Название | Kontrolle |
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Автор произведения | Frank Westermann |
Жанр | Языкознание |
Серия | Andere Welten |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871803 |
Sie lebten in einem dieser riesigen Wolkenkratzer, anonym wie in einem Ameisenhaufen. Ich musste den Lift benutzen, denn sie hatten ihre Wohnung im 85. Stockwerk, wo ich nicht mal aus dem Fenster sehen konnte, ohne dass mir schwindelig wurde. Man konnte auch sowieso kaum was erkennen, da hier die Abgase und der Smog in dicken Schwaden vorbeizogen.
In diesem Teil der Stadt hatten sie angefangen, in der Höhe des zehnten Stockwerks eine zweite Fußgängerebene zu bauen. So wurde, das Ganze noch verschachtelter unübersichtlicher und abstoßender. Vor den Fenstern in dieser Höhe erstreckte sich praktisch eine riesige Baustelle, und der Krach war ohrenbetäubend. Auf der unteren Ebene würde man nicht mal mehr den Himmel sehen können. Das Wort Natur war längst nicht mehr im Sprachgebrauch, es sei denn fürs Wetter. Auch ich hatte noch nie Gras gesehen, geschweige denn Bäume oder gar irgendein Tier außer Ratten und Katzen. Das kannte ich alles nur aus Büchern und Abbildungen.
Ich schwang mich behutsam aus dem Lift - ich war diese Technik nicht so recht gewohnt und immer auf Defekte gefasst. Zögernd drückte ich auf den Summer und meine Mutter öffnete mir. Sicher hatte sie vorher den Spion aktiviert, um nicht irgendeinen Strolch reinzulassen.
»Spike!«, rief sie überrascht.
Ich hatte diesen Namen so lange nicht gehört und verzog schmerzhaft das Gesicht. Er stand für eine Vergangenheit, die ich lieber vergessen hätte.
»Du hast dich ja ewig nicht blicken lassen. Wir dachten schon, es wäre was passiert!«
Es ging schon wieder los. Das übliche Gerede. Ich murmelte nur was vor mich hin. Ich hatte es längst aufgegeben, gegen diese Bevormundung zu protestieren. Es hätte weder was genützt noch was geändert.
Sie zog mich herein. Ihr Gesicht war noch grauer und spitzer geworden. Auch das neue Kleid (war es neu?) konnte eine gewisse Bitterkeit nicht übertünchen - trotz der grellen gelben Farbmuster auf dem Plastikstoff.
Sie machte mir was zu essen, stellte tausend Fragen und ich versuchte, so gut wie möglich, zu antworten. Hauptsächlich betrafen die Fragen meine Gesundheit und mein Auskommen, und sie spiegelten die Furcht wieder, dass ich irgendetwas Ungesetzliches tun könnte, was mich noch weiter außerhalb der Gesellschaft stellen würde. Sie hatte immer noch Hoffnung, dass ich irgendwas Richtiges lernen würde, das mir ein sicheres Auskommen und einen Platz in der Maschinerie ermöglichte. Meine Mutter schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, in der ich mit Winnie zusammen gewesen war und studiert hatte. Das war für mich längst vergangen, aber sie klammerte sich daran.
Mein Bruder war ausnahmsweise auch da, ein wild aussehender breitschultriger Typ, der in irgendeiner Bande eine gute Stellung hatte. Er schaute nur kurz rein, knurrte einige den Lauten nach freundliche Worte und verschwand wieder. Meine jüngere Schwester wurschtelte in der Küche rum und backte zur Freude der Familie gerade Kuchen für den nächsten Kaffeeklatsch. Sie schwatzte uns die Ohren voll von irgendwelchen dämlichen Gesangsstars und wie sie sich am besten gegenüber ihren Schulfreundinnen herausputzen konnte. Ich konnte es nicht ertragen.
Es war üblich, dass die Kinder so spät wie möglich das Elternhaus verließen. So sparte man länger Raum für neue Wohnungen, denn die Geburten übertrafen bei Weitem die Todesfälle - trotz allerlei Verhütungsmittel. Unter gewissen Umständen konnte man sogar bestraft werden, wenn man zu früh auszog. Mich hatten sie nicht halten können. Aber das war eine Ausnahme. Auch mein Bruder wohnte woanders - ich wusste nicht wo - und hatte sein Zimmer hier nur noch pro forma.
Na ja, es lief alles so wie üblich … Ich legte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und schloss die Augen. So konnte ich mich besser ausruhen und brauchte gleichzeitig diesen grässlichen Raum nicht länger anzustarren. Es war alles künstlich, Stühle, der Tisch, die Tapete … aus Plastik oder einem Leichtmetall und in abscheulichen grellen Farben. Das war modern. Meine Eltern fanden das auch nicht gerade toll, aber es gab kaum was anderes und die Nachbarn hatten es auch. Außerdem hatten sie sich so daran gewöhnt, dass sie es nicht mehr wahrnahmen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich an alles gewöhnen konnten, wenn es nur nicht wieder Krieg gab. Irgendwie war es ja auch verständlich. Sie kannten zum Beispiel noch Vögel, Gras und das ganze Zeugs vor dem Krieg. Aber sie hatten wohl schon damals nicht gewusst, was dies für sie bedeutete, und so war das Ausrotten der Natur anscheinend nicht weiter aufgefallen, auch wenn meine Mutter manchmal etwas traurig über ihre Kindheit sprach. Und das Argument, dass keiner den Krieg ungeschehen machen konnte, und es eben keine Natur mehr gab, konnte ich schlecht widerlegen.
Leider dauerte die Ruhe nicht allzu lange. Mein Alter kam nämlich von der Arbeit. Nicht, dass er sich nicht freute, mich zu sehen.
Oh nein, er war anfangs sogar richtig nett und brachte sogar ein Lächeln auf seinem sonst so harten Gesicht zustande. Doch dann setzten die unvermeidlichen Fragen ein: Was machst du gerade? Wo wohnst du? Lernst du was Ordentliches? Was, du hast die ganze Zeit herumgegammelt? Du hast keine Wohnung? Warum hast du nur dein Studium aufgegeben? Dann würdest du jetzt nicht so dastehen! Schließlich habe ich dich die ganze Zeit finanziert! Du bist auch nicht besser als dein Bruder! Wir rackern uns hier ab, und was ist der Dank dafür? Wo soll das noch hinführen? Alle Leute in deinem Alter haben ne ordentliche Arbeit! Man muss sich ja direkt für seine Kinder schämen usw. usw.
Meine Mutter hatte uns Kaffee gemacht und wir saßen alle, außer meinem Bruder, um den Tisch herum. Sie versuchte vergeblich irgendwie einzugreifen, oder das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Doch der Alte ließ sich nicht stoppen. Er war in seinem Fahrwasser und jetzt ging alles automatisch. Er gab mir kaum Zeit zu antworten, und nach zwei Sätzen hörte ich sowieso auf, denn gegen so viel Unverständnis und Borniertheit kam ich nicht an.
Es war einfach eine andere Welt, andere Werte, genormte Werte, andere Vorstellungen, eine andere Lebensweise und eine widerliche, unterdrückende Moral. Es zeigte sich mal wieder die ganze Abhängigkeit von Regeln, Gesetzen und Normen, die dieser Staat seit Generationen versuchte jedem einzuimpfen und das mit großem Erfolg. Denn er war liberal. Jeder konnte hier und da abweichende Meinungen vertreten, es gab einen weitläufigen Spielraum - immer im Rahmen der herrschenden Ordnung - versteht sich. Der Staat war elastisch, aber was ihn ernsthaft gefährden konnte, wurde nicht geduldet. Nach dem Motto: Wehret den Anfängen! wurden solche Ansätze ausgemerzt. Eine Mischung aus bürgerlicher Scheindemokratie und abschreckender Härte.
Ich trank, so schnell ich konnte, den Kaffee aus und ergriff die Flucht. Es war umsonst. Hier konnte ich nichts erben. In dieser Stimmung meinen Vater um Geld zu bitten, wäre Wahnsinn gewesen. Erstens hätte ich nichts bekommen und zweitens wäre seine Wut in Gebrüll ausgeartet. Ich kannte das und wollte es uns ersparen.
Ich hatte genug.
Ich verabschiedete mich hastig, nahm meine Sachen und ging. Meine Mutter versuchte sich noch in der Tür für den Alten zu entschuldigen. Ein trauriges Spiel. Ich unterbrach es schnell und versprach ihr wiederzukommen, wenn er nicht da war.
Ich lief einige Treppen in dem grauen öden Treppenhaus zu Fuß hinunter. Ich konnte nicht verbergen, dass ich ne ganz schöne Wut im Bauch hatte. Mein Alter und ich hatten uns schon so oft angebrüllt. Ich konnte diesen Schwachsinn von ihm einfach nicht begreifen und war von ihm noch ganz andere Sachen gewöhnt.
Mein Vater war ein Musterexemplar des Beamtentyps: korrekt, ordentlich, streng aber gerecht. Er arbeitete irgendwo in einem riesigen Büro, gab Unterschriften, sah Akten durch, diktierte an einem Computer, telefonierte. Es war zweifelhaft, ob er überhaupt wusste, was durch seine Tätigkeit in Gang gesetzt wurde. Ein Tastendruck von ihm konnte nichts bedeuten oder jemandem die Existenzgrundlage rauben. Er befehligte eine Armee von Boten, Maschinen und Kaffee kochenden Sekretärinnen -, falls diese nicht ebenfalls durch Maschinen ersetzt waren. Ich war zwei- oder dreimal dagewesen und hätte am liebsten losgeschrien. Seine Arbeit musste für einige hohe Herren ziemlich wichtig sein, denn er bekam ne ganze Stange Bucks dafür. Im Grunde ein einsamer, nervöser Mann, der genauso funktionierte, wie es gewünscht wurde.
Als mir die Luft vom Stufenspringen