad gebracht hatte, sah ich die vielen Spuren von brennenden Zigaretten an seinen Beinen und an den Hüften.

      Knapp einen Monat später wurde mein ältester Sohn festgenommen und eingesperrt. Ich wusste aber nicht, wo er war. Er war verschollen. Niemand wusste, wo er war. Fünf Jahre ist er jetzt schon im Gefängnis. Erst seit drei Monaten, sprich seit April 2016, weiß ich, wo er gefangen ist und dass es ihm sehr schlecht geht.

      EF

      Kann das Komitee vom Roten Kreuz deinen Sohn denn nicht besuchen?

      US

      In Syrien gibt es so viele Gefängnisse, die geheim sind. Niemand, nicht einmal das Rote Kreuz, darf dorthin. Die Menschen, die dort festgehalten werden, sind wie verschollen.