Nachschlag Berlin. Johannes J. Arens

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Название Nachschlag Berlin
Автор произведения Johannes J. Arens
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621566



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      Minimalistischer Industriechic

      20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Hauptstadt arm, aber sexy. Die Esskultur der Hauptstadt ist durch die Schere zwischen Elite und Prekariat, zwischen arm und reich geprägt. Die Ernährung unter so genannten Hartz IV-Verhältnissen wird dabei regelmäßig in den Medien thematisiert, von der Pseudodokumentation im Privatfernsehen bis zur politisch motivierten Berichterstattung in der ,taz’. Jedes dritte Kind in Berlin lebe in armen Verhältnissen, zitiert die Berliner Morgenpost im Juni 2010 die Antwort der Sozialsenatorin Carola Bluhm auf eine parlamentarische Anfrage. Programme wie der ,Aktionsplan plus‘ seien notwendig, um eine durchgehende Betreuung und eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten, so die Politikerin. Neukölln ist dabei der Bezirk, in dem mit 25.541 Kindern und Jugendlichen die meisten Minderjährigen auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky bescheinigt seinem Krisenkiez im selben Artikel eine Verschlechterung der Situation innerhalb der vergangenen Jahre. Der Zustand Nordneuköllns werde keinesfalls verbessert durch den Zuzug des kreativen Milieus aus Kreuzberg und Friedrichshain, so der SPD-Politiker: „Leute, die um 22 Uhr kommen und bis sechs Uhr morgens Caipi trinken, ändern die Sozialstruktur dort nicht.” 29

      Anders als im industrialisierten Berlin der Wende zum 20. Jahrhundert, als soziale Klassen, auch räumlich getrennt, im Alltag kaum miteinander in Berührung kamen, finden sich gegenwärtig Sozialfälle und Trendsetter Tür an Tür, so im Neuköllner Reuterkiez an der Sonnenallee. Während in Pannier- und Weserstraße in zahlreichen neu entstandenen Cafes, Bars und Restaurants spanische Tapas die Weinkarte ergänzen, wird nur eine Straße weiter, in der Fuldastraße, jeden Freitag eine kostenlose Mahlzeit für Bedürftige angeboten. Während frühmorgens Werbetexter und Filmemacher Caffe Latte Soja und ein Buttercroissant verzehren, versuchen schlecht ernährte Kinder mit dem Tempo ihrer eiligen Eltern mitzuhalten und gleichzeitig ihr aus einem Sesamkringel oder Rosinenbrötchen bestehendes Frühstück zu verzehren. Die vielfach prekäre finanzielle Situation Alleinerziehender wirke sich auch auf die Ernährung der Kinder aus, schrieb die ,taz‘ 2008 in einer Reportage über das Kinderrestaurant Kireli in Lichterfelde. Das Restaurant biete den Kindern die Chance, mittags gesund und genug zu essen, zitiert die Zeitung die Leiterin der Einrichtung. Man habe das Projekt ins Leben gerufen, weil viele Kinder ohne Mittagsessen aus der Schule ins Jugendzentrum gekommen seien, gerade aus Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind. Bei Alleinerziehenden komme oft erst abends etwas Warmes auf den Tisch.30

      Einladung zum gemeinsamen Essen auf der Straße im Neuköllner Reuterkiez

      Die Restaurantkritik, ein anderer Bereich der öffentlichen Auseinandersetzung mit Ernährung, bewegt sich auf einem weitaus höheren Niveau, wie ein Blick in die Stadtmagazine ,tip‘ oder ,zitty‘ deutlich macht. Der Besuch eines Restaurants ist für viele nach wie vor eine Sache des Sozialprestiges, die verzehrten Lebensmittel bleiben weiterhin eher nebensächlich, doch eine, zumindest vordergründig kompetente Kritik an Material, Zubereitung oder Service erhöht unter Umständen das eigene Ansehen. Ein Besucher des hochpreisigen ,Borchardt‘ in Mitte habe sich über den Service beschwert heißt es im ,tip’, die Zeitschrift sei der Sache nachgegangen. „Das Team vom Borchardt wollte sich als Entschädigung etwas überlegen, doch bis heute ist nichts passiert. Blöd gelaufen!” 31 Im Widerspruch gegen die Behauptung, im ,Grill Royal‘ würde Fertigware verwendet, mag man noch eine Spur einer konkreten Restaurantkritik entdecken. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die bloße Nennung solcher Kritik an teuren Institutionen der kulinarischen Elite wichtiger ist als der tatsächliche Erkenntnisgewinn der Leser.

      Restaurant Borchardt, Französische Straße in Mitte

      Discounter-Filiale auf der Sonnenallee in Neukölln

      Dass Geschmack und Qualität der angebotenen Lebensmittel vielfach in den Hintergrund treten, zeigt die Aufmerksamkeit, die in den Restaurantkritiken der innenarchitektonischen Ausstattung der Lokale zukommt. Sei es der fachkundige Blick für einen Tresen aus Nussbaum auf einem Fundament aus unbehandeltem Nadelholz32 oder die Schilderung des Werkstoffs Beton, die in einer fast karikaturhaften Beschreibung urbaner Inszenierung von Ernährung gipfelt: „In dem minimalistischen Industrieschick zieht sich die Mittagspause der medienkreativen Nachbarschaft schon mal in den frühen Abend.” 33 Dass Essen und Trinken, oder um präziser zu sein, die Qualität von Essen und Trinken, in diesem Kontext erst einmal eine untergeordnete Rolle spielen, ist nicht nur in Berlin eine Tatsache. Während die arrivierten Trendsetter der ,Generation Golf‘ den Wert gemeinsamer Mahlzeiten wieder entdeckt haben, muss, allen Bio- und Ökosiegeln zum Trotz, die Güte des Essens und Trinkens nach wie vor oft hinten anstehen. Diese Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überwinden ist eine Aufgabe, an der jedoch kein Weg vorbeiführt, um sowohl die gesundheitlichen als auch die ökonomischen Folgen von Übergewicht und Fehlernährung zumindest ansatzweise eindämmen zu können.

      Soweit ein zugegebenermaßen düsterer deutschlandweiter Befund. Berlin ist in dieser Beziehung keine Ausnahme. Im Gegenteil: Essen und Trinken scheinen in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands unter verschärften Bedingungen stattzufinden. Das Publikum scheint noch anspruchsloser zu sein, das Angebot noch industrieller und der Service noch eine Spur unfreundlicher als im Rest der Republik. Berlin ist auch in kulinarischer Hinsicht eine Stadt der Extreme - die Differenz zwischen hochpreisigen HighEnd-Restaurants in Berlin-Mitte und einer Imbissbude in Moabit, zwischen der Feinkostabteilung des KaDeWe in Schöneberg und dem Angebot einer Aldi-Nord-Filiale in Neukölln könnte größer nicht sein. Die Stadt gewährt in diesem Fall, wie es als Hauptstadt zu ihren Aufgaben gehört, sowohl in ihrem kreativen Potential als auch in ihrer finanziellen Misere einen Blick in gesellschaftliche Tendenzen der Zukunft.

      Arme Ritter und Spiegelei

      Das 2009 von der Illustratorin Kitty Kahane in Kooperation mit ihrer Schwester, der Autorin Brit Hartmann, veröffentlichte ,Kittys Berlin-Kochbuch’ ist eine Ausnahme unter den Kochbüchern mit Hauptstadtschwerpunkt. Denn die Rezeptsammlung der beiden gebürtigen Berlinerinnen umfasst neben den Klassikern auch etliche Rezepte und Geschichten aus der eigenen Familientraditon.

      Kitty, wie ist das Buch entstanden?

      Das Buch ist ein Familienprojekt, Brit und ich haben sehr eng zusammengearbeitet und mein Mann hat die Gestaltung übernommen. Meine Schwester hat die Texte geschrieben, sie ist eine hervorragende Köchin und hat alles sehr sorgfältig durchgekocht.

      Wo kommen die Rezepte her?

      Ein Teil stammt von unserer Mutter, die aus Thüringen stammt, immer ganz hervorragend gekocht hat und uns sehr frühzeitig ans Kochen herangeführt hat. Der Rest ist eigene Erfahrung und sehr genaue Recherche meiner Schwester. Ich bin eine gute Köchin, würde ich sagen, aber meine Schwester ist da noch sehr viel raffinierter. Das Buch ist also persönlich und in jedem Fall authentisch.

      Was unterscheidet ,Kittys Berlin Kochbuch‘ von den anderen Berlin-Kochbüchern?

      Wir wollten kein reines Kochbuch machen, sondern die Kultur der Berliner Küche darstellen und auch die Umgebung mit einbeziehen. Modern, aber unter der Berücksichtigung traditioneller Einflüsse, wie beispielsweise die aus Osteuropa.

      Was kam rein und was nicht?

      Wir wollten eine leichte und vor allem auch nachvollziehbare Küche präsentieren. Eben nicht mehr nur die schweren, deftigen Sachen. Wir haben dann überlegt, was typisch für Berlin ist und was uns selber am Herzen liegt, was wir selber gerne essen. Ein paar Rezepte, wie beispielsweise die Quarkzigarren, sind aber auch eigene Erfindungen.

      Was