Highway 61 Revisited. Mark Polizzotti

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Название Highway 61 Revisited
Автор произведения Mark Polizzotti
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871551



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Ich musste bis ganz nach oben gehen, damit von dort endlich der Befehl erlassen wurde: ›Lasst ihn das Album so nennen, wie er es nennen will.‹«v4

      Das Album ist der Fahrplan in neues Gelände, und zwar sowohl eine Rückkehr in jene Gegend, in der der Künstler seine Jugend verbracht hat, als auch die Erforschung der Achse, die sein nord- und sein südamerikanisches Erbe (im weitesten Sinne Weiß und Schwarz, Folk und Blues) verbindet, die zwei Pole, zwischen denen Dylans rastlose Entwicklung stattfindet. Jack Kerouac schildert in On the Road – eine der großen Inspirationen von Dylan – die Blitzbesuche von Sal Paradise and Dean Moriarty bei verschiedenen Bekannten während ihres wahnsinnigen Zickzacks quer durch Amerika. Auf Highway 61 behandelt Dylan die Elemente seiner musikalischen Ausbildung wie sonst die Freunde und Beziehungen auf seiner Reise: manchen wird ihre Gastfreundschaft vergolten, andere werden ausgenutzt.

      Über Dylan and Highway 61 wurde schon so viel geschrieben, dass jeder weitere Kommentar überflüssig erscheint. Dylan ist nun mal der Rockstar der Intellektuellen und diente bereits Generationen von Kommentatoren als geistige Katzenminze. Andere beliebte Künstler, von den Beatles über Michael Jackson bis zu Mariah Carey, haben wesentlich mehr Platten verkauft, aber nicht einer hat eine ähnliche Menge an Referenzen, wenn nicht gar an Ehrerbietung errungen.

      Die Magie von Dylans Werken besteht zum Teil genau darin, dass es einen drängt, sie mit Worten in den Griff zu bekommen, mehr damit zu tun, als sie einfach mit nach Hause und dort in sich auf zu nehmen. Die emotionale Reaktion auf Dylan kann – zumindest bei bestimmten Zuhörern – so mächtig sein, dass sie in irgendeiner Form zurückgegeben werden muss. Joan Baez meinte dazu: »Manche Menschen sind einfach nicht interessiert. Aber wenn Du interessiert bist, dann geht er einem sehr, sehr tief.«v5

      Doch egal wie aufschlussreich ein Kommentar, wie vollständig eine Analyse auch sein mag: Dylans Musik lässt sich nicht einfangen, sie fordert den unerschrockenen Kritiker zu immer noch einem Versuch heraus, denn sie weiß, dass er niemals das letzte Wort finden wird. Und auch das ist Teil ihrer Magie.

      Ist Highway 61 Revisited das vollkommene Dylan-Album? Es gab so viele Dylans, dass diese Frage nicht wirklich zu beantworten ist. Sicher ist, dass es am Kreuzweg eines fundamentalen Wandels in der Landschaft der amerikanischen Unterhaltungsmusik und Kultur steht, eines Wandels, die es selbst mit herbeigeführt hat. Es ebnete den Weg für Formen des Rock, die vielschichtiger und literarischer sind, und lenkte den Weg des Pop weg von »Surf’s Up« zu »In My Life« von den Beat­les und »Paint It Black« von den Stones. (Tatsächlich könnte man die meisten Lieder auf Aftermath, von »Lady Jane« bis zu dem elfminütigen »Goin’ Home«, als billige Kopie von Highway 61 beschreiben.) Andere Platten mögen zwar auch Dylans ständig wechselnde Stimmungen widerspiegeln oder seine quecksilbrige Fähigkeit, seine persona immer wieder neu zu erfinden (man denke an Nashville Skyline und Slow Train Coming), doch keines verkörpert den Nervenkitzel, die Freiheit und das pure waghalsige Draufgängertum, das Highway 61 selbst fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung noch ausstrahlt. Die Zeit hat keine der Kanten abgeschliffen. Sobald man sich erlaubt, sich auf diese Reise zu begeben, klingt jegliche andere Unterhaltungsmusik frivol und konventionell.

      Für viele ist Highway 61 Revisited Dylans erster resoluter Schritt über die Linie, die den »Folkie« vom hyper-dynamischen Rock-Visionär trennt. Doch war, wie er damals immer wieder betonte, die vermeintliche Hinwendung zur E-Musik in Wirklichkeit eine Rückkehr, eine Wiederaufnahme des Little Richard-Rock’n’Rolls, den er als Teenager mit einer Reihe von Garagenbands mit so bezeichnenden Namen wie Golden Chords, Shadow Blasters oder Elston Gunn and The Rock Boppers heraushämmerte.

      Sogar sein goldenes akustisches Zeitalter wurde von elektrischen Geistern heimgesucht, angefangen mit seiner ersten Single »Mixed Up Confusion« (1962) bis hin zu vier Songs mit elektrischer Unterstützung, die für das historische Freewheelin’ Bob Dylan-Album von 1963 be­stimmt waren, wobei es von diesen nur das unterbewertete »Corrina, Corrina« auf die Platte schaffte. (Wobei es immer aufs Timing ankommt: Als Cynthia Gooding 1962 Dylan gegenüber in einem Interview erwähnte, dass sie ihn schon mal getroffen habe, als er noch ein »Rock’n’ Roll-Sänger sein wollte«,v6 wechselte Dylan schnell das Thema.)

      »Niemand sagte mir, dass ich elektrisch werden solle«, sagte Dylan 1996 zu Shelton. »Hey, ich war auf [Freewheelin’] elektrisch (…) Das Elektrische wurde nur deshalb rausgeschnitten, weil ich es nicht selbst geschrieben hatte.« Rund zwei Jahrzehnte später fügte er hinzu, dass er selbst in den Anfängen beim Spielen »purer« Folksongs »wegen meines Rock’n’Roll-Hintergrunds die zwei Stile irgenwie miteinander gekreuzt habe (…) In anderen Worten, ich habe die Folksongs mit Rock’n’Roll-Attitüde gespielt. Das hat mich von den anderen unterschieden, deswegen bin ich durch all das Durcheinander gedrungen und man hat mir zugehört.«v7 Vielleicht dachte er dabei an seine Darbietung des klassischen Bluessongs »Highway 51«, einer Art Verbindungsstraße zu Highway 61, die er 1961 spielte und die mit ihrem treibenden Everly Brothers-Riff reiner Rock’n’Roll ist – die Instrumentalisierung mal außen vor gelassen.

      In der Tat untergraben die Songs auf Highway 61 Revisited die frühen Werke von Dylan nicht, sondern sie verstärken sie, im doppelten Wortsinn. Auch wenn Puristen ihn beschuldigen, dass er seinen Protestmantel abgelegt habe, machte Dylan 1965 ebenso streitbare und wesentlich radikalere Aussagen als in seinen »Schuldzuweisungs«-Songs. Beunruhigendere außerdem: denn wo die empörte Erzählung über »Hollis Brown« und »Hattie Carroll« oder die poetisch formulierten Unwägbarkeiten von »Blowin’ in the Wind« den Zuhörer schlussendlich mit warmer und fluffiger Selbstgerechtigkeit erfüllen und mit dem Gefühl untergehakter Arme und geteilter Visionen zurücklässt, hat man in der tobenden, wirbelnden, schwer fassbaren Kritik, die der »Ballad of a Thin Man« zugrunde liegt, schon massive Schwierigkeiten, auch nur einen Fuß auf den Boden zu kriegen.

      In Highway 61 Revisited hat Dylan nicht etwa seine Empörung oder seinen Protest aufgegeben, sondern die Illusion von Gemeinschaft. In diesen Songs gibt es keinen eindeutigen Bösewicht und keine klare Zielscheibe mehr: der Spielball in ihrem Spiel, der Mr. Jones, könnte man selbst genauso sein wie Medgar Evers namenloser Mörder oder irgendein ahnungsloser Kritiker. Dylan meinte 1966 ja auch, dass »›Protest‹ nicht Teil meines Vokabulars ist. Ich habe nie so von mir gedacht (…) Es ist ein Freizeitpark-Wort. Jedem normalen Mensch mit klarem Verstand muss so ein Wort aufstoßen, wenn er es ehrlich aussprechen will. Das Wort ›Botschaft‹ klingt in meinen Ohren wie ein Leistenbruch.« Etwas nüchterner fügte er 2004 hinzu: »Ich wollte nie politisch schreiben. Ich wollte kein politischer Moralist sein (…) Wir alle haben viele Facetten, und ich wollte sie alle ausleben.«v8 Letzlich entspricht Dylans sozialer Protest genau dieser misstrauischen, intuitiven Rebellion, die seit den ersten Akkorden des Rock’n’Roll dessen verbindendes Element ist.

      Angeblich wurde Joan Baez 1965 von Dylan mit einer schnoddrigen Ansage verspottet: »Hey, Hey, Neuigkeiten verkaufen sich gut, stimmt’s? Ich wusste, dass die Leute mir diesen Scheiß abkaufen würden, stimmt’s?« Wir könnten das einfach als ätzende Übertreibung abtun, eine günstige Gelegenheit, Salz in die Wunden zu streuen. Weniger einfach ist der Verdacht abzutun, dass Dylans Protestlieder nicht nur aus einem echten Gefühl der Empörung heraus, sondern auch aus einer Art von Überheblichkeit heraus geschrieben wurden. Egal was man über »Blowin’ in the Wind« alles sagen könnte, es ist unbestreitbar eine Meisterleistung, in zehn Minuten ein Stück runterzuschreiben, das dann zur Hymne einer ganzen Generation wird, und die beste Bestätigung, die man sich als junger Songwriter nur wünschen kann.

      Dylan deutete das in einem der damaligen Interviews auch an, als er mal weniger Zeit auf die Verdammung der Kriegstreiber verwendete als auf die Verspottung der formelhaften Komponisten der Tin Pan Alley*3: »Ich muss nicht so sein wie diese Kerle da oben am Broadway mit ihrem Geschreibe über ›Ich bin scharf auf Dich und Du bist scharf auf mich – ooka dooka dooka dee.‹«v9

      Und in der Tat scheint er es selbst in seinen erzählerischsten Songs weniger darauf anzulegen, die darin geschilderten Ungerechtigkeiten anzuprangern, als darum, Gewissheiten und Institutionen zu untergraben – sie zu »nadeln«, wie er es nannte.